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Bericht der Landesgruppe Baden-Württemberg (Rosa Beilage zur VPP 4/2011)


Landespsychotherapeutenkammer: Vertreterversammlung tagte

Eine zweitägige Vertreterversammlung der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg fand im Oktober statt. Unter den vielen Punkten möchte ich nur zwei Dinge herausgreifen: Die Entschädigungen für die gewählten Vertreter und den Vizepräsidenten wurden erhöht. In der ursprünglichen Vorlage des Haushaltsausschusses waren höhere Entschädigungen eingeplant gewesen als letztlich vereinbart wurden. Günter Ruggaber (DGVT-Liste „Kammer besser machen“) beantragte jeweils eine geringere Steigerung der einzelnen Entschädigungsposten. Zufrieden mit dem Ergebnis waren wir dennoch nicht ganz, da wir uns nicht mit allen Vorschlägen (die bereits Kompromisse waren) durchsetzen konnten. Die Höhe der Entschädigungen der Ehrenamtlichen sollte auch im Vergleich zu den anderen Bundesländern gesehen werden. Die DGVT veröffentlicht in regelmäßigen Abständen die Entschädigungs- und Reisekostenordnungen der Landespsychotherapeutenkammern, zuletzt in der Rosa Beilage 2/2011.

Der ausführliche Bericht des Vorstandes, der sich auch mit der Arbeit der BPtK beschäftigt, ist auf der Homepage der Kammer nachzulesen. Zu diesem Bericht gehören auch Informationen über den Jahresabschluss des Psychotherapeutenversorgungswerkes NRW. Bekanntermaßen haben sich die Baden-Württemberger dem Versorgungswerk in NRW angeschlossen, dem nun auch die OPK beigetreten ist. Auf zwei Zahlen aus dem Bericht möchte ich hinweisen: Der Garantiezins beträgt 3,5 %, für den inzwischen Vorsorge getroffen wurde (durch eine „Zinsunterdeckungsreserve“), die Verwaltungskosten konnten von 4,73 % auf 4,69 % gesenkt werden. Letzteres ist allerdings immer noch relativ hoch. Wer dort Mitglied ist, sollte sich über die Entwicklungen informieren und insbesondere den Verwaltungskostenanteil im Auge behalten.

Regionales Mitgliedertreffen

Ein regionales Mitgliedertreffen der DGVT-Landesgruppe fand am 14. Oktober unter dem Motto statt: „Stuttgart 21 – (sozial) psychologisch betrachtet“. Eingeladen wurde zu einer Führung über das Bahnhofsgelände mit anschließender Diskussion. Es kamen KollegInnen u.a. aus Ulm, Tübingen und Stuttgart, zusätzlich Angela Baer von der DGVT-Geschäftsstelle und eine Frau von der Mahnwache am Hauptbahnhof, die die Protestbewegung genau kennt. Die Gruppe von etwa zehn Personen zog zunächst bei strahlendem Sonnenschein über das Bahnhofsgelände und den angrenzenden Park. Erstaunlich war, dass von vielen Teilnehmern Geschichten über diese Orte erzählt wurden, es wurde auch deutlich, dass Erfahrungen geteilt werden. Bei dann schon kühler werdenden Temperaturen fand die Diskussion über sozialpsychologische Thesen direkt im Schlosspark statt.

Landessprecherin Renate Hannak-Zeltner stellte zunächst als „Auffälligkeitshypothesen“ ihre Beobachtungen zur Entwicklung der Bürgerbewegung gegen S21 vor, anschließend sozialpsychologische Interpretationen. In der Diskussion wurden weitere Gedanken eingebracht, die wesentliche Ergänzungen und Erweiterungen darstellten.

Hier zunächst die Auffälligkeitshypothesen:

  1. Kreativität und Schaffenskraft sind erstaunlich: Mit unglaublicher Energie werden Ideen entwickelt, langfristige und aufwändige Pläne umgesetzt, Plakate, Wandzeitungen und Flyer erarbeitet, Mahnwache und Infostände betrieben und Versammlungen und Demonstrationen und kulturelle Darbietungen organisiert.
  2. Wissenschaftliche Themen aus verschiedensten Bereichen wurden erarbeitet und am Beispiel S21 allgemein diskutiert: Eisenbahnwissenschaft, Geologie, Wasserwirtschaft, Architektur, Betriebswirtschaft, Verwaltungswissenschaft (Genehmigungsverfahren, Planfeststellung), Rechtswissenschaft, Theologie, Biologie, Philosophie, Bauwirtschaft  und Stadtentwicklung.
  3. Neue Medien und Kommunikationsstrukturen führten zu handlungsfähigen Organisationsformen.
  4. Eine Webcam führte zu Flügel-TV, Infoblätter zu neuen Wochen- und Monatszeitungen (nachzusehen unter www.flue-gel.tv, www.kontextwochenzeitung.de, www.21einundzwandzig.de)
  5. Lebensformen, die zuvor in Stuttgart nicht vorstellbar waren, sind Wirklichkeit (zumindest temporär): Bürgerversammlungen auf dem Marktplatz mit z.B. dem Ministerpräsidenten, Zeltbewohner im Schlossgarten, Gespräche mit anderen BürgerInnen einfach so…
  6. Die „Alten“ (z.B. gut situierte Akademiker, Rentner, pensionierte Beamte) fallen als neue Protestgruppen auf und investieren Zeit und Geld.

