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DGVT-Interview mit Prof. Dr. PETER GOTTWALD und Prof. Dr. DIETMAR SCHULTE


durchgeführt am 19. Juli 2010 von STEFFEN FLIEGEL

 

Vorspann:       

Der DGVT-Vorstand hat beschlossen, in loser Reihenfolge Interviews mit wichtigen früheren Förderern des Verbandes führen zu lassen. Damit soll zum einen eine Ehrung und Wertschätzung dieser Personen für ihr Engagement verbunden sein. Zum anderen sollen aber die heutigen Mitglieder mehr über die Historie, die Wurzeln und die zum Teil sehr spannungsgeladenen Entwicklungslinien der DGVT und die Entwicklung der Verhaltenstherapie in Deutschland kennen lernen.

Steffen Fliegel wurde vom Vorstand gebeten, die Gespräche zu führen und zu dokumentieren.  Im ersten Gespräch kommen Peter Gottwald und Dietmar Schulte gemeinsam zu Wort.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Lieber Dietmar, lieber Peter, ich freue mich, dass wir Drei, die wir ja eine lange gemeinsame und sehr bewegende Geschichte in der DGVT haben, die Gesprächsrunden eröffnen. Und besonders freut mich, dass unser Gespräch eine Wertschätzung Eures beruflichen und ich darf auch sagen persönlichen Engagements sein wird. Für Euren Einsatz für den Verband der DGVT und für die Verhaltenstherapie in Deutschland.

Vielleicht könnt ihr nochmals beschreiben, wie ihr heute –mit Blick zurück- Eure persönliche Rolle für die Entwicklung der Verhaltenstherapie seht.

Vielleicht fängst du an, Peter. Dich habe ich auf meiner allerersten VT-Tagung in München kennengelernt, ich glaube es war 1972, als ich eigentlich noch gar nicht richtig wusste, was Verhaltenstherapie ist.

 

PETER GOTTWALD:

Ich war seit 1966 am Max-Planck Institut für Psychiatrie in München und hatte gerade vorher die Gelegenheit gehabt ein ganzes Jahr in Amerika zu sein. Ich hatte mich 1964 bei dem damaligen Leiter Detlev Ploog beworben. Ich wurde angenommen und bekam vom Max-Planck-Institut ein Stipendium für 300 $ im Monat, womit ich zusammen mit meiner Frau Karin nach Amerika gegangen bin. Ich war in Boston in Harvard und am Massachusetts General Hospital. In den USA war ich völlig frei in der Befriedigung meiner Neugierde und bin so mit dem Operanten Konditionieren in Kontakt gekommen. Es gab eine Reihe von Leuten, die verschiedene Tier-Experimente gemacht haben und auch schon Versuche in Richtung Verhaltenstherapie, zum Beispiel Experimente mit operantem Trinken bei Alkoholikern. Ich habe selbst auch Tierversuche mit Ratten gemacht. Und dann als Arzt auch mit Medikamenten experimentiert, die die Angst beeinflussen.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Gab es denn damals eine Leitperson für dich?

 

PETER GOTTWALD:

Sehr intensiv habe ich mich mit Skinners Schriften beschäftigt, speziell mit dem Buch „Futurum Zwei – Walden Two“. Das hat mich einfach fasziniert, eine Utopie, die sozusagen eine Art experimentelles Leben propagierte. Das war natürlich für mich faszinierend, ich kam ja aus der Medizin und bin kein Psychologe, dieses Versprechen einerseits von Einfachheit und andererseits auch von Wissenschaftlichkeit.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Und wie ging es nach diesen Einflüssen weiter für dich?

 

PETER GOTTWALD:

1966 wurde dann in München die Klinik eröffnet, das Max-Planck-Institut für Psychiatrie, die Klinik bekam unendliche Vorschusslorbeeren und hieß sofort „Mekka der Psychiatrie“. Es  gab eigentlich drei Strömungen in der Klinik, die aber ohne Kommunikation untereinander ganz voneinander abgegrenzt waren. Das eine war die biologische Psychiatrie, die Ploog vertrat. Er wollte durch die Verhaltensbeobachtung von Schizophrenen genauere Aufschlüsse über die Verhaltensstörung bekommen, auch über die Beeinflussung der Verhaltensstörung. Es war für mich interessant aber auch rätselhaft, was da gelaufen ist. Wir hatten eine eigene Station für akut psychisch Kranke mit Beobachtungsfenstern rundum in der ganzen Abteilung gebaut. Da sollten tatsächlich Patienten Tag und Nacht beobachtet werden. Aber es ist  nie so weit gekommen, dass da eine einzige Beobachtung stattfinden konnte. Dann war da  der Chef der Psychiatrie, Detlev von Zerssen, der vertrat das Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft. Das war ja damals ziemlich aktuell. Es sollte tatsächlich so etwas geben wie eine Gemeinschaft zwischen Arzt und Patient. Gemeinsam lernen, gemeinsam Symptome verstehen usw. Das war reine Ideologie - es fand nichts davon statt.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Das hört sich so an, als waren in diesen Erfahrungen bereits die ersten verhaltenstherapeutischen Konzepte enthalten?

 

PETER GOTTWALD:

De facto war die Ideologie der Therapeutischen Gemeinschaft im Hintergrund, aber in Wirklichkeit war es klassische Psychiatrie, und in dieser Zeit hatte ich mit der Verhaltenstherapie noch gar nichts zu tun. Ich hatte aber ein eigenes kleines Forschungszimmer und habe dort Tierversuche weiter betrieben. Erst als ich auf die Kinderstation kam, zu Frau Bleek, sie war die Leiterin der kinderpsychiatrischen Abteilung, wurde die VT für mich interessant. Es gab ja die Verhaltensforschung, und wir hatten damals auch Kontakt zu Konrad Lorenz. Aber es gab  damals eine Art Spannung zwischen dieser Verhaltensforschung i. S. von Lorenz und den Verhaltenstheoretikern. Das hat mich von Anfang an fasziniert und auch gewurmt: Ich habe nicht eingesehen, warum das eigentlich zwei verschiedene Theorien sind. 1972 habe ich eine zweite Dissertation gemacht, „Kybernetische Analyse von Lernprozessen am Beispiel der positiven Verstärkung bei Ratten“. Das war ein gelungener Versuch Verhaltensforschung und Lerntheorie zu integrieren. Dass dies zwei Seiten sind, liegt daran, dass der eine beobachtet, der andere manipuliert und experimentiert. Ich arbeitete damals zweigleisig, einerseits Tierversuche und andererseits auf der Kinderstation mit Autismus-Problemen.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Kannst du diese ersten klinischen Erfahrungen mit autistischen Kindern noch etwas genauer beschreiben? Gab es Behandlungskonzepte?

 

 Peter Gottwald

 

PETER GOTTWALD:

Der entscheidende Input war für uns damals der Film von Ivar Lovaas „Reinforcement Therapy“. Anhand dieses Films haben wir mit Kindern mit unterschiedlichem Intelligenzgrad als Nachahmende gearbeitet. Also wir haben Verhalten geformt: An- und Ausziehen, alle Alltags- und Beziehungsfertigkeiten, die möglich waren, und eben auch die Sprachanbahnung. Wir haben dann im nächsten Schritt das Imitationstraining durchgeführt, immer mit operanten Konditionierungen, Belohnungen und dergleichen. Das war eine sehr intensive Zeit! Dann haben wir Filme gemacht. Der erste Film hieß Heilen durch  Lernen, in dem die Methode dieser Sprachanbahnung gezeigt wird. Das war sozusagen mein Beitrag von der klinischen Seite her, mich mit der Verhaltenstherapie zu beschäftigen….

 

STEFFEN FLIEGEL:

…und es war ja auch die Zeit, als es die ersten Gedanken zur Gründung eines Verhaltenstherapie-Fachverbandes aufkamen. Wie warst du da involviert?

