In Heft 1/2002 (S. 75-76) der Zeitschrift "Verhaltenstherapie" äußert sich 52 von insgesamt 78 Gutachtern2 der ambulanten Verhaltenstherapie (Altherr et al.) im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie zur Kritik am Antrags- und Gutachterverfahren3 . Das ist insofern ein erfreulicher Schritt von wichtigen Insidern des Systems in die Öffentlichkeit ist, als dieser es ermöglicht, die bislang vor allem in Mailing-Listen oder im Kollegenkreis geführte Diskussion nun öffentlich und damit auch sorgfältiger weiterzuführen.
Die Frage der Notwendigkeit von Qualitätssicherung muss hier nicht diskutiert werden, denn sie ist im Sozialgesetzbuch für alle Bereiche der gesetzlichen Krankenversicherung - zumindest pro forma - vorgeschrieben. Die spannende Frage ist aber, ob das Antrags- und Gutachterverfahren nach den Psychotherapie-Richtlinien und -vereinbarungen tatsächlich als Qualitätssicherungsinstrument bezeichnet werden kann, und falls ja, in welchem Bereich, auf welcher Ebene und mit welcher Qualität (Güte) damit Qualität gesichert wird bzw. gesichert werden kann [vgl. Vogel und Laireiter, 1998].
Angesichts des breiten Spektrums an Qualitätsanforderungen in der ambulanten Psychotherapie merken die Autoren der o. g. Stellungnahme an, dass es beim Antrags- und Gutachterverfahren weder um Prozess- noch um Ergebnisqualität geht, sondern um spezifische Aspekte der Strukturqualität, zu denen, systematisch betrachtet, folgende Fragen gestellt werden können:
Im Folgenden werden die Fragen und die Möglichkeiten, mit dem Antrags- und Gutachterverfahren darauf Antworten zu finden, jeweils etwas ausführlicher diskutiert.
Die psychotherapeutische Qualifikation des Behandlers ist, - dies braucht hier nicht näher sozial- oder berufsrechtlich ausdifferenziert zu werden - im Bereich des Gesundheitswesens grundsätzlich bereits mit der Approbation und - je nach Anwendungsfeld - mit dem Fachkundenachweis oder (bei Ärzten) mit der Weiterbildungsbezeichnung gegeben.
Über diese grundsätzliche Kompetenz hinaus ist es aber durchaus denkbar, in jedem Anwendungsfall die spezifisch hierfür erforderliche Kompetenz zu überprüfen, um so jeden Internisten, jeden Chirurgen oder jeden Handwerksmeister bei einem größeren Projekt nach seiner Eignung zur Durchführung dieser Aufgabe zu befragen. Bekanntlich ist dies bisher aber nur bei Psychotherapeuten der Fall, es gibt bislang keinen anderen Berufsstand, bei dem dies üblich ist. Sozialrechtler melden zudem Zweifel an, ob ein solches Nachprüfungs-Prozedere im Rahmen des SGB V - auch unter Berücksichtigung der datenschutzrechtlichen und anderer Vorgaben des StGB - überhaupt zulässig ist [Bämayr, 2001].
Im Rahmen ihres - beinahe amtlichen - Kommentars zu den Psychotherapie-Richtlinien wird von Faber et al. [1999] auch nicht unmittelbar der Prüfaspekt der Kompetenz hervorgehoben, dieser wird - wie auch von Altherr et al. - ein wenig anders vermittelt: Es gehe es darum zu prüfen, ob für einen speziellen Patienten ein adäquates Therapiekonzept erstellt worden ist. Diese Darstellung ist eine geschickte Umdeutung und als solche natürlich leicht zu erkennen. Die Psychotherapie-Richtlinien und die sich darauf stützenden Psychotherapeuten gehen davon aus, dass mit den zugelassenen Verfahren alle Patienten des Indikationsspektrums behandelbar sind. Sollten die Rahmen-Bedingungen für einzelne Patienten doch einmal problematisch sein, so liegt es an der Kompetenz des antragsbegründenden Therapeuten, die Ressourcen des Patienten hervorzuheben und die Erschwernisse zu kaschieren, wenn er eine Therapiegenehmigung haben will. Dabei darf unterstellt werden, dass jeder Therapeut, der eine Therapie beantragt bzw. (formalrechtlich) den Therapieantrag eines Patienten begründet, auch wünscht, dass diese Therapie genehmigt wird. Die zu einer entsprechenden Darstellung erforderlichen Kompetenzen werden in jedem Ausbildungsgang gelehrt, und der Kollege, der dort nicht aufgepasst hat, wird diese Sozialisation spätestens nach den ersten Ablehnungen umgehend erreichen und sich zukünftig entsprechend verhalten. Dann wird im weiteren Procedere - wie gesagt - faktisch nur noch seine Kompetenz zur Darstellung überprüft, und das ist - wie ebenfalls bereits erwähnt - eigentlich nicht zulässig.
