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Kommentar zum neuen AOK-Selektivvertrag in Baden-Württemberg


Der neue Selektivvertrag für die ambulante psychiatrische, neurologische und psychotherapeutische Versorgung in Baden-Württemberg: PNP-Facharztvertrag nach § 73c SGB V zwischen AOK, Bosch BKK und Medi-Verbund, Freie Liste, DPtV und BVDN-BW ist unterzeichnet. Im Folgenden wird der Vertrag in seiner Bedeutung für PsychotherapeutInnen erläutert und diskutiert.

Vertrag und Vertragsbeginn

Am 10. Oktober 2011 wurde in Baden-Württemberg der Vertrag zur Versorgung in den Fachgebieten der Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie nach § 73 c SGB V zwischen der AOK und der Bosch BKK auf der einen sowie den beteiligten Vertragspartnern Medi-Verbund, Freie Liste, DPtV und BVDN-BW auf der anderen Seite unterzeichnet.

Seit diesem Zeitpunkt können sich interessierte Psychotherapeuten und Fachärzte „in den Vertrag „einschreiben“. Der Medi-Verbund als Managementgesellschaft übernimmt die entsprechende Organisation und später die Abrechnung der Leistungen.

Der Vertrag ist auf der Internetseite des Medi-Verbundes und der AOK (http://www. aok-gesundheitspartner.de/ bw/ arztundpraxis/meldungen/index_06692.html) einsehbar.

Sollten sich genügend KollegInnen einschreiben - bei den Psychotherapeuten wurde eine ausreichende Zahl von 450 Teilnehmern in BW als Bedingung für den Vertrag festgelegt -, können innerhalb des Vertrages Leistungen ab dem 1. Januar 2012 erbracht werden.

Zu den Grundzügen des Vertrages

Patienten kommen auf Zuweisung durch den Haus- oder Facharzt, durch die Kasse oder auch direkt zum Psychotherapeuten. Sie müssen, damit sie innerhalb des Vertrages behandelt werden können (ansonsten ist eine psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der KV-Versorgung wie üblich möglich), im Hausarztvertrag eingeschrieben sein und bereit sein, sich im vorliegenden Facharztvertrag einzuschreiben (oder bereits eingeschrieben sein). Mit der Einschreibung werden Patienten dann außerhalb des KV-Systems behandelt und haben auch nur noch Zugang zu entsprechend in den Vertrag eingeschriebenen Behandlern.

Psychotherapeuten können, wenn sie sich als Behandler in den Vertrag eingeschrieben haben, weiterhin parallel im KV-System diejenigen Patienten behandeln, die sich nicht in den Vertrag eingeschrieben haben.

Für psychotherapeutische Behandlungen innerhalb des Vertrags entfällt eine Antrags- oder Gutachterpflicht ebenso wie der Konsiliarbericht. Es besteht aber die Verpflichtung zu einer somatischen Abklärung, zudem müssen in Form eines strukturierten Berichtes Hausärzte und evtl. vorbehandelnde Psychiater informiert werden.

Psychotherapeuten vergeben im Erstkontakt oder in den Folgekontakten eine gesicherte Diagnose, die dann darüber bestimmt, welche Leistungen erbracht werden können und wie sie vergütet werden.

Im Rahmen des Vertrages wird eine größere Vielfalt an therapeutischen Verfahren und Methoden finanziert, neben der Richtlinienpsychotherapie ist auch die systemische Therapie abrechenbar, zudem können als Methoden und Techniken Entspannungstechniken, Hypnose, Hypnotherapie, EMDR, Interpersonelle Therapie und verhaltensmedizinische Behandlungen (z.B. Biofeedback) angewandt werden. Der Einsatz dieser Methoden ist allerdings jeweils diagnoseabhängig.

Erstmals sind bestimmte therapeutische Leistungen an Diagnosen gekoppelt, nicht alle Leistungen sind bei allen Diagnosen möglich. Unspezifische ICD-Diagnosen sind von der Behandlung ganz ausgeschlossen. Für die neu eingeführten Verfahren und Methoden haben sich die Anwendungsbereiche an den vom wissenschaftlichen Beirat empfohlenen Anwendungsbereichen orientiert.