 

PETER GOTTWALD:

Ja, und gleichzeitig gab es den Kontakt mit Brengelmann, der uns zur Beschäftigung mit dieser Verhaltenstherapie ermutigt hat. Er kam 1967 auf die Idee, die Gesellschaftzur Förderung der Verhaltenstherapie (GVT), als Vorläufer der heutigen DGVT zu gründen. Die GVT wurde dann auch 1968 gegründet. Dazu kommen wir bestimmt gleich noch ausführlicher. Fachlich ging es bei mir in der Zusammenarbeit mit Innerhofer weiter, und neben der Autismustherapie kamen mit ihm Themen wie Verhaltenstherapie in der Schule und Verhaltenstherapie in den Familien. Innerhofer war mit seinem Regelmodell eigentlich einer der Begründer der Kognitiven Verhaltenstherapie in Deutschland, damals natürlich nicht mit dem Begriff Kognitive Verhaltenstherapie, der kam ja erst später.

 

STEFFEN FLIEGEL:

…den hat Eva Jaeggi ja propagiert mit ihrer auf Meichenbaum bezogenen Dissertation…

 

PETER GOTTWALD:

…genau, aber Innerhofer hat dazu wirklich einen wesentlichen Beitrag geleistet, weil der Regelbegriff ein kognitiver Begriff ist, und es war nicht mehr das reine klassische operante Konditionieren, sondern plötzlich gingen Sinndeutungen, Sinnhaftigkeit von Regeln, die kognitiven Variablen in die Therapie ein. Das lief eigentlich von Seiten der verhaltenstherapeutischen Forschung aus in den Jahren 1975 – 1976, das war auch der Zeitpunkt, an dem ich das Max-Planck-Institut verließ.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Du hast damals bereits wesentlich zur Erweiterung der sehr eingeschränkten symptomorientierten VT beigetragen, indem du sie schon mit ins Feld der Rahmenbedingungen geholt hast: die Ausweitung vom operanten Konditionieren bei Autisten zum verhaltenstherapeutischen Engagement in der Schule.

 

PETER GOTTWALD:

Wenn du so meinst….

 

STEFFEN FLIEGEL:

Dietmar, du hast entscheidend und maßgeblich die Entwicklung der Verhaltenstherapie in Deutschland gefördert. Ich habe ja bei dir die ersten Schritte ins verhaltenstherapeutische Leben gelernt und erinnere mich noch gut an einen Reader „Verhaltenstherapie“, den du im Eigenverlag herausgegeben und der einen Ehrenplatz in meinem Bücherschrank hat. Es gab damals in Deutschland ja noch kein VT-Lehrbuch. Erzähle ein wenig von deiner fachlichen Historie. Wie war deine Entwicklung zur Verhaltenstherapie hin und wie hast du dazu beigetragen, dass diese Therapierichtung in Deutschland Fuß gefasst hat?

 

DIETMAR SCHULTE:

Als ich studierte, interessierte mich genau genommen mehr die Allgemeine Psychologie, vor allem die Wahrnehmungspsychologie, und zwar zunehmend mehr ein spezieller Aspekt, nämlich differentialpsychologische Aspekte der Wahrnehmung. Ich interessierte mich für die sogenannten kognitiven Stile, aber insbesondere für Hans-Jürgen Eysenck, der zur Stützung seiner Persönlichkeitstheorie auch Wahrnehmungsexperimente machte. Von Eysenck kannte ich bald jede Veröffentlichung und damit zwangsläufig auch Publikationen zur Verhaltenstherapie. Das war eine für mich spannende Entwicklung, denn was ich erfuhr, stand sehr im Gegensatz zu dem, was ich selber während des Studiums als Klinische Psychologie kennengelernt hatte, die damals als Prüfungsfach übrigens Tiefenpsychologie und Psychagogik hieß; so steht es auch in meinem Zeugnis.

 Dietmar Schulte

 

STEFFEN FLIEGEL:

Ohne Klinische Psychologie als Prüfungsfach könntest du heute gar keine Psychotherapieausbildung beginnen ;-), aber die gab es damals ja sowieso noch nicht….

 

DIETMAR SCHULTE:

Richtig, aber in Münster, wo ich studiert habe, gab es am Psychologischen Institut eine Erziehungsberatungsstelle, zu der ich Kontakt bekam und in der ich als Student eine Kindertherapiegruppe durchführen durfte. Während des Studiums hat dann Lilli Kemmler ein Seminar mit dem Titel „Neue Therapieverfahren“ angeboten. Das war ein Seminar zu Rogers Gesprächspsychotherapie, die Reinhard Tausch in Deutschland bekannt gemacht hatte, und zu dieser neuen Entwicklung, genannt Verhaltenstherapie. 1968, nach meinem Examen, fragte mich Lilli Kemmler, ob ich bei ihr eine Assistenzstelle haben wollte; sie hatte inzwischen einen Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Klinische Psychologie erhalten. Klinische Psychologie war zwar nicht unbedingt meine primäre Wahl, aber ich habe das dann doch gerne angenommen. In meinem ersten Semester habe ich ein Seminar zur Theorie der Verhaltenstherapie angeboten, und aus den Seminarreferaten ist nach zweimaliger Überarbeitung der Reader entstanden, den du vorhin angesprochen hast: Einführung in die Grundlagen der Verhaltenstherapie. Parallel hatten wir angefangen, selbst Verhaltenstherapie zu machen. Wir haben einfach ausprobiert, was in der Literatur berichtet wurde oder was man sich in Filmen anschauen konnte.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Das ist ja der Vorläufer vom späteren selbstorganisierten Lernen oder dem Arbeitskreismodell in der DGVT.

 

DIETMAR SCHULTE:

Nein, das würde ich nicht sagen. Wir haben uns im Gegenteil laufend bemüht, von Erfahreneren zu lernen und dazu, wo immer möglich, Gäste eingeladen. Heinz Heckhausen in Bochum hatte Fred Kanfer eingeladen, der ein Humboldt-Stipendium bekam, weil Heckhausen sehr an Kanfers Selbstregulationstheorie interessiert war. Sie überlappte sich in vielem mit Heckhausens Motivationstheorie. Kanfer hat dann in Bochum Lehrveranstaltungen zur Verhaltenstherapie angeboten. Von Münster fuhren mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dorthin. Und weil ich erst neu – übergangsweise -  in der Beratungsstelle arbeitete, durfte ich nicht mitfahren, was ich sehr bedauert habe. Aber wir luden dann Kanfer mehrmals nach Münster ein und lernten durch ihn die verhaltenstherapeutische Praxis kennen. Er kam danach regelmäßig, mindestens einmal im Jahr zu uns. Heute kann man sich das kaum noch vorstellen, mit welch unverfrorener Unbedenklichkeit wir damals begonnen haben, mit Patienten zu arbeiten. Wir waren begeistert, denn wir mussten feststellen: das funktioniert, woran das auch immer gelegen haben mag.

Nach dem Theorie-Seminar machten wir ein Methoden-Seminar, in dem die Studierenden sich Therapien hinter dem Einwegspiegel anschauen konnten, und mit den Studentinnen und Studenten haben wir die Therapien vor- und nachbereitet. Ein Semester später konnten dann die Studenten unter unserer Anleitung und Supervision selbst eine Therapie durchführen.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Zu dieser Studentengruppe gehörte ich damals auch. Du warst ja mein erster VT-Lehrer. Es gab dann noch Margarete Reiss, eine tolle Ausbilderin. Unter ihrer Supervision habe ich 1973 meine erste VT durchgeführt, ein Patient mit Gewitterphobie. Ich weiß noch, wie wir für die In-Vivo-Konfrontation auf ein Gewitter warteten. Das kam dann in einer Nacht gegen Mitternacht. Kurzes Telefonat mit dem Patienten, und wir sind los… Ja, es war ein Learning by doing.

 

DIETMAR SCHULTE:

Und damit war ein 3-semestriges Curriculum entstanden, ohne dass das zuvor so geplant war. In der Forschung habe ich in Münster angefangen, mit Kindern zu arbeiten und  Eltern-Kind-Interaktionen hinsichtlich ungewollter Verstärkung unerwünschten Verhaltens durch die Eltern analysiert. Veröffentlich wurde davon leider nur eine Analyse von Ungehorsam. Denn ich bekam dann den Ruf nach Bochum und widmete mich anderen Aufgaben.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Gab es in Münster damals nicht auch schon einen VT-Verband?

