Das Thema lautete: „Integrierte Versorgung, Perspektiven und Möglichkeiten“. Moderiert von Andrea Benecke (Psychologische Institutsambulanz, Universität Mainz) wurde von Holger Schulz (Abt. Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) ein Vortrag aus der „Vogelperspektive“ zur Ausgangslage in der Versorgung und den Implikationen gehalten, von Andreas Abel (Tinnitusambulanz Bielefeld) aus der „Froschperspektive“ ein konkretes psychotherapeutisches Projekt vorgestellt und von Jürgen Golombek (Heinrich Heine Klinik) das „Fließsystem von ambulanter und stationärer Arbeit“ behandelt. Die Veranstaltung war mit 30 Leuten gut besucht. Es fand nach den drei Referentenbeiträgen eine sehr konstruktive Diskussion statt, die mit der Etablierung einer Projektgruppe IV für psychische und psychosomatische Störungen in Brandenburg endete.
Uns bewegten mehrere Gründe, diese Veranstaltung zu organisieren:
Angesichts dieser Ausgangslage halten wir es für angezeigt, die Möglichkeit konkreter Projektierungen zu erörtern und dieses Feld nicht – wie bisher - den Medizinern und Ärzteorganisationen zu überlassen: Sei es durch Nutzung der Gelder im medizinischen Bereich, sei es durch standesorientierte Verweigerung auch nur einer konstruktiven Diskussion dieses Versorgungssystem, aus Angst, dass das KV-Monopol durch die Kassen aufgebrochen werden könnte, sei es auch auf praktischer Ebene, dass die Psychotherapeuten aus IV-Projekten ausgeschlossen werden, wie bereits in einzelnen psychiatrischen Projekten geschehen.
In der Altersgruppe von 18-65 besteht eine Einjahresprävalenz psychischer Störungen von 32,1%. Knapp 1/3 der erwachsenen Allgemeinbevölkerung erfüllt die Diagnose einer psychischen Störung im Laufe eines Jahres. Somatoforme Störungen werden mit 11%, phobische Störungen mit 7%, Major Depressionen mit 8,3% diagnostiziert. 48% leiden unter mehr als einer Störung.
Im ambulanten Bereich werden ca. 300.000 Behandlungen im Jahr von PPs, überwiegend VT, durchgeführt. Die bestehende Therapeutendichte variiert stark zwischen Ost und West, Stadt und Land. Ostdeutsche Flächenländer sind im Vergleich deutlich unterversorgt (5-8PP/100.000 Einwohner zu 18-37/100.000 Einwohner). Die Wartezeiten liegen bei durchschnittlich 4,6 Monaten, nur die Hälfte der anfragenden Patienten erhält eine probatorische Sitzung. Gruppentherapie geht nur zu 1% in die Therapieformen ein. Die überwiegende Zahl der Patienten findet den Einstieg über den Hausarzt. Eine Langzeitkatamnese liegt in der Form nicht vor.
Im stationären Bereich gibt es ungefähr den gleichen Anteil von Patienten. Diese teilen sich auf in die drei Bereiche Psychiatrie, Psychosomatik und Reha. Obwohl es deutlich unterschiedliche Störungsgruppen gibt, sind die unterschiedlichen Behandlungsformen nicht transparent. Bspw. gibt es unterschiedliche Auslegungen der Indikation und Interventionsform im Bereich der Psychosomatik. Beim Vergleich der Effektstärke von Reha-Kliniken hat sich eine hohe Streubreite von ganz niedrig bis optimal ergeben. Die Liegezeiten varriieren zwischen 40 Tagen (Psychiatrie), 43 Tagen (Psychosomatik) und 38 Tagen in der Reha. Katamnestische Langzeituntersuchungen mit hohem methodischem Standard liegen in der Form nicht vor. Es gibt Hinweise, dass die Zahl der Wiedereinweisungen und Mehrfachnutzungen der Versorgungsformen erheblich ist.
Parallel gibt es im sozialmedizinischen Bereich alarmierende Trends: Der prozentuale Anteil von psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitstagen ist massiv gestiegen. Die Zahl der AU-Fälle ist in den letzten 10 Jahren um 73%, die Zahl der AU-Tage um 32% gestiegen. Der Anteil psychisch bedingter vorzeitiger Berentungen liegt bei Männern bei 1/4, bei Frauen bei mehr als 1/3.
Folgende Thesen lassen sich daraus ableiten:
Ziel von neuen Versorgungsformen kann die Reduktion der stationären Verweildauern sein. Dies kann die IV mit einem Stepped-Care-Ansatz sein. Evidenzbasierung und Qualitätssicherung sind notwendig. Die Integration der PP/KJP ist notwendig.
Das Angebot umfasst psychologische Hilfen bei Tinnitus im Rahmen eines IV-Vertrages. Die Ziele des Tinnitus-IV-Vertrages sind die Verbesserung der wohnortnahen Versorgung, die Integration multidisziplinärer Fachleute in ein einheitliches Behandlungsschema und gemeinsame Steuerungsmechanismen (Planung, Qualitätsmanagement, Evaluation). Ferner wurden die Reduzierung von unnötigen stationären Behandlungen bzw. gezielte Indikationsprüfung stationärer Bedarfe und angepasste Nachsorge nach stationären Aufenthalten, die Reduzierung von Krankheitstagen und Arbeitsausfällen sowie die Verhinderung von Individualisierungs- und sozialen Rückzugsprozessen der Betroffenen als Ziele vereinbart.