Unterschieden wird in der Behandlung zwischen Akutversorgung, Erstversorgung, Weiterbehandlung und niederfrequenter Behandlung, die jeweils diagnoseabhängig geleistet werden können und unterschiedlich, aber mit jeweils festen Euro-Beträgen vergütet werden.

In der Erwachsenpsychotherapie wird die Akutversorgung im Umfang von bis zu 10 Stunden diagnoseabhängig mit 105 € vergütet. Auch die Erstversorgung mit maximal 20 Stunden, wiederum nur bei bestimmten Diagnosen möglich, wird mit 90 € besser vergütet als eine Therapiestunde in der Richtlinienpsychotherapie der KV. Eine Weiterbehandlung ist im Umfang von bis zu 30 Sitzungen möglich, so dass insgesamt 60 Stunden Psychotherapie erbracht werden können. Danach kann unbegrenzt eine niederfrequente Behandlung mit maximal 2 Terminen im Monat angeboten werden. Weiterbehandlungen und niederfrequente Behandlungen werden mit 82 € wie die genehmigungspflichtigen Leistungen im KV-System honoriert. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten haben ein etwas höheres Stundenkontingent zur Verfügung.

Hochfrequente analytische Psychotherapie mit bis zu 5 Sitzungen pro Woche ist bis maximal 300 Stunden möglich, ist aber auf Persönlichkeitsstörungen begrenzt und weiter antrags- und gutachterpflichtig.

Gruppenbehandlungen sind diagnoseabhängig parallel zur Einzelbehandlung möglich und können durch den Behandler selbst oder im Auftrag durch andere Behandler erbracht werden. Patienten können in kleinen Gruppen mit max. 4 Patienten für max. 20 Stunden behandelt werden, vergütet werden die Sitzungen pro Patient mit 50 € pro 100 Minuten. Werden Patienten in großen Gruppen mit maximal 9 Patienten behandelt, können ebenfalls 20 Stunden mit gleicher Vergütung geleistet werden. Verbliebene Stunden aus der Einzeltherapie können als Gruppenstunden übernommen werden.

Zusätzlich sind pro Quartal und Patient Vergütungen zwischen 5 und 50 € für Hilfsplankonferenzen, Kooperationszuschläge und Krankengeldzuschläge vorgesehen. KJP erhalten wegen des erhöhten Aufwandes pro Patient und Quartal einen Zuschlag von 25 €.

Psychotherapeuten sind in ihren Leistungen nicht mengenbegrenzt, sie können zudem über den regionalen Zulassungsausschuss von KV und Krankenkassen maximal 3 Assistenten einstellen, die innerhalb des Vertrages Leistungen erbringen dürfen.

Diagnoseabhängige Einschränkungen sind den Vertragsunterlagen zu entnehmen, Beschränkungen gibt es vor allem hinsichtlich unspezifischer Diagnosen und leichtgradiger Störungen, so kann z.B. eine Psychotherapie bei der Diagnosevergabe einer leichten depressiven Episode oder einer nicht näher bezeichneten affektiven Störung nicht erbracht werden. Die am besten honorierten Akutbehandlungen sind nicht möglich bei Zwängen, Somatisierungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Dysthmien, weil hier nicht von einer akuten Erkrankung ausgegangen wird.

Psychotherapeuten, die in den Vertrag eingeschrieben sind, verpflichten sich, Patienten innerhalb von 14 Tagen, in dringenden Fällen innerhalb von 3 Tagen zumindest einen kurzen Ersttermin zu gewähren. Zudem müssen sie mindestens eine Abendsprechstunden bis 20.00 Uhr vorhalten, an allen Werktagen Termine anbieten können und eine bestimmte Mindestmenge an Terminen im Quartal (55 Sitzungen) für die Akutversorgung leisten, um die höchste Vergütungsstufe zu erhalten. Zudem müssen sie einen in den Vertrag eingeschriebenen Vertreter benennen, der in besonderen Notfällen Ansprechpartner für die Patienten sein kann, wenn der Therapeut selbst in Urlaub oder länger krank ist. Psychotherapeuten verpflichten sich innerhalb des Vertrages auch, innerhalb von 14 Tagen nach Behandlungsbeginn einen strukturierten Bericht an den Hausarzt zu verfassen, damit dieser über alle Behandlungen informiert ist. 