 

DIETMAR SCHULTE:

Ja, es gab eine Initiative des Psychologischem Institut und der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie einzelnen Kollegen, die an der Pädagogischen Hochschule tätig waren. Es wurde ein Verein namens „Arbeitskreis Verhaltenstherapie“ gegründet, also ein Verein, der älter als die GVT/DGVT ist. Dort sprachen wir über diese neuen Entwicklungen. Es war wirklich ein Aufbruch, und ich muss sagen, ich empfinde es als ein Glücksfall, dass ich zu Beginn meines Berufslebens in eine solche Situation hineingekommen bin, in der man die Chance hatte mitzuwirken an einer wirklich neuen Entwicklung. Aus den Klinischen Psychologen, die bis dahin nichts weiter machten als mit dem Testköfferchen durch die Klinik zu gehen, wurden durch diese neue Entwicklung Fachleute für eine psychologische Therapie.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Eine spannende Entwicklung, die zeigt, wie Münster und München wohl die Geburtsstädte der Verhaltenstherapie in Deutschland waren, und euch gebührt viel Dank, wie Ihr an dieser Entwicklung mitgewirkt habt.

Euren Beschreibungen entnehme ich, dass Verhaltenstherapie in den Anfängen viel mit Experimentieren oder besser learning by doing verbunden war. Die anderen Psychotherapierichtungen hatten ihre Erfinder oder Schöpfer: Freud für die Analyse, Jung und Adler für die Tiefenpsychologie, Satir für die Familientherapie, Perls für die Gestalttherapie, Moreno für das Psychodrama, Rogers für die Gesprächspsychotherapie. Die Verhaltenstherapie hat nicht diesen einen Menschen, den man als Pionier bezeichnen könnte. Es gab verschiedene Strömungen,  und international waren Südafrika, London, USA von Bedeutung. Welche wichtigen Menschen sind Euch in Eurer verhaltenstherapeutischen Geschichte begegnet und haben Euch geprägt?

 

PETER GOTTWALD:

Für mich war es zum Einen Ivar Loovas mit dem Film Reinforcement Therapy über die operanten Methoden, der andere war Victor Meyer, der auf Initiative von Brengelmann eingeladen worden war und verschiedene Intensivkurse in Verhaltenstherapie in München durchgeführt hat. Sein mich beeindruckendes Buch Behavioral Therapy in Clinical Psychiatry, bei dem ich an der Übersetzung beteiligt war, beschrieb –wie Vic Meyer es auch verkörperte- diesen neuen verhaltenstherapeutischen Ansatz sehr frei, sehr selbständig und ohne jede Polemik. In seiner Offenheit betonte er aber immer: da ist etwas Neues, das ist wirksam und das kann und sollte wissenschaftlich erforscht werden.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Jetzt kommen die drei W’s?

 

PETER GOTTWALD:

Ja, daraus wurden dann später die berühmten drei W’s: Wissenschaftlichkeit, Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit, die zur Propagandaphase der Verhaltenstherapie geführt haben. Loovas und Meyer waren damals die entscheidenden Personen für mich.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Dietmar, du hast bereits Kanfer als deinen wichtigen Förderer genannt. Wie hat er dich besonders inspiriert, und gab es noch weitere wichtige Menschen für dich in deinen VT-Anfängen?

 

DIETMAR SCHULTE:

Fred Kanfer war für uns derjenige, der uns Therapien praktisch nahe brachte. Er sprach fließend Deutsch, da er in Österreich aufgewachsen war. Für die Verhaltenstherapie hatte damals die diagnostische Phase, insbesondere die Verhaltensanalyse, noch einen viel höheren Stellenwert als heute. Sie gab uns tatsächlich das Rüstzeug, um bei einem Patienten Ideen entwickeln zu können, was man bei ihm oder ihr therapeutisch machen konnte. Wir konnten nirgendwo nachschlagen, wenn man einen Patienten mit einem bestimmten Problem vor sich hatte. Man musste den Therapieplan wirklich im Einzelfall aufgrund der Verhaltensanalyse entwickeln. Als später Kanfers Lehrbuch erschien, habe ich von ihm schon die Prä-Script-Fassung bekommen und habe sie – ich weiß das noch genau – bei einem Urlaub in Finnland „verschlungen“.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Du hast doch auch Skinner persönlich kennen gelernt. Wie wichtig war Skinner für dich?

 

DIETMAR SCHULTE:

Für meine Entwicklung war außerdem Skinner von großer Bedeutung. Obwohl ich als Hilfskraft bei Wolfgang Metzger mit der Gestalttheorie aufgewachsen war, faszinierte mich – zu Metzgers Kummer – dieser behavioristische, rigoros deskriptive Ansatz. Skinners Lerntheorie ließ sich unmittelbar in der Praxis anwenden. Dass man Erkenntnisse der psychologischen Grundlagenforschung direkt bei der Lösung praktischer Probleme anwenden konnte, war für mit das Faszinierendste. Ich kam nicht aus der Praxis, sondern ich kam aus der psychologischen Grundlagenforschung und hatte dazu schon ein paar allgemeinpsychologische Untersuchungen veröffentlicht. Ich habe alles von Skinner verschlungen, was es gab. Hans-Jürgen Eysenck hat ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf mich gehabt. Sein Buch „Neurosen - Ursachen und Heilmethoden“ war das erste Lehrbuch der Verhaltenstherapie, das ins Deutsche übersetzt wurde.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Du hast einmal gesagt, dass wir auch einiges John F. Kennedy zu verdanken haben…

 

DIETMAR SCHULTE:

Kennedy hatte damals eine Kommission eingesetzt, um eine Bestandsaufnahme der Lage der Psychiatrie in den USA vorzunehmen. Diese Initiative von Kennedy ist dann ein paar Jahre später von der Bundesregierung aufgegriffen worden, und der Deutsche Bundestag machte dann zwei Anhörungen zur Lage der Psychiatrie in Deutschland, zu denen auch zwei Psychologen eingeladen wurden, nämlich Hans Brengelmann aus München und Erna Duhm aus Göttingen, die dort den Lehrstuhl für Klinische Psychologie hatte. Beide haben den Abgeordneten vermutlich zum ersten Mal das Wort „Verhaltenstherapie“ genannt und auf die Rolle der Psychologen hingewiesen. Nach diesen Anhörungen ist dann vom Bundestag eine Kommission gebildet worden, die die Lage der Psychiatrie in Deutschland untersuchen sollte. Entsprechend der damaligen Situation war allerdings kein Psychologe für diese Kommission vorgesehen. Wir haben damals aus den Berufs- und Fachverbänden heraus, die damals übrigens eng zusammen arbeiteten, eine Initiative gestartet und dann tatsächlich erreicht, dass Rudolf Cohen als Psychologe noch in diese Kommission kam. Der Zwischenbericht der Enquetekommission war dann ein wichtiger Schritt für die Entwicklung in Richtung auf ein Psychotherapeutengesetz.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Bevor wir jetzt gleich zu den Verbänden GVT und DGVT kommen, vielleicht noch eine Frage zur Attraktivität der Verhaltenstherapie. Was hat die Verhaltenstherapie in Deutschland gefördert und attraktiv gemacht, warum konnte sie sich so positiv und so schnell entwickeln, gerade auch für die Fachleute in der psychotherapeutischen Versorgung?

