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Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie zu den psychischen Auswirkungen einer Betreuung von Kleinkindern in Krippen und Kindertagesstätten


Einführung
Die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) begrüßt die Initiative von Bund und Ländern, die gesellschaftliche Verantwortung für das gelingende und gesunde Aufwachsen von Kindern zu fördern. Mit dem Kinderförderungsgesetz (KiFöG) wird erstmals für die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsanspruch für alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum vollendeten dritten Lebensjahr auf einen Platz in einer Kindertagesstätte verwirklicht. Die Mehrzahl der Länder beginnt, die Ganztagsschulen auszubauen – nicht zuletzt auch, weil sie sich ihrer Verantwortung für das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen stellen.

Doch das gestiegene Bewusstsein für die öffentliche Verantwortung für das gelingende Aufwachsen von Kindern wird kritisch kommentiert und begleitet mit dem Hauptargument, Säuglinge und Kleinkinder brauchen ihre Eltern. Argumentiert wird – auch in fachlichen Stellungnahmen von Psychotherapieverbänden – die Trennung der Kinder von ihren Eltern vor dem 3. Lebensjahr sei problematisch und führe in späteren Jahren zu psychischen Beeinträchtigungen. Andere verweisen darauf, dass die „Fremdbetreuung“ immer nur ein Ersatz zur Betreuung durch Eltern – gemeint ist dabei in aller Regel durch die Mutter – sein kann. Schließlich wird mit Blick auf die deutsche Geschichte der letzten siebzig Jahre (1933 – 1945 und 1949 – 1989) vor einer „Verstaatlichung“ der Kinderbetreuung und Kinderziehung gewarnt, obwohl es keine staatlichen Kindertagesstätten und Kinderkrippen gibt. Träger von Kinderbetreuungsangeboten sind oftmals Kirchengemeinden, kommunale Gebietskörperschaften und frei-gemeinnützige Anbieter aus der Wohlfahrtspflege, die das Subsidiaritätsprinzip betonen und sich eine staatliche Einflussnahme zu Recht verbieten.

Der Forschungsstand zur frühen Förderung von Kleinkindern
Die bundesdeutsche Debatte über die Vor- und Nachteile einer öffentlichen Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern ist geprägt durch Einzelmeinungen, die oftmals mit individuellen Erfahrungen begründet und unterlegt werden, oder durch „klinische Berichte“; die durch die Post-hoc-Betrachtung die „Fremdbetreuung“ in der frühen Kindheit als Ausgangspunkt einer schwierigen biografischen Entwicklung deuten. Abgesicherte Längsschnittuntersuchungen im deutschsprachigen Raum über die Entwicklung von Menschen, die schon als Kleinkinder nicht nur in der Familie, sondern auch in einer Kindertagesstätte betreut und gefördert wurden, gibt es nach unseren Kenntnissen nicht. In den USA hat das „National Institute of Child Health and Human Development“ (NICHD) im Jahr 1991 eine Längsschnittstudie zum Thema „Early Child Care Research Network“ durchgeführt. Ein Ziel dieser Studie – die auch in den USA kontrovers, wenn auch nicht so ideologisch wie im deutschen Sprachraum, diskutiert wurde – war es, die Auswirkungen der Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern in Kinderkrippen und Tagesstätten mit empirisch gesicherten Daten zu klären.
Zu diesen Ergebnissen dieser Langzeitstudie gibt es mehr als hundert Artikel; die wichtigsten Erkenntnisse lauten:

  • Die Variablen „Betreuung durch die eigenen Eltern“, „Betreuung durch professionelle Kräfte in Krippen oder Tagesstätten“ reichen nicht aus, um das unterschiedliche Aufwachsen von Kindern zu erklären.
  • Wichtiger als die Unterscheidung zwischen diesen beiden Hauptvariablen: „Betreuung durch eigene Eltern“ vs. „Betreuung durch professionelle Kräfte“ waren Variablen wie:
    • Qualität der Betreuung durch professionelle Personen
    • Sozioökonomischer Status der Eltern einschließlich Beruf und Erwerbstätigkeit
    • Sprachfähigkeit und Bildung der Eltern sowie
    • Sensibilität und Stabilität der Beziehung der Eltern
  • Die Entwicklung von Kindern wird – knapp zusammengefasst – somit stärker bestimmt von der Situation, in der sie mit ihren Eltern leben als durch die Art der Betreuung. Bestätigt werden durch diese Studie die Alltagserkenntnisse, dass eine stabile Beziehung zu einer überschaubaren Anzahl von Bezugspersonen sich positiv auf die Entwicklung eines Kindes auswirkt. Ob die Bezugspersonen einen verwandtschaftlichen Bezug zum Kind haben, ist nicht entscheidend für die Qualität der Beziehung, auch wenn die Verwandtschaft zwischen betreuter und betreuender Person sicherlich in vielen Fällen eine wichtige Motivation für das Betreuungsverhältnis ist.