Zudem fallen zusätzliche einmalige Kosten von 300 € für die Einschreibung und spezielle Anpassung der Software sowie laufende monatliche Kosten für im Rahmen des Vertrages zusätzlich erforderliche Hard- und Software (Konnektor und Prüfmodul) an. Die Softwarehäuser nehmen die entsprechenden Programmanpassungen derzeit vor, die monatlich zusätzlichen Kosten stehen noch nicht fest. Die Abrechnung der Leistungen erfolgt über Medi, die Verwaltungsgebühren (für Nichtmitglieder von Medi) liegen mit 3.5% über denen im KV-System.

Grundlegende Einordnung des Vertrages

Mit diesem Vertrag wird für die psychotherapeutische Versorgung erstmals eine umfassende versorgungspolitische Alternative zur kollektivvertraglichen Regelversorgung im KV-System geschaffen.

Diese ist in jüngerer Zeit in Zusammenhang mit dem Entwurf zum GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) intensiv diskutiert worden. Weil in der kollektivvertraglichen Regelversorgung seit Jahren faktisch eine Unterversorgung mit langen Wartezeiten für eine Psychotherapie stattfindet, hat der Gesetzentwurf mit der Schaffung von Möglichkeiten eines Aufkaufs von psychotherapeutischen Praxen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen in nach den bisherigen Bedarfsplanungszahlen überversorgten Gebieten heftigsten Protest bei den Psychotherapieverbänden ausgelöst. Die Bedarfsplanungszahlen der Kassenärztlichen Vereinigungen sind hinsichtlich der Psychotherapie veraltet und spiegeln nicht den in den letzten Jahren drastisch gestiegenen Bedarf an solchen Leistungen wieder. Alle Erhebungen zu Wartezeiten, zu Fehlzeiten und Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen deuten auf einen entsprechenden gestiegenen Bedarf hin.

Mehr Psychotherapeuten aber bedeuten mehr abgerechnete Leistungen, die innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen entweder den anderen Arztgruppen fehlen würden, von den Krankenkassen zusätzlich finanziert werden müssten oder bei einer Leistungsausweitung ohne zusätzliches Honorar das Einkommen der niedergelassenen Psychotherapeuten schmälern würden. Letztere hinken der Einkommensentwicklung der Fachärzten ohnehin seit Jahren hinterher, die Kassenärztlichen Vereinigungen kommen dem gesetzlichen Gebot zur Honorarverteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf die Psychotherapie, das den Psychotherapeuten ein Einkommen einer vergleichbaren Arztgruppe (Facharzt) zusichert, bis heute nicht nach.

Kassenseitig wurde in der Vergangenheit ja häufiger gefordert, dass Psychotherapeuten ihre Sitze besser auslasten sollten, um die Versorgung zu verbessern. Einmal abgesehen davon, dass dieser Vorschlag im jetzigen KV-System ohne kassenseitige Zusicherung eines zusätzlichen Budgets für Psychotherapie zu Lasten der Einkommen der anderen Arztgruppen oder auch der Psychotherapeuten selbst ginge, und deshalb auf wenig Gegenliebe stößt, ist auch fraglich, ob die Forderung nach höherer Auslastung der Praxen ohne Einbußen der Versorgungsqualität überhaupt praktikabel ist. Psychotherapie stellt hohe Anforderungen an konzentrativer, mentaler und emotionaler Präsenz, die für einen großen Teil der Therapeuten auf Dauer nicht ohne Folgen über die jeweils individuelle Belastungsgrenze hinaus beansprucht werden kann.

In einer solchen Lage hatte keiner der Beteiligten bisher ein Interesse an einer Ausweitung des Angebotes an psychotherapeutischen Leistungen, zu Lasten der Patienten, die auf einen Behandlungsplatz oft Monate warten müssen.

In diesem Kontext bringt der Vertrag Bewegung in eine seit Jahren festgefahrene Versorgungssituation.

