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17. Leitlinienkonferenz der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) am Freitag, 1. Dezember 2006, in Frankfurt/Main

Die Leitlinien-Beauftragten und –Koordinatoren der der AWMF-Mitgliedsgesellschaften waren zusammen mit den Mitgliedern der AWMF-Leitlinien-Komission nach Frankfurt zur 17. Konferenz eingeladen.


 Die Konferenz untergliederte sich in vier inhaltliche Blöcke[1]:

  • Implementierung von Leitlinien: Bedarf und bestehende Projekte
  • Leitlinien in der Rehabilitation
  • Leitlinien und Recht
  • Nutzenbewertung in Leitlinien.

Im Bereich Implementierung von Leitlinien berichtete zunächst Herr Scriba über die Förderinitiative der Bundesärztekammer zur Versorgungsforschung. Darin ist dem Thema Leitlinien eines von drei thematischen Feldern gewidmet, und es werden acht Forschungsprojekte gefördert werden. Die Forschungsprojekte befassen sich mit unterschiedlichen Erkrankungen (z.B. Infektionskrankheiten, Vorhofflimmern, Asthma…) und beschäftigen sich mit Fragenstellungen zu Implementierungsmethoden von Leitlinien, Distribuierungsstrategien oder Therapiequalität und Verbesserung der medikamentösen Behandlung durch Leitlinien. Scriba sieht einen Bedarf nach Effektivitätsnachweisen für die Leitlinienimplementierung bzw. einer „Epidemiologie der Implementierung von Leitlinien“.

Die folgenden beiden Beiträge stellten jeweils eines der durch die BÄK geförderten Programme näher dar. Herr Koneczky berichtete über die Leitlinien-Implementierungsstudie Asthma (LISA), deren Gegenstand die Nationale Versorgungsleitlinie Asthma ist. Mit einem experimentellen Ansatz werden der Effekt von Ärzteschulungen, Arzthelferinnen-Schulungen und ein e-Learning-Angebot für Ärzte überprüft. Als Messgrößen werden dabei der Wissenszuwachs und die Verhaltenänderung bei den Ärzten gemessen. Die zweite von Herrn Wilm vorgestellte Studie beschäftigt sich mit der Frage, ob es Patienten gibt, die nicht zu einer Leitlinie passen. Hintergrund für die Studie bildet das DMP Diabetes, das auf dem Leitlinienprogramm fußt. Trotzt DMP und Leitlinien-gerechter Versorgung sind auch DMP-Patienten zu 1/3 schlecht eingestellt. Ziel der Studie ist es, die Leitlinie um ein Modul „schlecht eingestellter Diabetespatient“ zu erweitern. Um „schlecht eingestellte“ Patientengruppen zu identifizieren, werden u.a. patientenseitige psychologische Faktoren („Netzwerk psychologischer Faktoren“) mit untersucht.

Leitlinien in der Rehabilitation. Im Vortrag von Herrn Jaeckel wurden zunächst die Besonderheit des Reha-Systems und deren Implikation auf Leitlinien dargestellt. Insbesondere wurde hervorgehoben, dass in keinem anderen Medizinbereich ein vergleichbar umfassendes und wissenschaftlich fundiertes QS-Verfahren etabliert sei und in die Überprüfung der Prozessqualität in Zukunft die Einhaltung von Leitlinien eingehen werde. Als weitere Besonderheit im Bereich Reha wurden die Beteiligung mehrere Berufsgruppen im Reha-Team, die bio-psycho-soziale Ausrichtung und die Orientierung an Aktivitäten und Teilhabe dargestellt. Leitlinien seinen besonders an der Schnittstelle von Akutversorgung und Reha notwendig. International ist dieser Trend zu erkennen (z.B. in den Niederlanden). Zum Stand der Entwicklung wurde berichtet, dass Leitlinien für Rückenschmerz und koronare Herzerkrankungen fertig gestellt sind und weitere sich in Arbeit befinden, z.B. zu Diabetes.