Die Lage der Kinder in Deutschland
Die Kritikerinnen und Kritiker eines Aufwachsen von Kindern in öffentlicher Verantwortung gehen von der Grundannahme aus, dass Eltern – Mütter und Väter - grundsätzlich ihre Kinder besser betreuen und versorgen als dies Personen tun würden, die eine pädagogische Ausbildung haben und mit der Betreuung von Kinder Dritter ihr Geld verdienen.

Es ist unstreitig – und die Ergebnisse der skizzierten NICHD-Studie „Early Child Care Research Network“ belegen diese Annahme – dass Eltern, die ihren Säugling und ihr Kleinkind sensibel und einfühlsam versorgen, für dieses Kind gute Voraussetzungen für ein gelingendes Aufwachsen schaffen. Doch längst nicht alle Eltern – auch dies zeigt die NICHD-Studie – verfügen über diese notwendigen Familien- und Erziehungskompetenzen. Die erste Studie zur Lage der „Kinder in Deutschland 2007“ – in Auftrag gegeben von World Vision und durchgeführt von der Universität Bielefeld in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut TNS Infratest Sozialforschung in München – belegt die in der NICHD-Studie für den US-amerikanischen Raum formulierten Ergebnisse.

Wesentliche Ergebnisse der Studie sind:

  • Heutige Familien nehmen sehr unterschiedliche Formen an. Fast ein Viertel der befragten Kinder im Alter von 8 bis 11 Jahren wächst nicht zusammen mit beiden leiblichen Elternteilen auf. 17% leben bei einem alleinerziehenden Elternteil und weitere 6% zusammen mit einem Stiefelternteil. In einer klassischen Kernfamilie zusammen mit den miteinander verheirateten Eltern leben 70% der Kinder.
  • Nicht-erwerbstätige Eltern nehmen sich signifikant weniger Zeit für die Betreuung ihrer Kinder als berufstätige Eltern. Nicht das vorhandene Zeitbudget entscheidet über die Quantität und Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, sondern die Möglichkeit, die vorhandene Zeit zu nutzen. Menschen, die arbeitslos sind - und insbesondere diejenigen, die langzeitarbeitslos sind – verlieren die Fähigkeit, ihren Alltag zu strukturieren und zu organisieren. Dies ist aus zahlreichen Studien über die psychischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit bekannt.
  • Die frühe Betreuung in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen fördert die sprachlichen und sozialen Kompetenzen der Kinder. Je früher das Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung – besonders bei Kindern aus prekären Lebensverhältnissen – beginnt, desto positiver ist der Einfluss der „öffentlichen“ Betreuung und Förderung.

Zahlreiche weitere Studien, die in den letzten Monaten veröffentlicht wurden, bestätigen diese Ergebnisse. Bemerkenswert ist, dass auch die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer Studie "Eltern unter Druck: Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und
Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten" zu dem Ergebnis kommt, dass Eltern eine stärkere Verantwortung der Gesellschaft für das gelingende Aufwachsen ihrer Kinder einfordern, denn die heutige gesellschaftliche Situation von Kindern und Eltern und damit der Familien sei nicht mehr vergleichbar mit der Situation der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Kinder zu haben ist heute eine Option von vielen für junge Menschen; das Wohlergehen der Kinder ist für Eltern zentral – aber die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch. Es gibt, dies ist ein Ergebnis dieser Studie, das klassische Bild der Familie nicht mehr; sondern in der Vielfalt der Meinungen und Erwartungen entwickeln sich Kinder, Eltern und Familien.

Konsequenzen für die Betreuung und Förderung von Kindern
Vor dem Hintergrund der skizzierten empirischen Befunde kann es in der weiteren Diskussion nicht um die Frage gehen, ob ein Kind „besser“ durch seine Eltern als durch eine professionell geschulte Person betreut und gefördert werden kann, sondern entscheidend ist die Qualität der Betreuung. Dabei gilt,