Von den beteiligten Vertragspartnern wird der Vertrag als innovativer Meilenstein in der psychotherapeutischen, psychiatrischen und neurologischen Versorgung vorgestellt, der zentrale Defizite der kollektivvertraglichen Regelversorgung beseitigen helfe. In diesem Kontext wird im Hinblick auf die psychotherapeutische Versorgung auf die langen Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz, die fehlende Koordination der Versorgung zwischen den Behandlern, die unzureichende Vergütung der Psychotherapie, die fehlenden Anreize für eine schnelle und bedarfsgerechte Versorgung, die fehlenden Anreize für gruppenpsychotherapeutische Angebote und einen hohen Verwaltungs- und Zeitaufwand insbesondere für die Berichtspflicht bei Langzeitbehandlungen verwiesen.

Stellungnahme zum Vertrag aus der
Perspektive von teilnahmeinteressierten Psychotherapeuten

Der Vertrag bietet für Psychotherapeuten bessere Einkommensmöglichkeiten mit einem voraussichtlich geringeren bürokratischen Aufwand und auch weniger Beschränkungen (z.B. auch hinsichtlich der möglichen therapeutischen Methoden und Techniken, wie z.B. EMDR, Hypnotherapie, IPT, Biofeedback, EMG).

Wichtig ist auch, dass Psychotherapeutische Praxen in ihrer Tätigkeit anders als im KV-System nicht mengenbegrenzt sind, sie können ihre Leistungen also außerhalb von Budgetbeschränkungen z.B. auch in Form von Anstellungen ausweiten. Zudem erhalten Psychotherapeuten garantierte Festbeträge für ihre Leistungen, die vor Quotierungen und Konvergenzregelungen geschützt sind.

Im Gegenzug bringt der Vertrag aber auch Bedingungen und Neuerungen für die teilnehmenden Psychotherapeuten, die Beschränkungen gegenüber der jetzigen Versorgungspraxis bedeuten. Wichtigste Punkte sind hier zunächst die Verpflichtung zur Bereitstellung eines schnellen Ersttermins sowie einer Abendsprechstunde.

Dafür wird die schnelle Erstversorgung deutlich besser vergütet gegenüber der Honorierung im KV-System und auch gegenüber der Weiterbehandlung und niederfrequenten Langzeitbehandlung. Gleichzeitig entfällt auch die Berichtspflicht (Ausnahme langdauernde psychoanalytische Behandlungen), niederfrequente Langzeitbehandlungen mit maximal 2 Sitzungen pro Monat sind unbegrenzt möglich.

Damit werden einerseits Anreize für eine schnellere Aufnahme und kürzere Behandlungen vor allem von schwerer beeinträchtigten Patienten geschaffen, andererseits werden Benachteiligungen speziell für Verhaltenstherapeuten beseitigt, die hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Stundenkontingente und der Frequenz von notwendigen Begutachtungen gegenüber den tiefenpsychologisch und vor allem psychoanalytisch tätigen Kollegen immer benachteiligt waren (vgl. Bürger, 2011).

Die Voraussetzungen und Vergütungen für Gruppenbehandlungen werden deutlich verbessert, sie können in größerem Umfang und zusätzlich zur Einzelbehandlung erbracht werden und werden besser honoriert, so dass auch hier ein Anreiz geschaffen wird, entsprechende Leistungen anzubieten.

Eine Teilnahme am Vertrag lohnt vor allem für Psychotherapeuten, die ihre Leistungen außerhalb des KV-Systems ausweiten möchten, etwa weil sie an der Kapazitätsobergrenze arbeiten oder weil sie Angestellte haben oder einstellen möchten.

Interessant ist der Vertrag auch für solche Psychotherapeuten, die dem Zwang zur Berichtspflicht entgehen wollen.

Eine Teilnahme am Vertrag lohnt nur für solche Psychotherapeuten, die einen verstärkten Fokus auf Kurzzeitpsychotherapien oder auf Gruppenpsychotherapie legen wollen, nur hier sind die Einkommensmöglichkeiten besser gegenüber dem KV-System. 