 

DIETMAR SCHULTE:

Auf allen Ebenen schlug die Verhaltenstherapie überraschend stark ein, wenn ich das so ausdrücken darf. Nachdem die ersten Ergebnisse in die Öffentlichkeit kamen, stürzte sich die Presse auf die VT, und wir sind immer wieder gebeten worden Interviews zu geben und es wurden Filme gedreht. Bis dahin war Psychotherapie ja Psychoanalyse. Psychotherapie war, dass jemand auf der Couch liegt, und hier kam plötzlich ein revolutionär anderer Ansatz, der auch etwas von dem oft nicht allgemein geteilten Nimbus der Psychotherapie entfernt war. Das zweite war, dass in vielen medizinischen Fächern die neuen Entwicklungen der Verhaltenstherapie mit großem Interesse aufgenommen wurden. Ich erinnere mich, dass ich in Münster einmal von den Urologen in die Uniklinik eingeladen wurde, um diese neue Verhaltenstherapie vorzustellen, die dort allerdings - wie fast überall - gleichgesetzt wurde mit der Systematischen Desensibilisierung.

Aber das eigentlich Wichtige war, dass sich durch die VT plötzlich für die Psychologen neue Arbeitsmöglichkeiten ergaben. Psychologen konnten keine Therapie machen, außer mit Kindern in Beratungsstellen, und inhaltlich war das eher psychodynamische Therapie. Und nun gab es plötzlich einen Ansatz, dass man tatsächlich mit Patienten, mit Kindern und Erwachsenen therapeutisch arbeiten konnte. Das lässt sich vielleicht so deutlich machen: Als ich dann 1974 auf den klinischen Lehrstuhl in Bochum berufen wurde, hätten wir sämtliche Lehrveranstaltungen zwei- oder dreifach anbieten können. Kollegen aus der Praxis fragten an, ob sie nicht an den Lehrveranstaltungen teilnehmen könnten, oder ob ich ihnen nicht wenigstens einen Studenten für ein Praktikum vermitteln könnte, damit sie von diesem diese neue Verhaltenstherapie lernen könnten. Das war eine richtige Aufbruchsstimmung, auch im Kreis der Kollegen.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Peter, du hast schon die 3 W’s genannt: Wirksamkeit, Wissenschaftlichkeit, Wirtschaftlichkeit. Du hast in München gearbeitet, wo die Psychoanalyse auch sehr stark dominierte. War die Verhaltenstherapie auch deshalb attraktiv, weil sie Versorgungsdefizite ausgleichen oder Lücken stopfen konnte, die durch andere Therapieverfahren nicht zu erfüllen waren?

 

PETER GOTTWALD:

Ich denke das ist ein wichtiger Punkt. Auf der einen Seite wuchs der Bedarf und die eben genannte Enquetekommission stellte fest, dass es sehr viel mehr psychische Störungen gab als man angenommen hatte. Und offensichtlich war die Psychoanalyse nicht in der Lage, diesen ganzen Bedarf zu decken. Von daher war eine ganz neue Situation entstanden, in die die Verhaltenstherapie wie in eine Bresche einsprang. Und dann auch dieses große Interesse der Praktiker an einer Methode, die tatsächlich schnell wirksam war und die man relativ leicht erlernen konnte. Auf der anderen Seite gab es in München auch von Seiten der Psychoanalyse Interesse an der Verhaltenstherapie, nämlich durch Albert Görres, Psychologe und Mediziner, der zunächst Vorstand des Psychologischen Instituts und der Abteilung für Angewandte Psychologie und Tiefenpsychologie an der LM-Uni München war und 1973 Direktor des Klinischen Instituts für Medizinische Psychologie und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der TU München wurde. Er war  ein Analytiker, der seinen Mitarbeitern wie Niels Birbaumer, Christoph Kraiker, Wolfgang Tunner und Jarg Bergold sehr viel Freiheit gab, selbständig die neue Verhaltenstherapie zu erkunden. Jarg Bergold, der gerade in Berlin emeritiert wurde…

 

STEFFEN FLIEGEL:

…..er hat ja auch viel für die Entwicklung der DGVT geleistet….

 

….ja, Bergold hat sich in London mit der Verhaltenstherapie vertraut machen können und hat diesem Therapieverfahren dann am Psychologischen Institut in München sehr großen Raum eingeräumt. Dies stand im Kontrast zu der Situation der Psychoanalyse am Max-Planck-Institut. Da gab es sogar eine analytische Abteilung, die hermetisch abgeschlossen war gegen das übrige Institut. Keiner von uns, der normalen Nachtdienst machte, durfte auf dieser Station Nachtdienst machen. Das war eine Art von Abkapselung, die eigentlich eher zu Lasten der Psychoanalyse ging. Insofern traf die Verhaltenstherapie tatsächlich auf eine sehr günstige gesellschaftliche Situation mit einem sehr großen Bedarf.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Und wie würdest du die Verhaltenstherapie heute beschreiben?

 

PETER GOTTWALD:

Die Einstellung damals war so etwas wie „Jeder Mensch kann so etwas werden, wie der Verhaltensingenieur seiner selbst“. Wenn einem etwas nicht passt, wenn man deutlich Einschränkungen hat in der eigenen Freiheit, dann kann man im Dienste dieses eigenen „ICH“, dann kann man zur Stärkung dieses eigenen „ICH“ selbst etwas tun, um sich sozusagen besser in der Welt zurechtzufinden. Das war auch ein Stück damaliger Ideologie, und dahinter steckt natürlich ein bestimmtes Modell der „ICH-Psychologie“, wenn es eben darum geht, dieses „ICH“ zu stärken. Und das war eigentlich damals die ursprüngliche Ideologie. Das hat sich dann erst später gezeigt, dass die „ICH-Betonung“ einen Stellenwert hatte, im Rahmen der Psychoanalyse und auch in Bezug auf Carl Rogers in der Gesprächspsychotherapie, wo es vor allem um das „ICH“ in Beziehung zu anderen Menschen geht, eben im Gespräch, in der Interaktion. Das war die ursprüngliche Faszination, und was später hinzugekommen ist, ist eigentlich dann immer nur zu verstehen, wenn man diesen „ICH-Begriff“ relativiert, erweitert und mit anderen psychologischen Modellen in Beziehung setzt. Die konkrete Frage: was kann man kombinieren, Gesprächstherapie mit Verhaltenstherapie, oder was können Psychoanalytiker von der Verhaltenstherapie aufnehmen, ohne ihr Grundanliegen dieser „ICH-Stärkung“ zu verleugnen. Aber das ist auch derzeit noch eine offene Frage.

 

 

Peter Gottwald und Steffen Fliegel

 

 

STEFFEN FLIEGEL:

Dietmar auch an dich die Frage zum Sprung von den Wurzeln der Verhaltenstherapie zur Verhaltenstherapie heute. Gibt es eigentlich die Verhaltenstherapie als –vielleicht abgeschlossenes- Therapieverfahren noch?

 

DIETMAR SCHULTE:

Es ist nicht zu leugnen: es gibt die Verhaltenstherapie – einen therapeutischen Ansatz mit diesem Label Verhaltenstherapie, unterschieden von anderen therapeutischen Ansätzen. Das kann man nur verstehen, weil nach wie vor in Deutschland wie auch weltweit in anderen Ländern in der Psychotherapie Schulrichtungen existieren. Es ist es zwar interessant, aber vor allem traurig, dass sich, anders als in anderen Wissenschaftsdisziplinen, im Bereich der Psychotherapie von Anfang an bis heute neuere Entwicklungen immer als neue Schulen generieren und gründen mussten. Neuere Ansätze führen in den Wissenschaften normalerweise dazu, dass das Bisherige weiter entwickelt und ergänzt wird, vielleicht sogar verbunden mit erheblichen Auseinandersetzungen. In der Psychotherapie hat das so nicht funktioniert, seit Freud. Es gibt viele Kolleginnen und Kollegen, die zwar im Bereich der Verhaltenstherapie forschen, die es aber nicht interessiert, ob sie Verhaltenstherapeuten sind oder nicht. Sie haben eine empirische Forschungshaltung, wenden sich psychischen Störungen zu und suchen danach zu verstehen, wie es zu solchen Störungen kommt und welche Wege es gibt, sie zu bewältigen. Wenn dieses Suchen empirisch orientiert ist, reicht das schon, nicht zuletzt von anderen unter dem Label  Verhaltenstherapie eingeordnet zu werden. Und den Kolleginnen und Kollegen, fast weltweit, bleibt auch gar nichts anderes übrig, als unter diesem Label zu veröffentlichen.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Es hat sich in der verhaltenstherapeutischen und psychotherapeutischen Praxis schon viel verändert, auch die Forschung sucht andere Wege. Wie soll es aus deiner Sicht weitergehen?