Welche Erklärungen finden sich?

  • Gemeindepsychologische Ansätze: Diskutiert wurde der Gesundheitsbegriff von Heiner Keupp, der eine selbstbestimmte Lebensweise beinhaltet, wie in einem Vortrag bei der LPK-BW in allgemeiner Form dargelegt wurde (nachzulesen auf der Homepage www.lpk-bw.de, Fachportal). Genannt wurde dort auch das salutogenetische Modell von Antonovsky (1979, 185). In diesem Modell hat z.B. die Art der Lebenserfahrung und das Kohärenzgefühl als Gefühl des Vertrauens in die eigene Sinnstiftung über erfolgreiches/nicht erfolgreiches „Spannungsmanagement“ Einfluss auf das Gesundheits- und Krankheits-Kontinuum. Kann das Engagement für einen sinnvollen Kopfbahnhof damit als Teil der psychischen Gesundheitsförderung angesehen werden? Oder um es mit Heiner Keupp auszudrücken: Selbstwirksamkeitserfahrungen entstehen durch Engagement.
  • Was ist mit alterspsychologischen Ansätzen? Wie setzen sich ältere Menschen mit verfügbarer Zeit und ausreichenden Ressourcen für die Gemeinschaft ein? Gibt es Alterskohorten, z.B. früher Studentenbewegung, heute Kopfbahnhof-Freund? Die Untersuchungen des Göttinger Instituts für Demokratieforschung liefern aktuelle Daten (www.demokratie-goettingen.de, Neue Studie zu Protesten). Befragt wurden die Teilnehmer der Protestbewegung selbst. Knapp zusammengefasst sind die Befragten eher überdurchschnittlich gebildet (70 % haben Abitur, davon über 40 % einen Hochschulabschluss. Für Protestierende sind sie eher schon etwas älter, 75 % sind über 35 Jahre alt, 20 % sogar über 55 Jahr alt. Männer und Frauen sind fast gleich verteilt, mit leichtem Übergewicht der Männer. Die meisten haben bereits Erfahrungen mit anderen Protestformen oder Demonstrationen gemacht, 20 % der Befragten haben häufig an politischen Aktionen teilgenommen. Gerade diese Gruppe ist relativ alt. Der Wunsch nach mehr demokratischer Beteiligung war durchgängige Einstellung. Als Motive konnten keine wirtschaftlichen/finanziel- len Interessen ausfindig gemacht werden, sondern es hat „neben konkreten projektbezogenen Gründen insbesondere die Intransparenz der Entscheidungsprozesse die Teilnahme an den Protesten motiviert.“
  • Eine Beteiligung von Schülern und jungen Erwachsenen erfolgt über ihre speziellen Themen (verwahrloste Schulen, neue Medien).
  • Und nicht zu vergessen ist der Unterhaltungsfaktor: Es gibt eine Art Marktplatz mit Austauschmöglichkeiten, Treffpunkte, Anregung und kulturelle Darbietungen.
  • Alltag ist durch freie Verfügungszeiten gekennzeichnet.

Weitere Punkte wurden in Verlauf des Gespräches eingebracht und entwickelt: Interessant und nachvollziehbar ist der Gedanke, dass die Schwaben noch immer von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt würden und dadurch leicht von Größenversprechen geködert werden könnten. Oder welche andere Erklärung lässt sich dafür finden, dass nur Stuttgart 21 von allen 21-Projekten der Bahn (Frankfurt, München und Mannheim sind vom Tisch) übrig blieb? Oder dass die Protestbewegung gegen S21 auch als Geschichte von Missachtungen und Kränkungen verstanden werden kann, hier wurde besonders auf die 67.000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid verwiesen, dessen formaljuristische Ablehnung einen Kristallisationspunkt bildete. Wie sind die diversen Aktionen (beispielhaft besprochen das „Bäumepflanzen“ im eingezäunten Baugrund) einzelner Aktivisten zu beurteilen? Wo endet das Recht auf politischen Widerstand, wo verläuft die Grenze zum Gesetzeswidrigen? Dies war sicher ein Punkt, der noch länger ergründet werden müsste.

Auf die politischen Auswirkungen wurde auch verwiesen: Wo überall wird die direkte Bürgerbeteiligung plötzlich gefragt sein? Das lässt hoffen, auf bessere Projekte und auf bessere Gesundheit (siehe oben).

Renate Hannak-Zeltner
Landessprecherin Baden-Württemberg


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