Voraussetzung ist allerdings, dass genügend AOK-Patienten mit Hausarztvertrag und Bereitschaft zur Einschreibung in diesen Facharztvertrag im Einzugsgebiet vorhanden sind. Da die höhere Vergütung für die akute Versorgung auch an bestimmte Diagnosen gekoppelt ist und im Rahmen der Akutversorgung auch Behandlungsumfänge von insgesamt 55 Stunden im Quartal geleistet werden müssen, um diese zu erhalten, müssen entsprechend ausreichend viele Patienten diese Akutbehandlung in der Praxis nachfragen. Diese Bedarfszahlen sind vermutlich gegenwärtig noch schwer abzuschätzen und insofern unsicher, weil noch nicht klar ist, wie viele Versicherte bereit sind, sich in diesen Vertrag einzuschreiben und weil für die einzelne Praxis auch unklar ist, wie viele andere Praxen sich in den Vertrag einschreiben. Derzeit sind etwa ein Drittel der AOK-Versicherten in BW in den Hausarztvertrag eingeschrieben, dies entspricht etwa einer Million Versicherten.

Weitere Voraussetzung ist die Verfügbarkeit über entsprechende Räumlichkeiten und Infrastruktur im Falle von Anstellungen oder einem stärkerem Fokus auf Gruppenpsychotherapien. Da der Vertrag zunächst eine Laufzeit von 5 Jahren hat und es bei Selektivverträgen keine Garantie gibt, dass diese anschließend fortgeführt werden, müssen entsprechende Investitionen in erweiterte Räumlichkeiten im Hinblick auf Kündigungsmöglichkeiten bzw. anderweitige Nutzungsmöglichkeiten bei einem evtl. Wegfall des Vertrages überdacht werden.

Zu berücksichtigen ist auch, dass eine Leistungsverschiebung in Richtung auf diesen Selektivvertrag, sollte er nicht durch angestellte Kolleginnen oder eine Leistungsausweitung erfolgen, den Umfang an Leistungen im KV-System verringert. Dies ist zu berücksichtigen bei geplanten Praxisverkäufen oder auch bei späteren Einstellungen von KollegInnen, die im KV-System arbeiten sollen, da hier die entsprechenden Kapazitätsgrenzen sinken (üblicherweise auf der Basis der letzten vier Quartale berechnet).

Nicht zuletzt wird die Positionierung von Psychotherapeuten zu einem solchen Vertrag auch von der generellen Einstellung zu Selektivverträgen abhängen. Wie bereits früher ausgeführt (Bürger, 2009), sind Selektivverträge nur sinnvoll, wenn das konkurrierende KV-System erhalten bleibt und man nicht in seinen Praxisstrukturen ausschließlich von solchen Verträgen abhängig ist. Da zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch kein Bereinigungsvertrag vorliegt, ist sehr schwer zu beurteilen, in welchem Umfang dieser Vertrag das kassenärztliche Versorgungssystem tangiert oder beschneidet. 

Bedeutung des Vertrages für Patienten von AOK Baden-Württemberg und

BKK Bosch

Für Patienten hat die Einschreibung in den Vertrag zunächst den Vorteil des Wegfalls der Quartalsgebühr und eines schnellen Zuganges zur Psychotherapie.

Gleichzeitig erklären sie sich damit einverstanden, nur noch durch Ärzte und Psychotherapeuten behandelt zu werden, die dem Vertrag beigetreten sind. Damit ist das Recht der freien Arztwahl eingeschränkt. Inwieweit dies relevant wird, hängt vor allem von der Zahl der in der Region eingeschriebenen Vertragsbehandler ab. Sollte es z.B. in der Beziehung zum Behandler zu Störungen und einem Abbruch der Behandlung kommen, könnten Probleme auftreten, einen anderen Behandler in erreichbarer Nähe zu finden, wenn nicht ausreichend Praxen in erreichbarer Nähe in den Vertrag eingeschrieben sind.

Allerdings muss berücksichtigt werden, dass auch im gegenwärtigen KV-System für Patienten die Möglichkeiten zur uneingeschränkten Nutzung des Rechtes auf freie Psychotherapeutenwahl de facto eingeschränkt sind. Aufgrund der langen Wartezeiten und evtl. schon in Anspruch genommener genehmigungspflichtiger Stunden, können z.T. erhebliche Probleme entstehen, Zugang zu einem anderen Behandler zu erhalten. Patienten, die monatelang auf einen Behandlungsplatz gewartet haben, werden sich einen Behandlerwechsel reiflich überlegen, auch wenn sie Schwierigkeiten im Kontakt mit dem Psychotherapeuten erleben oder mit der Behandlung unzufrieden sind.