 

DIETMAR SCHULTE:

Wir brauchen Wege, um die Therapieschulen zu überwinden. Aber das wird nicht dadurch gelingen, dass man verschiedene Ansätze zusammenfügt und zu einer Therapie mit einer Theorie zu integrieren versucht. Ich bin überzeugt, dass wir die Schulunterschiede nicht durch Integration, sondern nur  durch Differenzierung überwinden können. Im Zentrum der Psychotherapieforschung sollte meines Erachtens nach die Frage stehen, welches Vorgehen bei welchen Patienten – unterschiedenen nach Störungen oder nach anderen Merkmalen - am besten weiterhelfen kann. Dabei ist es egal, aus welcher Richtung der jeweilige Ansatz kommt. Wir sollten keine Forschung machen, um eine Therapieschule zu überprüfen. Leider wird das noch oft gefordert. Die Therapieschulen sind kein Wert an sich. Wir müssen Forschung machen, um den Menschen besser beistehen und helfen zu können.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Soviel zu euer fachlichen Geschichte im Zusammenhang mit der Entwicklung der Verhaltenstherapie in Deutschland. Vielen Dank für eure spannenden Erzählungen.

Kommen wir nun zum Verband der DGVT mit deren Ursprung in der GVT, der Gesellschaft zur Förderung der Verhaltenstherapie. Die DGVT gehört heute – wenn wir die Mitgliederzahlen nehmen, 6 000 – sicherlich zu den größten psychotherapeutischen Fachverbänden der Welt. Zumindest ist sie der größte psychotherapeutische Fachverband in Europa. Die DGVT hat eine sehr bewegte Geschichte mit vielen Höhen und Tiefen, mit Krisen und  Machtkämpfen, aber auch mit viel Euphorie und Einflussnahme und zahlreichen wichtigen Ereignissen in ihrer Entwicklung. Ihr gehört Beide zur wegbereitenden ersten Generation dieses Verbandes, und ich möchte gerne mit euch darüber sprechen, was ihr dazu beigetragen habt, dass die DGVT zu diesem Verband werden konnte. Dietmar ich fände es schön, wenn Du vielleicht kurz, gerade für die jüngeren Mitglieder, noch mal die Ursprünge und ersten Entwicklungsschritte beschreibst, der Gesellschaft zur Förderung der Verhaltenstherapie GVT, der sich der Deutsche Berufsverband der Verhaltenstherapeuten DBV zur Seite stellte, die sich dann zur heutigen DGVT zusammenschlossen.

 

Steffen Fliegel und Dietmar Schulte


DIETMAR SCHULTE:

Die GVT ist 1968 in München durch die Initiative von Hans Brengelmann und der Gruppe, die im Psychologischen Institut der Uni tätig war, gegründet worden. Als zunächst regionale Gesellschaft wurde sie nach einem Fachkongress auch überregional bekannt. Ich bin dann auch sehr früh in die GVT eingetreten. Die GVT hatte die Zielsetzung, die Verhaltenstherapie zu verbreiten, bekannt zu machen und zu fördern. Nach einer längeren Anfangszeit und dem zunehmenden Interesse kamen Überlegungen auf, wie man die Ausbildung in dieser neuen Richtung fördern und regeln könnte.  Brengelmann hat darauf verwiesen, dass man die GVT als gemeinnützigen Verein nicht gefährden sollte, weil er für den Verband sehr viele Forschungsprojekte eingeworben hatte. Also sollte ein zweiter Verband speziell für die Ausbildung gegründet werden, die Ausbildung sollte praktisch ausgelagert werden. So  wurde in Frankfurt 1970 der Deutsche Berufsverband der Verhaltenstherapeuten gegründet,  und wir haben in diesem Verband – im engen Schulterschluss mit der GVT – Konzepte zur Ausbildung und Kriterien zur Anerkennung als Verhaltenstherapeut entwickelt. Regelmäßig wurden Treffen organisiert, bei denen über didaktische Konzepte gesprochen wurde und Erfahrungen, aber auch Lehrmittel ausgetauscht wurden. Die Ausbildung schloss mit dem Zertifikat „Verhaltenstherapeut DBV“ ab. Und es gab auch den Lehrtherapeut DBV. Auch die Gründungsmitglieder mussten sich dem Anerkennungsprocedere unterziehen und ihre Fallberichte einreichen. Es existierten zwar zwei Verbände, ich selbst war Vorsitzender des DBV, aber es gab eine enge Zusammenarbeit.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Und zwei Verbände hatten in der politischen und fachlichen Szene auch zwei Stimmen. Die allerdings nicht immer einheitlich, später manchmal sogar entgegengesetzt diskutierten. Die Studentenbewegungen in dieser Zeit haben sich ja auch in der GVT sehr bemerkbar gemacht, ja auch die GVT nicht unbeeinflusst gelassen. Peter vielleicht noch aus Deiner Perspektive etwas zu der Anfangszeit der GVT sagen, und vielleicht auch den Machtkämpfen, die bald innerhalb der GVT stattfanden

 

PETER GOTTWALD:

Die Gründung der GVT fand in einer ganz merkwürdigen Atmosphäre statt. Es war halb scherzhaft, jedenfalls nicht hundertprozentiger Ernst. Brengelmann, der Initiator, hat prognostiziert, dass in wenigen Jahren mehrere tausend Mitglieder da sein werden. Die konkrete Gründungssitzung fand statt mit Brengelmann, Görres, Tunner, Bergold, Heise, Ploog und mir. Es war so eine merkwürdige Aufbruchsstimmung, die sich in ganz paradoxen Sachen äußerte. Wir waren Vollmitglieder, obwohl wir keine verhaltenstherapeutische Ausbildung vorweisen konnten, und das blieb als Status jahrelang erhalten. Es hat sich auch niemand daran gestört oder darum gekümmert. Dann begann die Phase des Propagierens. Interessanter Weise wurden wir von den Lindauer Psychotherapiewochen eingeladen, und haben dort vor tausend Analytikern einen ganzen Tag lang als junge ‚Spunde’ die Verhaltenstherapie vorstellen  können. Ich sehe das noch vor mir, wie wir in dem großen Versammlungssaal in Lindau über Verhaltenstherapie sprachen, ich z.B. über operantes Konditionieren bei behinderten Kindern. Als blutige Anfänger, als Propagandisten der Verhaltenstherapie wurden wir dort durchaus akzeptiert. Es gab noch weitere Tagungen, und daraus entwickelte sich dann diese Idee, die Verhaltenstherapie zu fördern: Einerseits durch Intensivkurse mit entsprechend eingeladenen Leuten. Und andererseits entstand gleichzeitig das Publikationsorgan, die Mitteilungen der Gesellschaft zur Verhaltenstherapie. Hier gab es neben Originalbeiträge auch so schöne Sachen wie „Kraepelin als Vater der experimentellen Psychiatrie“ und „Goethe als Verhaltenstherapeut“. Diese Entwicklung wurde durch die beiden Kongresse 1970 und 1971 weitergeführt…

 

STEFFEN FLIEGEL:

…das muss kurz vor Beginn der konfliktreichen Phase gewesen sein….

