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DGVT-Stellungnahme zur Versorgungssituation bei Kindern und Jugendlichen: Bundesregierung ignoriert Unterversorgung!

Die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e.V. (DGVT) kritisiert die Stellungnahme der Bundesregierung


(Drucksache 16/1051 v. 24. 03. 06, veröffentlicht am 12. 04. 06) zur psychotherapeutischen Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen. Während die Regierung "keine generellen Versorgungsprobleme" erkennen will, sieht die Realität anders aus. Psychisch kranke Kinder beziehungsweise deren Eltern finden häufig kein adäquates Therapieangebot in ihrem Umfeld oder müssen unzumutbar lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

In der Antwort auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion behauptet die Bundesregierung, eine gesonderte Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sei nicht erforderlich. Versorgungsprobleme seien lediglich in ländlichen Gebieten und in Ostdeutschland bekannt, könnten aber durch die Möglichkeit der sogenannten Sonderbedarfszulassung behoben werden. Dabei beruft sich die Bundesregierung ausschließlich auf eine aktuelle gemeinsame Stellungnahme der KBV und der Spitzenverbände der Krankenkassen, die „keine Anhaltspunkte für größere Versorgungsengpässe im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ sehen möchten. Wissenschaftliche Studien, die in den letzten Jahren die Unterversorgung eindrucksvoll belegen konnten, wurden von der Bundesregierung leider ignoriert.[1]

Tatsächlich ist nach Einschätzung der DGVT die Anzahl der niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in vielen Gegenden Deutschlands geradezu absurd niedrig.
Ein Grund dafür liegt in einer Bedarfsplanung, die nicht zwischen Psychologischen Psychotherapeuten (PP) und Kinder- und Jugendlichenlichenpsychotherapeuten (KJP) unterscheidet. Weil diese als gemeinsame Arztgruppe geführt werden, können ganze Regionen für die Niederlassung von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gesperrt sein, obwohl es dort keinen einzigen KJP gibt. Die Sonderbedarfsregelungen greifen in vielen Fällen nicht, weil sie von den Kassenärztlichen Vereinigungen in den verschiedenen Bezirken höchst unterschiedlich gehandhabt werden. Während in einigen Bezirken aufgrund der inzwischen erkannten eklatanten Unterversorgung  Sonderbedarfszulassungen in hoher Zahl ausgesprochen werden, wird diese Möglichkeit in anderen Bezirken sehr restriktiv oder gar nicht genutzt.

Für eine große Zahl behandlungsbedürftiger Kinder und Jugendlicher bedeutet dies, dass ihnen keine fachgerechte Behandlung zuteil wird. Psychologische Psychotherapeuten behandeln in vielen Fällen nur wenige oder gar keine Kinder und Jugendliche, auch wenn sie über eine entsprechende Zulassung verfügen.

Dass der Bedarf an niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten weitaus höher ist als das Angebot,  können die erwähnten Studien eindrucksvoll belegen. Die Bundesregierung selbst geht in ihrer Antwort auf die FDP-Anfrage von einem Anteil von mindestens fünf Prozent psychisch auffälligen oder kranken Kindern und Jugendlichen aus, die „unbedingt behandlungsbedürftig“ sind. Andere Studien gehen sogar von weitaus höheren Zahlen aus. Eine dramatische therapeutische Unterversorgung wurde sowohl durch Untersuchungen vor wie nach dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes mehrfach belegt. Parallel dazu wurde eine heute immer noch gültige Bedarfsplanung (Stichtag 01. 01. 1999)  vorgenommen, die diese Verhältnisse festgeschrieben hat.

Vor dem Hintergrund, dass gerade die Jugendhilfe-Einrichtungen teils von massiven Kürzungen betroffen sind und deshalb ihr Angebot an psychotherapeutischen  Hilfen immer weiter einschränken und ferner viele Erziehungsberatungsstellen von der jeweiligen Landesregierung verpflichtet wurden, weniger fallbezogen zu arbeiten, verschärft sich die Unterversorgung kontinuierlich.

Deshalb fordert die DGVT, umgehend eine getrennte Bedarfsplanung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten vorzunehmen. Die bestehende Unterversorgung hat für die unmittelbar Betroffenen häufig schlimme Folgen. Durch das Risiko eines chronischen Verlaufs aufgrund fehlender oder ungenügender Behandlung sind aber auch die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten eine erhebliche finanzielle Bürde für die Zukunft. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Vernachlässigung von Kindern und der Gewaltbereitschaft von Schülern erwarten wir von den politisch Verantwortlichen, präventive und psychotherapeutische Angebote für Kinder- und Jugendliche zu stärken.

Bundesgeschäftsstelle:
Neckarhalde 55  
72070 Tübingen  
Telefon 07071 9434-94
E-Mail-Adresse: dgvt(at)dgvt(dot)de   
Internet: www.dgvt.de

[1] Löcherbach, P. (2000). Indikatoren zur Ermittlung des ambulanten psychotherapeutischen Versorgungsbedarfs. Band 125. Schriftenreihe des BMG. Baden-Baden.

Ihle, W. & Esser, G. (2002). Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter.
Wittchen, H. - U. & Jacobi, F. (2002). Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland. Eine klinisch-epidemiologische Abschätzung anhand des Bundes-Gesundheitssurveys 1998.
Albota, M. (2004). Zur Situation der Versorgung von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen in Hamburg. Psychotherapeutenkammer Hamburg.

 


Antwortschreiben
SPD - FRAKTION
IM DEUTSCHEN BUNDESTAG

 

 

Berlin, 08. Mai 2006

 

 

 



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