Bei dieser Prüfung stellen die Psychotherapeuten quasi die Avantgarde der ambulanten Behandler im Bereich des SGB V dar, denn ähnliche Überprüfungen gibt es - außer in der Zahnmedizin - bislang nicht. Vor dem Hintergrund der Auskünfte des Therapeuten im formalisierten Therapieantrag sowie der - eher mageren - Datengrundlagen der Krankenkassen wird eine Bewertung darüber abgegeben, ob eine Psychotherapie bei dem jeweiligen Patienten notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Die Autoren Altherr et al. schreiben dazu: "Es erscheint schwer vorstellbar, wie diese unverzichtbare Synopsis relevanter Einflussgrößen außerhalb des Gutachterverfahrens adäquat erfolgen könnte". Kann sein, dass unsere Vorstellungskraft etwas zu begrenzt ist - allein, wir können uns nur schwer vorstellen, wie eben diese Beurteilung einigermaßen solide innerhalb des Gutachterverfahrens erfolgen kann: Weder wird der Patient zu seiner Störung befragt, noch gibt es ein standardisiertes Bewertungsschema. Zudem zeigt die - häufig zitierte - Varianz zwischen den Gutachtern in den Bewertungen (Ablehnungsquoten von 48 VT-GutachterInnen im Jahr 2000 zwischen 1 % und 7 % bei durchschnittlich 2.250 Begutachtungen pro GutachterIn; Dahm, 2001), dass hier tatsächlich keinesfalls von einer einheitlichen Bewertung auszugehen ist. Ein Prüfverfahren, das offensichtlich keine akzeptable Objektivität (hier insbesondere: Auswertungs- und Interpretationsobjektivität) hat, kann keine annehmbare Reliabilität erreichen, und damit ist die Validität der Begutachtung naturgemäß in weiter Ferne [Wirtz und Caspar, 2002].
Es entspricht den Grundsätzen der gesetzlichen Krankenversicherung, dass nur notwendige und wirtschaftliche Behandlungen finanziert werden sollen. Dieser hohe Anspruch wird unseres Erachtens im Rahmen des Gutachterverfahrens aber gar nicht eingelöst. Denn die nahe liegende Frage, welche Therapieform (von den drei gegenwärtig zur Auswahl stehenden) bei einer Störung angemessen ist, wird überhaupt nicht geprüft. Entsprechende differenzielle Indikationsstellungen lassen sich zumindest nicht nachweisen [Puschner und Kordy, 2001], und sie sind wohl auch nicht beabsichtigt.
Sollte es aber (wie von Altherr et al. angesprochen) um die alternative Indikation einer somatischen Therapie oder gar einer Psychopharmakotherapie gehen, stellt sich die Frage, wozu es dann noch des Konsiliarberichtes eines persönlich untersuchenden Arztes bedarf. Kann der Gutachter auf der Basis der wirklich mageren Therapieantragsunterlagen besser als ein persönlich untersuchender Arzt beurteilen, ob die gewählte Psychotherapie die beste Behandlung ist? Außerdem ist der Konsiliararzt gesetzlich vorgeschrieben. Deshalb stellt sich für uns die Frage, wie es überhaupt begründet werden kann, dass hier eine doppelte Kontrolle verlangt wird.
Nimmt man also die drei eingangs genannten Prüfaufträge kritisch unter die Lupe, so bleibt nur der Auftrag B übrig - A ist eigentlich unzulässig, C ist nicht stimmig. B ist sinnvoll und zweckmäßig, aber es ist fraglich, ob das Antrags- und Gutachterverfahren diesen Anspruch wirklich erfüllen kann. Ohne hier näher ins Detail zu gehen, sei darauf verwiesen, dass es hinsichtlich der Interraterreliabilität von Begutachtungen im Gesundheitswesen - und um die geht es hier - bislang nur höchst unzureichende Forschung gibt. Die wenigen vorliegenden Befunde lassen auf mäßige Übereinstimmungen schließen [vgl. z.B. Frank et al., 2002]. Für den Bereich der Psychotherapieantragsbegutachtung liegen bislang nur Erhebungen aus dem Bereich der tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Therapieanträge vor [Rudolf et al., 2002], leider noch nicht für den Bereich der verhaltenstherapeutischen Anträge [vgl. zur Übersicht Merod und Vogel, 2002b].