 

PETER GOTTWALD:

...durch den Einflusses einer Münchener Studentengruppe, die sich um Heiner Keupp herum gebildet hatte. Plötzlich wurde ein Einfluss von Studierenden sichtbar, die in die GVT drängten und mit Recht auch ihr Interesse an einer vernünftigen Ausbildung deutlich machten. Der Konflikt verschärfte sich dann. Brengelmann hatte in seiner expansiven Art in München ein Haus angemietet, das sog. GVT-Zentrum in der Parzivalstraße. Er hatte Kredite aufgenommen und dieses Haus wirklich luxuriös ausgestattet mit Stuckleisten an den Decken. Darauf wiesen die Studenten kritisch hin. Aber last not least bekamen die eher informellen und wirklich teils heiteren und nicht sehr formal geregelten Vorstandssitzungen eine neue Qualität. Wir hatten plötzlich studentische Mitglieder im Vorstand und die waren natürlich ganz anders motiviert und  interessiert. Die kannten Geschäftsordnungen und Anträge zur Geschäftsordnung usw. Dann entstand in diesem Vorstand eine merkwürdige Strategie, nämlich möglichst viele Überlegungen und Entscheidungen von den StudentInnen fernzuhalten und sie trotzdem an den Sitzungen teilnehmen zu lassen. Dies hat sie natürlich mit Recht aufs äußerste verärgert, und so entstanden riesige Spannungen zwischen dieser studentischen Gruppe und dem Vorstand.  Dieser Streit eskalierte dann 1972 in Münster. Da wurde mit Ach und Krach der Vorstand entlastet. Zwar wurde ein neuer Vorstand gewählt, mit Dieter Kallinke als Vorsitzendem. Er sah sich aber nicht in der Lage, die Geschäfte aufzunehmen, wegen der Schulden, die in München entstanden waren. In dieser Situation ließ sich dann die studentische Gruppe vom Amtsgericht als Notvorstand einsetzen, mit August Rüggeberg an der Spitze. Die, sagen wir mal, Etablierten schlugen in dieser Krisensituation jetzt die Strategie vor, aus der GVT auszutreten, den Verband verfallen zu lassen und eine neue Gesellschaft zu gründen. Und jetzt   kamen die studentischen Vertreter auf mich zu, ob ich nicht doch den Vorstand übernehmen wollte. Da ich nicht bereit war, dieses zynische Manöver mitzumachen, aufzulösen und wieder neu anzufangen, habe ich  JA gesagt, ich mach das. Hinterher hat es sich herausgestellt, dass die Studenten mich ganz genau kalkuliert hatten. Die hatten sorgfältige Verhaltensanalysen ohne meine Kenntnis durchgeführt und hatten prognostiziert, dass ich das wohl machen würde.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Welch ein Glück, dass die in der Verhaltensanalyse prognostizierten Bedingungen zu einer zielführenden Intervention wurden. Denn der Grundstein der damals für eine Streitkultur gelegt wurde, hat sich über die Jahre und bis heute gehalten.

 

PETER GOTTWALD:

Jedenfalls entstand so der neue Vorstand, wo die „Alten“ wie  Brengelmann und Tunner absprangen und zum Teil aus dem Verband austraten. Aber Bergold blieb dabei und wurde mit  Christoph Kraiker, Hermann Heise, Peter Fiedler und mir dann in diesen neuen Vorstand gewählt, der eben andere Zielsetzungen entwickelte.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Heiner Keupp hat einmal gesagt, dass die DGVT, die dann aus dem Zusammenschluss des Deutschen Berufsverbandes der Verhaltenstherapeuten und der Gesellschaft zur Förderung der Verhaltenstherapeuten entstand, es geschafft hat, einen kritischen Teil der Psychologie zu integrieren und diese Konflikte nicht einseitig aufzulösen. Mit diesem Spagat hat die DGVT dann über viele Jahre versucht, einerseits die gesundheitspolitischen Implikationen, aus denen sich dann auch die gemeindepsychologisch/-psychiatrische Richtung entwickelt hat, und andererseits die verhaltenstherapeutische fachliche Seite, sich parallel und immer wieder verbindend entwickeln zu lassen. Könnt ihr etwas dazu sagen, ob diese Machtkämpfe, die auch immer wieder entstanden sind, sich letztlich als Chance für die DGVT gezeigt haben? Oder hat die DGVT wichtige Felder leer gelassen, die sie hätte besetzen können?

 

DIETMAR SCHULTE:

Man muss die damalige Entwicklung sehen auf dem Hintergrund, dass es bei den Studentenunruhen der 68er Jahre zunächst um eine antiautoritäre Bewegung ging. Diese allgemeinpolitischen oder allgemeingesellschaftlichen Ziele  beeinflussten das Geschehen in der GVT und führten zu einer inhaltlichen Orientierung und einer Zielbestimmung, die weit über das Ziel „Förderung der Verhaltenstherapie“ hinausging, nämlich Verbesserung der Versorgung, Förderung und Veränderung des Gesundheitssystems. Das waren bis dato in der Psychotherapie unbekannte Begriffe und Zielsetzungen. Diese Diskussion hat unsere Perspektiven erheblich erweitert.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Die DGVT hat ja dann über Jahre mit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie eng zusammengearbeitet, hier sind insbesondere Klaus Dörner, Manfred Zaumseil, Thomas Bock zu nennen, um die sicherlich auch sehr politisch motivierten Ziele voranzutreiben. Aber ich weiß ja, dass du es öfter bedauert hast, dass die DGVT durch die damaligen sicherlich auch sehr politisch motivierten Ziele, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und eine bessere Basis für die psychotherapeutische Versorgung zu schaffen, insbesondere der  Verhaltenstherapie, andere Themen vernachlässigt hat.

 

DIETMAR SCHULTE:

Ja, die anderen Ziele sind vernachlässigt worden, also: die Förderung der Verhaltenstherapie, die Weiterentwicklung therapeutischer Möglichkeiten aus der Forschung heraus, eine fundierte und effiziente Ausbildung. Insbesondere die Förderung und die Orientierung an der Forschung ist eine Zeitlang völlig in den Hintergrund getreten. Was die Ausbildung angeht, entwickelte die GVT bzw. dann die DGVT das Konzept, dass man sich gegenseitig unterrichtete, selbst organisiertes Lernen stand im Vordergrund. Es war eine Zeitlang verpönt, dass man überhaupt jemand mit Erfahrungsvorsprung einlud. Dieses Konzept wurde von Dritten, vor allem von der Politik und den Krankenkassen, nicht akzeptiert, und daher entwickelten sich andere Initiativen und Verbände. Da hat die DGVT tatsächlich Leerstellen gelassen. Die Konsequenzen: was die Forschung anging, gründete sich die Deutschen Gesellschaft für Verhaltensmedizin und Verhaltensmodifikation, was die Ausbildung anging, hat schließlich die Kassenärztliche Bundesvereinigung den Anstoß für die Gründung privater Ausbildungsinstitute gegeben, die sich dann auch wiederum zu einem Verband zusammengeschlossen haben, dem Deutschen Fachverband für Verhaltenstherapie. So entstanden verschiedene Verbände auf dem Gebiet der Verhaltenstherapie mit unterschiedlichen Akzenten, und es ist bis heute nicht gelungen ist, diese verschiedenen Entwicklungen wieder zusammenzuführen.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Peter, erwuchs aus der damaligen Krise eine Chance für den Verband und seine Ziele? Konnte der neue GVT-Vorstand etwas bewirken?