Dazu waren in der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) eine Kommission und verschiedene Arbeitsgruppen gebildet worden, die die Leitlinienentwicklung begleiten. Als Beispiel wurde noch die Entwicklung der Leitlinie zu Reha und Nachsorge bei Hüft- und Knie-TEP vorgestellt. Der geplante Vortrag von Herrn Raspe musste leider kurzfristig entfallen, so dass Herr Jaeckel stellvertretend kurz über Indikationsleitlinien berichtete. Indikationsleitlinien richten sich vor allen an niedergelassene Ärzte und Krankenhausärzte, aber auch an Betriebsärzte und andere, die mit der Zuweisung in die Rehabilitation beschäftigt sind, und können auch Patienten zur Orientierung dienen. Indikationsleitlinien untergliedern sich in die Definition des Krankheitsbildes (z.B. Inzidenz und Prävalenz, Behandlungskosten, Assessments, Prognose und Komorbidität), Aussagen zum Erfolg, Kriterien für die Indikationsstellung (insbesondere ICF-Domänen, Problembereiche und therapeutischer Zugang), sowie der Dauer. Während der Diskussion wurde aus dem Plenum angemerkt, dass stärker in Krankheitsbildern gedacht werden sollte, für die die Reha eine Form der Versorgung darstellt, und nicht so sehr zwischen Akutversorgung und Reha getrennt werden sollte. Insgesamt sei das Wissen in der AWMF über die Reha jedoch noch zu spärlich, deswegen wird gewünscht, die Projekte der DGRW der AWMF vorzustellen und sich weiter auszutauschen und zu vernetzen. Ein Anfang sei mit den Vorträgen nun getan.

Abschließend für diesen Themenblock berichtete Frau Korsukéwitz über die Entwicklung, Implementierung und Evaluierung von Leitlinien durch die Deutsche Rentenversicherung Bund. Das Besondere dabei ist, dass die DRV-Bund als Leistungsträger in die Leitlinienentwicklung aktiv eingreift. Reha-Leitlinien werden exemplarisch für die wichtigsten Indikationsgebiete erstellt. Der Fokus wird dabei auf Transparenz und Konsensfähigkeit gelegt. Die Leitlinienentwicklung erfolgt nach einem einheitlichen Ablauf, der mit einer Literaturrecherche beginnt und die Inhalte einer idealtypischen Reha in Therapiemodulen darstellt. Als zweiter Schritt erfolgt ein Soll-Ist-Abgleich auf der Basis der KTL-Daten, durch den Unterschiede zwischen den Reha-Einrichtungen deutlich werden. Schließlich erfolgt die multiprofessionelle Erstellung der Leitlinie, bei der zunächst die Reha-Einrichtungen schriftlich befragt werden und anschließend auf einem Expertenworkshop die Dauer und Häufigkeit, die entsprechenden KTL-Codes und der Mindestanteil zu behandelnder Patienten festgelegt und in einem Therapiemodul schriftlich fixiert werden. Die Implementierung der Leitlinien erfolgt zunächst in einer Pilotphase, in der ein Erfüllungsgrad von 80% der in der Leitlinie beschriebenen Leistungen (Therapiemodule) gefordert wird. Die Implementierung der Leitlinien wird mit einer Evaluation begleitet, die sie auf die Qualität, Angemessenheit, Akzeptanz und Umsetzbarkeit bezieht und die auch Gründe für Nicht-Umsetzung erfasst. Für die DRV-Bund stellen somit Leitlinien ein Instrument für die Qualitätssicherung dar, mit deren Hilfe qualitätsauffällige Einrichtungen identifiziert werden sollen. Leitlinien tragen weiterhin dazu bei, Varianz zwischen den Einrichtungen zu vermindern, und sie dienen damit der Legitimation der Rehabilitation.

Weiten Raum nahm der dritte Block der Veranstaltung zu Leitlinien und Recht ein. Herr Bock führte zunächst mit den Fragen, wie verbindlich Leitlinien sind und wann von ihnen abgewichen werden darf bzw. muss, in das Thema ein und stellte kurz die Begriffe Richtlinie, Standard, Leitlinie, Empfehlung und Stellungnahme vor. Demnach sind Richtlinien und Standards bindend, weil sie durch eine Institution vorgegeben werden. Leitlinien sind Entscheidungshilfen, die durch wissenschaftliche Fachgesellschaften gegeben werden. Empfehlungen und Stellungnahmen sind unverbindliche Hinweise und Ratschläge. Das Einhalten von Leitlinien ist demnach als ein Indiz für standardgerechtes Verhalten zu werten. Der Einleitung schlossen sich zwei Fachvorträge an, die lebhaft zwei zum Teil unterschiedliche Rechtsauffassungen darlegten. Herr Hart legte dar, dass unter den Begriff der Leitlinie Unterschiedliches subsumiert wird, das rechtlich unterschiedlich zu bewerten ist. Er stellte deswegen seinen Vortrag ausdrücklich unter die Perspektive Medizin-Recht-Behandlungsfehler. Unter dieser Perspektive wurden das Normbildungsproblem, das Rezeptionsproblem und das Anwendungs-, Aktualisierungs- und Implementierungsproblem unterschieden. Es gilt nur für die Behandlung, dass die Medizin das Haftungsrecht bestimmt, d.h. der medizinische Standard guter Behandlung ist auch der rechtliche Standard (=Pflicht). (Dies gilt allerdings nicht für die Dokumentation, Aufklärung und Organisation.) Leitlinien sind medizinisch verbindlich, wenn sie dem Standard der Medizin entsprechen, und sie sind rechtlich bindend, weil sie dem Standard der Medizin entsprechen. Der ärztliche Standard ergibt sich aus dem professionellen Konsens (Akzeptanz) auf der Basis bestmöglicher Evidenz (Professionsvorbehalt). Entsprechen Leitlinien dem medizinischen Standard, dann sind sie also haftungsrechtlich bindend.