Es gibt folgende Anlaufstationen: Der Tinnituspatient sucht Hilfe zuerst beim Hausarzt, der eine erste Diagnose hinsichtlich akuter oder chronischer Problemstellung und allgemeiner anamnestischer Bedingungen stellt und den Betroffenen bei Bedarf an den HNO-Arzt überweist, der eine detaillierte medizinische Diagnostik durchführt. Dann wird der Patient an den Psychotherapeuten überwiesen, der eine psychologische Diagnostik durchführt. Die Indikationen und Behandlungen werden interdisziplinär entwickelt: Das bedeutet, dass nach erfolgter Diagnostik die Einschleusung in das Programm durch die kollegiale Feststellung der Indikation durch Hausarzt, HNO-Arzt und PP als gemeinsame Entscheidung erfolgt. Damit kann der Bedeutung von konkreten Bedingungen, Komorbiditäten und dem Bedarf akuter Fälle Rechnung getragen werden. Es gibt darüber hinausgehend die Möglichkeit für Rückmeldung an die zuweisenden Ärzte über Indikation und Diagnose nach dem Counseling, einen Abschlussbericht inkl. Erfolgmessung und eine Nachsorge nach einem halben Jahr.
Für das vorerst für ein Jahr mit maximal 100 BKK-Patienten geplante Programm werden 50.000 € Etat bereitgestellt. Gezahlt wird pro Patient nach Bedarf (Hausarzt-Zuweisung 50 €, HNO-Arzt-Zuweisung 100 € Psychologische Diagnostik, Beratung u. Indikationsstellung 200 €, VT-Gruppentraining zur Tinnitus-Bewältigung 240 €, Gruppentraining Hörtraining 42 € Gruppentraining Atemtherapie 42 €). Die Psychologischen Behandlungsmodule beinhalten die Tinnitus-Sprechstunde, das Tinnitus-Counseling, die Psychologische Tinnitus-Therapie, das hörtherapeutische Training, das Entspannungstraining.
Die Zulassungskriterien für die psychologischen Behandler sind: Approbation, Erfahrungen im Umgang mit Tinnituspatienten, Fortbildungsteilnahme im Tinnitusbereich, Mitgliedschaft in medi owl (Vernetzung von PP und Medizinern in Bielefeld), Teilnahme am Qualitätszirkel.
Die sozialmedizinische Ausgangslage ist durch eine hohe Erwerbsunfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit laut Angaben der AOK: 25,8 % Muskel- u. Skeletterkrankungen, 13,2 % Verletzungen, 12,0 % Krankheiten des Immunsystems, 7,8 % psychische Erkrankungen) gekennzeichnet. Die Erwerbsminderungsrenten bei psychischen Erkrankungen sind schon doppelt so hoch wie bei Muskel- und Skeletterkrankungen. Es gibt insgesamt einen hohen Stand psychischer u. psychosomatischer Erkrankungen. Dies hat Auswirkungen auf die ambulante und stationäre Versorgung. Gefordert ist eine hohe psychodiagnostische Kompetenz in Arztpraxen bei gleichzeitiger Zunahme von Komorbiditäten im psychosomatischen und somatischen Bereich. Dieser Situation wird der traditionelle geringe Stellenwert des ärztlichen Gespräch, die mangelnde zeitnahe Überweisung zur psychotherapeutischen Fachbehandlung und die Priorisierung somatischer Konzepte nicht gerecht. Vielmehr leistet sie der Chronifizierung Vorschub.
Ein ambulant-stationäres-ambulantes Fließsystem könnte die Vorteile eines Milieuwechsels, der mit einem stationären Aufenthalt verbunden ist, nutzen: Eine konsequente Tagesstruktur, die Möglichkeiten einer sozialen Stimulation, Nutzung vielfältiger therapeutischer Ansätze außerhalb der Richtlinienverfahren (wie auch deren Ergänzung), zeitintensive Konfrontationsarbeit und eine arbeitsbezogene Strukturierung sind Vorteile der stationären Behandlung.
Eine regionale Vernetzung im Sinne der IV würde bedeuten, dass der Transfer des in der Klinik Erlernten gefördert, die Angehörigen mehr einbezogen, die Ressourcen des sozialen Umfeld mehr wohnortnah genutzt würden und die Möglichkeit der Arbeitsplatzerprobung bestände. Die Bedingungen der Interaktion zwischen Erkrankung und Lebensumfeld würden berücksichtigt. Eine solche Komplextherapie könnte interdisziplinär, methodenspezifisch und zugleich -integrativ und damit nachhaltig angelegt sein.
Bei der sich anschließenden konstruktiven Diskussion ergaben sich drei Ansatzpunkte für die IV:
Es ist sinnvoll, eine Checkliste zu erstellen, um die Initiierung eines IV-Projektes vorzubereiten: Bestehende Netzwerke, ansprechbare Funktionäre und Einrichtungen/Behörden, Modellprojekte, bestehende inoffizielle Kooperationen etc.
Es bildete sich eine Projektgruppe IV mit 14 Interessierten (4 Ärzte, 10 Psychotherapeuten), die sich am 1.12. 2006 zur weiteren Vorbereitung treffen wird. Wer hieran interessiert ist, melde sich bitte bei Frank Mutterlose oder Friedemann Belz (E-Mail: brandenburg(at)dgvt(dot)de).
Frank Mutterlose, Friedemann Belz
[1] Einschränkend sollte erwähnt werden, dass nicht gesagt werden kann, ob die „Dunkelziffer“ reduziert wurde, oder ob darüber hinaus auch die „wahre“ Inzidenz/Prävalenz gestiegen ist.