Die Autoren betonen, dass das Gutachterverfahren vergleichsweise wirtschaftlich sei. Bei Wirtschaftlichkeitsberechnungen setzt man üblicherweise die Kosten (direkte und indirekte Kosten) zu dem geschätzten Nutzen (direkter und indirekter Nutzen) in Beziehung. Darüber hinaus wird man, insbesondere wenn es um die Frage nach der Wirtschaftlichkeit geht, Vergleichswerte heranziehen. Die Berechnungen von Köhlke [2001] erscheinen uns in diesem Zusammenhang als wegweisend. Köhlke kann zwar - ebenso wie die AutorInnen Altherr et al. - keine unmittelbaren finanziellen Nutzenaspekte des Verfahrens benennen, berechnet immerhin aber die Kostenseite wesentlich umfassender und realistischer (DM 240,-- bei Langzeittherapieantrag, DM 145,-- bei Kurzzeittherapieantrag). Er rechnet sie auf eine "per Gutachten genehmigte" Therapiestunde um und vergleicht diese mit den entsprechenden Zahlen für die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (differenziert für die einzelnen Antragsschritte und für die gesamte Therapie). Diese Kostenschätzung zeigt, dass die durch das Prüf-/Qualitätssicherungsinstrument Gutachterverfahren verursachten Kosten in der Verhaltenstherapie mit 7,8% der Kosten einer genehmigten Therapie deutlich höher liegen als bei der Psychoanalyse mit 2,1% der Kosten einer genehmigten Psychotherapie (6,2% bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie)4 , obwohl für die Verhaltenstherapie (auf Grund bisher vorliegender Studien) ein höherer Grad an empirischer Evidenz bzw. eine höhere Wirksamkeit angenommen werden kann.
Ein besonderes qualitätssicherndes Element des Gutachterverfahrens ist nach Ansicht der Autoren der subtile Effekt der Selbstreflexion der Therapeuten. Der Therapeut würde beim Antragschreiben angeregt, selbstkritisch über die Therapie zu reflektieren, und damit beim internen Qualitätsmanagement unterstützt. Dies ist eine ungeprüfte Annahme, die zudem unterstellt, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin ohne den Therapieantrag nicht hinreichend über eine geplante Therapie reflektieren würde. Man könnte aus unserer Sicht alternativ zur erwähnten "Reflexionsanregungsannahme" mit der gleichen Plausibilität auch folgende Annahme formulieren: Wenn die Krankenkasse anstelle des Gutachterverfahrens für die Hälfte der eingesparten Kosten (s.o.) dem Therapeuten aktuelle Bücher oder Literaturgutscheine schenken würde, dann wäre er vielleicht genauso stark motiviert, seine eigenen Therapiekonzepte zu hinterfragen und weiter zu entwickeln. Eingedenk der empirischen Orientierung in der Verhaltenstherapie halten wir es durchaus für realisierbar, eine Studie zu initiieren, in der beide Hypothesen vergleichend geprüft werden. Wir sind gespannt auf deren Ergebnisse.
Abschließend reflektieren Altherr et al. über Verbesserungsmöglichkeiten im Gutachterverfahren und bei der Qualitätssicherung in der ambulanten Psychotherapie:
Eine Weiterentwicklung bzw. ein Überdenken des Gutachterverfahrens sollte die Funktion externer Qualitätssicherung - und um die geht es ja - berücksichtigen. Dazu gehört hier insbesondere die Prüfung des Zugangs zu den Behandlern. Weitere Fragen der externen Qualitätssicherung sind zwar prinzipiell denkbar, aber für die ambulante Gesundheitsversorgung gegenwärtig ausgeschlossen. Externe Qualitätssicherung sollte ferner darauf ausgerichtet sein, (internes) Qualitätsmanagement der Psychotherapeuten zu ermöglichen und zu fördern, keinesfalls sollte externe Qualitätssicherung das interne Qualitätsmanagement aber behindern oder die Therapeuten veranlassen, sich mit wenig zielführenden Nebenbeschäftigungen aufzuhalten anstatt den Therapieprozess kontinuierlich ergebnisorientiert zu hinterfragen.
Den von Altherr et al. vorgelegten Veränderungsvorschläge für das Gutachterverfahren lassen sich vor diesem Hintergrund noch eine Reihe weiterer hinzufügen:
Wir denken, dass es an der Zeit wäre - auch angesichts der bekannten vielfältigen Kritik am Gutachterverfahren - systematische und qualifizierte Erprobungen von Alternativ- und Veränderungsmodellen einzuleiten (Modellprojekte nach §§ 63-65 SGB V). Die Leitfrage dieser Erprobungen müsste sein: Welches System führt zu den besten Ergebnissen bei der Psychotherapieversorgung und ermöglicht gleichzeitig eine hohe Wirtschaftlichkeit sowie hohe Zufriedenheit von Therapeuten und Patienten. Angesichts der beträchtlichen Kosten des Gutachterverfahrens und der Einsparpotenziale der angesprochenen Alternativen wären diese nicht nur in der Erprobung und späteren Umsetzung kostengünstiger sondern sie versprechen wegen der anzunehmenden höheren Wirksamkeit auch eine deutlich bessere Wirtschaftlichkeit der ambulanten Psychotherapie.
Heiner Vogel a, Werner Lemisz b, Heinz Liebeck c, Wolfgang Palm d