Herr Ulsenheimer legte in seinem Vortrag dar, dass haftungsrechtlich nur der Begriff des medizinschen Standards wichtig sein, Begriffe wie Leitlinie, Richtlinie u.ä. dagegen nicht. Der Standard ist eine Medizin-interne Angelegenheit; maßgeblich ist das Gebotene, nicht das Übliche. Der Standard ist der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand, der sich in wissenschaftlichen Zeitschriften und Fachbüchern findet. Der medizinische Standard geht damit über eine Richtlinie hinaus. Daraus ergibt sich für Leitlinien insbesondere die Frage, ob es ausreichend ist, diese in einem Zeitintervall von zwei Jahren zu aktualisieren, wenn hingegen die Fortbildungspflicht besteht und wissenschaftliche Zeitschriften in einem Turnus von vier Wochen erscheinen. Zwar gelte für Ärzte die so genannte "Therapiefreiheit", dies bedeute für den Patienten aber letztlich, dass er Anspruch auf den Standard medizinischer Behandlung hat, wenn auch nicht auf das Optimum. In der Diskussion wurde insbesondere die Frage behandelt, ob eine S3-Leitlinie den medizinischen Standard darstellen kann. Dazu gab es auch auf Seiten der Experten unterschiedliche Meinung. Eine S3-Leitlinie kann, muss aber nicht den Standard darstellen, sie ist nahe am Standard. Daraus könne sich dann aber eine drohende Haftung für die Empfehlenden, d.h. die wissenschaftlichen Fachgesellschaften, ergeben. Eine Aktualisierung innerhalb eines kürzeren Zeitfensters als bisher von zwei Jahren ist aber mit erheblichen logistischen Problemen verbunden. Leitlinien werden von den meisten Diskutanten Informationscharakter zugeschrieben.

Für das vierte Themengebiet der Nutzenbewertung von Leitlinien verblieben nur noch etwa 20 Minuten Zeit. Herr Augustin führte mit seinem Beitrag kurz in die Gesundheitsökonomie ein und stellte die verschieden Möglichkeiten von Nutzenbewertungen und –erfassungen sowie die Arten der Kosten-Nutzen-Analyse dar. In ca. der Hälfte der Leitlinien lasse sich Ansätze zu sozioökonomischen Betrachtungen finden, Nutzenanalysen finden sich jedoch nur vereinzelt in den vorhandenen S3-Leitlinien. Die Leitlinienkonferenz schloss mit dem Ausblick, dass beim nächsten Treffen der Nutzenaspekt den Schwerpunkt darstellen wird.
Da die zukünftige Gesundheitsversorgung sich in allen Feldern immer stärker an Behandlungs-Leitlinien orientieren wird, gilt es auch für die Psychotherapie, diese Entwicklung aufmerksam zu beobachten und auf eine Beteiligung am Leitlinienentwicklungsprozess hinzuarbeiten. Denn gesundheitspolitisch ist es als äußerst ungünstig zu bewerten, wenn für dieselbe Krankheit unterschiedliche Leitlinien von unterschiedlichen Gesellschaften vorgelegt werden. Gerade deswegen muss der Anspruch auf gleichberechtigte Mitwirkung von Psychotherapeuten am Leitlinienentwicklungsprozess rasch umgesetzt werden. Die Leitlinienkonferenz bot einen Einblick in die wesentlichen Mechanismen auf Ebene der AWMF. Dabei hat sich gezeigt, dass es eine arbeitsaufwändige Tätigkeit ist, Leitlinien zu entwickeln und diese in die Versorgungspraxis zu implementieren. Dabei bestehen zudem in manchen Fragen zum Teil umstrittene Auffassungen (z.B. zur rechtlichen Bewertungen). Es ist aber auch deutlich geworden, dass Leitlinien in immer mehr Bereichen (wie z.B. auch in der Rehabilitation) zum Einsatz kommen werden. So erscheint es unklug, nicht auf diese Entwicklung im Gesundheitsbereich reagieren zu wollen.

Christian Gerlich
Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie
Arbeitsbereich Rehabilitationswissenschaften
Universität Würzburg
Klinikstr. 3
97070 Würzburg
christian.gerlich(at)uni-wuerzburg(dot)de


[1] Die Folien zu den jeweiligen Vorträgen sind über die Internetseite der AWMF verfügbar (www.awmf.de  oder http://leitlinien.net/ ).


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