 

PETER GOTTWALD:

Das ist schwierig zu beantworten. Als Erstes hat dieser neue Vorstand erstmals eine alternative Tagung in München durchgeführt mit dem Titel: Verhaltenstherapie in der kritischen Diskussion. Da war die Programmatik natürlich eine andere. Das Grundproblem war jetzt: Verhaltenstherapie sollte integriert werden in eine neue gemeindenahe psychosoziale Versorgung. Die Protagonisten dieser Richtung waren neben anderen Klaus Dörner. Da wurde eine andere Art von Grundeinstellung deutlich, nämlich eine menschenwürdige psychosoziale gemeindenahe Versorgung aufzubauen. Wir wurden dann Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie. Und dann kam, das ist dir, Steffen viel vertrauter, dieser jahrelange Kampf darum, ob und wie man Psychotherapie in eine psychiatrische Versorgung integrieren kann, die gemeindenah, teamorientiert und patientenzentriert zugleich ist. In gewisser Weise sind die Ziele der Enquetekommission realisiert worden: gemeindenahe Versorgung, Auflösung der Großkrankenhäuser, Einrichtung von psychosozialen Arbeitsgemeinschaften, sozialpsychiatrischen Diensten usw. Das ist alles sozusagen ein positives Ergebnis nach der Enquetekommission. Aber Psychotherapie als Einzelbehandlung ist letztlich Einzelbehandlung und dann kassenfinanzierte Leistung geblieben und insofern ist dieses Stück der Utopie, nämlich eine sinnvolle Integration, niemals realisiert worden.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Gemeindenahe Versorgung war das alles umfassende Schlagwort, die DGVT hat ja dazu große Kongresse veranstaltet, mit regem Zulauf…

 

PETER GOTTWALD:

…aber die Zeit ist auch nicht reif gewesen, dass man diese Art von einer allgemeinen psychosozialen Orientierung gemeindenaher Versorgung wirklich realisieren konnte. Die zentrale Diskussion ging und geht um den Gemeindegriff. Was ist eigentlich Gemeinde, was konstituiert Gemeinschaft und wie Heiner Keupp sich seit Jahren eben um diesen Kommunitarismus bemüht, ist die Frage immer noch offen. Das war eigentlich die Grundfrage der 68er. Die wollten eine neue Gesellschaft. Und was davon realisiert ist bis heute, ist eigentlich Null kann man sagen. Es gab bestimmte Programme, es gab bestimmte Hoffnungen, aber die Wirklichkeit entwickelte sich anders.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Eine zentrale Frage war auch, ob die Anwendung von Verhaltenstherapie nicht der Anpassung an bestehende Machtverhältnisse dient, dass sie eben auch sehr manipulativ sein kann, was durchaus auch der Fall ist, wenn man sie anders nutzt, als sie von ihren Grundideen her konzipiert ist. Wenn wir heute in die Werbung schauen, werden viele lerntheoretische Prinzipien eben auch für andere Strategien genutzt, und das hat auch die Entwicklung der Verhaltenstherapie innerhalb der DGVT oft sehr schwierig gemacht. Es hat immer wieder Gruppierungen gegeben, die zum Teil sicherlich zu Recht gesagt haben, dass VT den Menschen nicht nur in seiner persönlichen Freiheit fördert, sondern eher in seiner Anpassung. Dann hat sich die DGVT über die vielen Jahre hinweg doch sehr stark auch in die psychotherapeutische Richtung entwickelt, ohne den Kontakt zu den Versorgungsthemen aufzugeben. Der Verband hat sich immer kritisch mit den bestehenden politischen Verhältnissen und Herausforderungen auseinandergesetzt. So gab es im Verband eine Kommission zum Kampf gegen die damaligen Berufsverbote oder auch enge Verbindungen zur Sozial- und Antipsychiatrie. Auch war die  DGVT maßgeblich daran beteiligt, dass sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, z.B. Patientinnen, ins Strafgesetzbuch aufgenommen wird.  Dennoch ist die DGVT zu einem großen Fachverband geworden, der aus- und fortbildet, einen großen Verlag hat, eine Fachzeitschrift herausgibt, Tagungen und Kongresse organisiert und immer wieder auch zu politischen Themen Stellung bezieht. Viele der neuen 6.000- Mitglieder sagen, sie kommen gerne deswegen in die DGVT, weil sie nicht nur ein Berufs-, sondern eher ein Fachverband ist, der sich für politische Belange und vor allem für den Patienten als Nr. 1 einsetzt. Wie würdet Ihr denn die DGVT in ihrer heutigen Entwicklung und ihren heutigen Ausrichtungen bewerten?

 

PETER GOTTWALD:

Also ich muss gestehen, dass ich da ein Wahrnehmungsdefizit habe. Ich bin zu lange raus und kann das nicht mehr beantworten. Ich müsste mich erst wieder kundig machen. Soweit ich das damals überblicken konnte, ging unsere Arbeit in Deine Tätigkeit über. Es war ein wirklich heroischer Kampf die Ideen noch durchzusetzen und man musste doch erkennen, dass eigentlich nur der Weg für die kassenärztliche Anerkennung und entsprechende Ausbildungsgänge übrig blieb. Und ich weiß eigentlich gar nicht mehr, warum wir damals unbedingt GVT und DBV zusammenbringen wollten. Das war ein Stückchen Ideologie, wir wollten auf diese Weise den Alleingang des DBV verhindern, indem wir uns sozusagen liebevoll kontrollierend umarmten, damit wenigstens eine gewisse gesundheitspolitische Orientierung noch dabei war. Und das ist dann auch aus irgendeinem Grund gelungen, dass man in dieser neuen DGVT eben auch die Ausbildungsziele und die realistischen Ziele der Praktiker realisieren kann. Aber es war tatsächlich noch ein Stück, ja, ideologische Arbeit aus dieser Krise heraus.

Dietmar Schulte und Peter Gottwald

 

DIETMAR SCHULTE:

Ich hab mich auch später öfter nach dem Sinn des Zusammenschlusses gefragt und ob es nicht besser gewesen wäre, es nicht zu machen. Ich kann nur sagen, dass es bei mir auch ein sehr persönlicher Wunsch war, weil ich diese durch schwierige Konflikte und Angriffe geprägte Zeit als sehr belastend erlebt habe. Ich hatte gehofft, dass sich das durch den Zusammenschluss überwinden ließe. Ich bin damals von vielen – auch Mitgliedern des DBV – kritisiert worden, dass wir diese Gespräche über den Zusammenschluss führten. Daraus hat sich schließlich eine Satzung entwickelt, in der sowohl die gesundheitspolitischen Ziele als auch die Förderung der Verhaltenstherapie enthalten waren. Ein Jahr später schon wurde die Satzung der neuen DGVT auf einer Mitgliederversammlung wieder geändert, die Komponenten, die wir von DBV-Seite eingebracht hatten, wurden gestrichen. Auch trat die DGVT aus der europäischen Verhaltenstherapieorganisation, der EABT, aus. Für mich alles sehr enttäuschende Entwicklungen, die mich dann auch auf einer gewisse Distanz zu dem Verband gebracht haben. Allerdings mit einem ambivalenten Verhältnis, eben weil ich die Berücksichtigung auch gesundheitspolitischen Zielsetzungen vom Grundsatz her gut fand. Aber was ich vermisst habe, ist die Orientierung an dem, was die Verhaltenstherapie erst zur Verhaltenstherapie macht, die stetige Überprüfung und Weiterentwicklung durch Forschung.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Hat sich da aus deiner Beobachtung heraus etwas geändert?

 

DIETMAR SCHULTE:

Ehrlich gesagt, fehlt mir das auch heute noch in der DGVT. Sie ist einerseits sehr aufgeschlossen für alle Entwicklungen, manchmal vielleicht auch zu unkritisch, und versucht, sie zu integrieren. Aber trotz der Bemühungen, die ich sehe, gerade auch von dir, Steffen, die Verbindung zur Universität, zur Forschung herzustellen, ist das bislang nicht wirklich gut gelungen. Ich persönlich würde mir wünschen, dass ich diese Erweiterung noch erleben könnte. Das bedarf Anstrengungen von beiden Seiten. Es sind sehr viele Jahre vergangen, ich kenne beide Seiten gut, und, ehrlich gesagt, ich bin eher pessimistisch,  ob diese Annäherung zwischen der DGVT und den Hochschulen tatsächlich gelingt. Ich sehe da auf beiden Seiten zu wenig Bewegung.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Noch einmal zum letzten Punkt: Was macht die DGVT heute aus, womit bist du als wichtige Gründungsperson zufrieden und wie würdest du dir die Perspektive der DGVT wünschen.