  • dass Säuglinge und Kleinkinder eine überschaubare und stabile Zahl von Bindungs- und Beziehungspersonen für ein gutes Aufwachsen brauchen; dabei ist aber nicht die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Kind und betreuende Person entscheidend sondern die Qualität der Beziehung zwischen betreutem Kind und betreuender Person. Auch Säuglinge und Kleinkinder können zu 3 bis 5 Personen eine sichere und stabile Beziehung aufnehmen;
  • dass auch Kleinkinder durch den Kontakt zu anderen Kindern ihre kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen besser ausbilden als durch den alleinigen Kontakt zu einer erwachsenen Bezugsperson. Kinder brauchen Kinder zum Wachsen; alleine aufzuwachsen ist schwieriger;
  • dass die Kompetenzen zur Förderung eines Kindes (Erziehungskompetenz), zur Gestaltung einer Familie (Familienkompetenz) und zur Führung eines Haushaltes (Haus- und Finanzkompetenzen) nicht angeboren sind sondern erworben werden müssen. Die soziale Lage (Armut, Erwerbslosigkeit, Migration) bestimmt wesentlich über die Fertigkeit der einzelnen Personen diese Kompetenzen auch zu nutzen.

Für die weitere Diskussion bedeutet dies:

  • Kinderbetreuung braucht Qualitätsstandards
    Das Recht der Kinder auf entwicklungsangemessene Unterstützung und Anregung kann nur eingelöst werden, wenn sich die Fachkräfte auf verbindliche Orientierungspläne stützen können, die Auskunft geben über allgemeine Ziele und Aufgaben, über den Bildungsförderungsauftrag der Einrichtungen über das dieser Lebensphase entsprechende Bildungsverständnis und die Wege der Bildungsförderung.
  • Kinderbetreuung braucht fachliche Kompetenz
    Kinder brauchen kompetente ErzieherInnen. Kompetenzen der Fachkräfte heißt z. B. das Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung inklusive deren individuellen Bandbreite, didaktische Fähigkeiten im Hinblick auf die Aspekte von Bildung, Fähigkeiten zur Beobachtung und Dokumentation der Bildungsprozesse und die Fähigkeiten zur Gestaltung der Beziehung von Kinderbetreuung und Familie.
  • Eltern brauchen zur Entwicklung von Kompetenzen Bildung, Beratung und im Einzelfall auch unterstützende und begleitende Hilfen.
    Viele Eltern fühlen sich in der Begleitung/Erziehung ihrer Kinder überfordert. Obwohl die sozialen Ansprüche an Eltern stetig wachsen, gibt es kaum eine Tätigkeit, auf die junge Menschen so wenig vorbereitet werden, wie auf die Herausforderungen des Elternseins.
  • Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch wichtig für das gelingende Aufwachsen von Kindern
    Bei der Mehrzahl der Frauen gehört zu ihrem Lebensentwurf, Familie und Beruf zu integrieren. Besonders von Akademikerinnen ist bekannt, dass bei ihnen die Berufsausübung (nach einer langen Ausbildung) einen hohen Stellenwert einnimmt. Sie wünschen sich aber auch Familie und Kinder.
    In vielen Familien ist die Erwerbstätigkeit der Mütter ökonomisch notwendig. Alleinerziehende haben ein hohes Armutsrisiko, wenn sie keiner Berufstätigkeit nachgehen können.
  • Kinder in prekären Lebenslagen brauchen besondere Förderung und Unterstützung statt kurzfristig wirkende materielle Hilfe
    Wenn es Bund, Länder und Gemeinden ernst ist mit dem Ziel, besonders für Kindern aus prekären Lebensverhältnissen mit der Kindertagesbetreuung auch ein förderndes Angebot zu schaffen, dann müssen sie den Plan der Bundesregierung ab 2013 über den neuen Absatz 4 in § 16 KiFöG ein Betreuungsgeld für Eltern einzuführen, die ihr Kind nicht in einer Einrichtung oder in einer Tagespflege betreuen lassen, ablehnen. Solche Transferleistungen schaffen falsche Anreize. Gerade Kinder aus Familien, die in Armut leben, bedürfen häufig der besondern Förderung und der gesellschaftlichen Verantwortung. Die zitierten und auch viele weitere Studien belegen, dass gerade diese Kinder von einer öffentlichen Betreuung profitieren und sie befähigen, die schulischen Bildungsangebote besser zu nutzen. Öffentliche Verantwortung für das gelingende Aufwachsen von Kindern bedeutet, infrastrukturelle Angebote zu schaffen statt Eltern finanziell zu belohnen, die ihren Kindern wichtige Unterstützungs- und Förderangebote vorenthalten. Das schränkt die Wahlfreiheit von Eltern nicht ein, denn die Entscheidung, die Förderangebote wahrzunehmen verbleibt bei den Eltern. Ihnen ein Betreuungsgeld zu zahlen, bedeutet aber im Gegenteil, die Wahlfreiheit für ein Kinderbetreuungsangebot einzuschränken; denn kurzfristig zu nutzende materielle Angebote haben einen höheren Anreiz als langfristig zu erwartende Bildungschancen.

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