 

DIETMAR SCHULTE:

Das, was die DGVT nach Überwindung dieser Krisenphase ausmacht, ist nach wie vor ihr Engagement für eine gesundheitspolitische Entwicklung im Dienste der Patienten. Dazu gehört die Suche nach besseren Versorgungsstrategien, die dieser Zielsetzung entsprechen. Nach wie vor finde ich das wichtig, auch wenn sich viele der Ideen nicht werden realisieren lassen. Darauf hat Peter ja schon hingewiesen. Die Psychotherapie wurde mehr und mehr Teil des Gesundheitswesens. Aber es kann nicht von der Psychotherapie heraus das gesamte Gesundheitswesen umgekrempelt werden. Dass die DGVT sich da sehr bemüht und bemüht hat, finde ich gut. Dass und wie die DGVT nach dem ursprünglichen Ausbildungskonzept, dem Lernen auf Gegenseitigkeit bzw. dem selbstorganisierten Lernen, dann doch wieder zu einem Konzept zurückgefunden hat, dass man tatsächlich auch von Erfahreneren lernen kann, eine über Jahrhunderte oder Jahrtausende bewährte Tradition, das ist in meinen Augen eine Erfolgsgeschichte par excellence. Das Konzept der Ausbildungsinstitute ist sehr gelungen. Und davon, wie sich die DGVT um Qualitätssicherung in der Ausbildung bemüht und sie umsetzt, können sich andere Ausbildungsinstitute, auch die universitären, eine Scheibe abschneiden. Also diese Entwicklung finde ich sehr positiv, und da ist es wichtig, dranzubleiben.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Kannst du auch etwas zur Definition der VT innerhalb des Verbandes sagen?

 

DIETMAR SCHULTE:

Ja, aber eher kritisch und mit Sorge. Ein zentrales, ja das konstituierende Merkmal der Verhaltenstherapie ist die stetige Weiterentwicklung aus der Forschung heraus auf Basis praktischer Erfahrungen. Dies ist im Übrigen ein Kennzeichen akademischer Berufe, die deshalb auch kein Lehrberuf sind, sondern einer akademischen Ausbildung bedürfen. Die DGVT ist über den Bereich der Verhaltenstherapie hinaus gegangen und versucht, auch andere Therapieansätze zu integrieren, bei ihren Publikationen,  in der Ausbildung und bei ihren Tagungen. Im Grundsatz finde ich solche Erweiterungen zwar nicht falsch, aber oft sind für mich die Kriterien für eine Auswahl solcher Beiträge nicht erkennbar. Die empirische Überprüfung hinsichtlich der Wirksamkeit scheint zumindest oftmals kein Kriterium zu sein. Die Überzeugung einzelner und die Orientierung an dem, was andere Bedeutende sagten, ist sinnvoll für einen Erfahrungsaustausch, aber nicht für Leitlinien praktischen Handelns mit hoher Verantwortung. Eng damit zusammen hängt ein zweiter Punkt. Bei dem eklektischen Zusammenfügen verschiedener Ansätze …

 

STEFFEN FLIEGEL:

… wobei du jetzt von Eklektizismus als einer Möglichkeit der Verbindung verschiedener Verfahren ausgehst …

 

DIETMAR SCHULTE:

… ergibt sich notwendigerweise die Frage, wie die Indikationsentscheidungen getroffen werden: welche Methoden oder Techniken sollte ein Therapeut zu welchem Zeitpunkt bei welchem Patienten bei welchem Problem zur Anwendung bringen? Werden die verschiedenen Ansätze ohne Indikationsregeln einfach nebeneinander gestellt, lässt man den einzelnen Therapeuten bei seiner individuellen Entscheidung, wann er was macht, allein. In diesem Punkt bin ich sehr skeptisch. Eigene Forschungen haben uns darin bestärkt, dass sehr viele solcher Entscheidungen – zwar in voller Überzeugung, das Richtige zu tun – nachweislich nach anderen Gesichtspunkten erfolgen, als dem, was im Moment für den Patienten bzw. für den Fortgang der Therapie am besten wäre. Wenn beispielsweise Therapeuten während einer Therapie ihr Vorgehen verändern, hängt das weniger vom, vielleicht mangelnden, Therapiefortschritt ab, sondern davon, wie sich Therapeut/Therapeutin selber in der Therapie fühlt. Etwas überspitzt formuliert: der Therapeut ist zufrieden und fühlt sich gut, aber nicht unbedingt der Patient. Die DGVT organisiert mit ihren Tagungen, ihrer Zeitschrift und ihren Publikationen einen Erfahrungsaustausch unter Praktikern, und dort soll es keine Beschränkung geben. Das ist nicht nur zu verstehen, es ist auch sinnvoll. Es sollte als Erfahrungsaustausch unter Kolleginnen und Kollegen dargestellt werden.

 

STEFFEN FLIEGEL:

Aber du erwartest noch etwas Anderes.

 

DIETMAR SCHULTE:

Genau. Zum Erfahrungsaustausch muss ein zweiter Teil hinzukommen, und der sollte nach meinem Eindruck noch weiter ausgebaut und gefördert werden: eine forschungsorientierte Fortbildung. In der Zielsetzung von Fort- und Weiterbildung sind wir uns sicher einig: die Förderung einer rigoros auf das Patientenwohl ausgerichtete Haltung, die darum weiß, dass subjektive Sicherheit des Therapeuten nicht objektive Wahrheit ist und daher dem Patienten nach Möglichkeit nur das Überprüfte, das wissenschaftlich Gesicherte anbietet. Das erwartet umgekehrt auch jeder von uns, wenn er zum Arzt gehen muss, und das sind auch wir unseren Patienten schuldig. Dies entspricht den Zielen der DGVT. Vielleicht könnte die DGVT allein und im Verbund mit anderen noch etwas mehr tun, damit wir auf dem Weg zu diesem Ziel weiter kommen. Wenn ich mir für die Zukunft der DGVT etwas wünschen dürfte: es wäre genau dies.

 

PETER GOTTWALD:

Mein Schlusswort geht über die Psychotherapie hinaus. Mir geht es eher um das Erbe der 68er Bewegung. Was ist vom damaligen Impuls noch da und wann und in welcher Form wird er wieder kommen, es geht um die Frage nach der Gesellschaft, nach der Lebensform. Als ich diesen ganzen Prozess durchlaufen bin, einschließlich meiner Zeit in der DGVT, war für mich der Weg plötzlich offen zu dem ganz alten Konzept von Kurt Lewin, nämlich zur Aktionsforschung. Ich habe dazu Einiges veröffentlicht und habe mich gefragt, welche Art von Problemen die Aktionsforschung lösen kann, wie sie für die Gemeinschaft in der Politik relevant werden könnte. Als ich nach Oldenburg kam, musste ich erleben, wie dieses Konzept langsam versandet ist. Aber es tritt heute in gewissen Aspekten wieder in Vordergrund. Es gibt Gruppen, die nennen das jetzt kooperatives Planen und machen daraus eigene Projekte. Die müsste man dann wieder zurück verweisen auf Kurt Lewin, dass der das schon immer gewollt hätte. Mich interessiert wirklich die Frage, wo es, sagen wir mal, Keime für so eine neue Art von wirklich gemeinschaftsorientierter Politik gibt, die nicht nur Machtspiel oder Interessensspiel ist. Auch wenn ich im Moment skeptisch bin, weiß ich, dass das irgendwann wieder kommen wird, entweder als Revolte oder als Revolutionsbewegung oder einfach wieder als neue Studentenbewegung. Noch ist nicht viel zu spüren von einem neuen Miteinander im Sinne von Gemeinde. Eine Frage, die Klaus Dörner immer wieder bewegt hat: Was bewegt einen dazu sich der Schwachen anzunehmen? Gehört noch zu den offenen Fragen.

 

Peter Gottwald, Steffen Fliegel und Dietmar Schulte

 

STEFFEN FLIEGEL:

Lieber Peter, lieber Dietmar, danke für eure Schlusssätze, und es scheint mir so, als würdet ihr Beide mit viel Sympathie für die Meinungen des Anderen auch den Spagat widerspiegeln, den die DGVT bisher ausgehalten und der sie lebendig gehalten hat.

Ich bin, besonders wieder nach diesem sehr angenehmen Gespräch, froh und dankbar, in meiner beruflichen Entwicklung so viel von euch gelernt zu haben.

Im Namen des Vorstands der DGVT und ihrer Mitglieder danke ich euch für euer großes Engagement, mit dem auch ihr der DGVT zum erfolgreichen Laufen verholfen habt.

 


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