Bedeutung des Vertrages für das
psychotherapeutische Versorgungssystem insgesamt

Die Frage, ob der Vertrag mit seinen Bedingungen zu einer Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung beitragen kann, ist gegenwärtig schwer vorherzusagen. In jedem Fall wird er in der Versorgung ganz andere und neue Anreize im Vergleich zum jetzigen System. 

Zunächst sichern sich die AOK und BKK Bosch durch eine bessere Vergütung vor allem für ihre schwerer erkrankten Versicherten einen schnelleren Zugang zur Psychotherapie, der vermutlich auch Kosten für stationäre und medikamentöse oder auch andere Behandlungen sparen helfen kann. Gleichzeitig setzen sie deutliche Anreize für kürzere Behandlungen, indem diese besser vergütet werden. Werden Versicherte kürzer behandelt, können insgesamt mehr Patienten versorgt werden. Auch eine Förderung der Gruppentherapie kann zu einer Steigerung der Zahl an behandelten Patienten beitragen.

Im Rahmen des Vertrages findet daher vermutlich gegenüber dem KV-System eine Verschiebung von Leistungen zugunsten Kurzzeittherapien und Gruppenpsychotherapien sowie wegen des Wegfalls der Berichtspflicht zugunsten niederfrequenter Langzeittherapien statt. Vermutlich wird wegen der Anreize für eine Anstellung auch eine Ausweitung der Zahl der Psychotherapeuten insgesamt bzw. in Richtung größerer Praxen mit Anstellungen erfolgen.

Da sich für die psychotherapeutische Versorgung in den Vertrag nicht nur ausschließlich psychotherapeutisch Tätige einschreiben können, sondern alle Haus- und Fachärzte mit Abrechnungsgenehmigung für Psychotherapie, und die Vergütung hier deutlich attraktiver gegenüber dem KV-System ist, ist damit zu rechnen, dass es im Rahmen des Vertrages zu einer entsprechenden Verschiebung kommt. Welche Auswirkungen dies auf die KV-Versorgung insbesondere in solchen Gebieten mit hausärztlicher, psychiatrischer oder neurologischer Unterversorgung hat, weil die Ärzte dann im KV-System eben entsprechende Leistungen weniger anbieten können, bleibt abzuwarten.

Wird die Versorgung von Patienten im Rahmen des Vertrages nicht alleine über eine zusätzliche Anstellung von Mitarbeitern verbreitert, wird die bevorzugte Aufnahme von AOK- und BKK Bosch-Versicherten vermutlich zu Lasten der Versicherten von anderen Kassen erfolgen. Es werden in einem solchen Fall Behandlungskapazitäten gebunden, die dann für andere Kassen nicht mehr zur Verfügung stehen. Dann dürfte auch ein starker Druck auf die anderen gesetzlichen Kassen wachsen, ähnliche Bedingungen anzubieten, wollen diese nicht für ihre Versicherten noch längere Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz und damit möglicherweise höhere Kosten für Krankengeldzahlungen, stationäre und medikamentöse Behandlungen sowie Kosten für Arbeitsunfähigkeitszeiten in Kauf nehmen. Steigen auch andere Kassen in ähnliche Modelle ein, findet in der gesamtpsychotherapeutischen Versorgung eine Verschiebung zugunsten von Kurzzeittherapien, Gruppenpsychotherapien sowie niederfrequenten Langzeittherapien statt. Würden alle oder auch nur mehrere große Kassen gleiche oder ähnliche Bedingungen anbieten, ist aber zu bezweifeln, ob alleine durch eine solche Verschiebung ausreichende Behandlungskapazitäten entstehen würden, um die geforderten kurzen Wartezeiten für alle Versicherten zu gewährleisten.

Abzuwarten bleibt auch, welche Erfahrungen die im Selektivvertrag beteiligten Kassen hinsichtlich der Qualität der Versorgung z.B. hinsichtlich Rückfällen oder Wiederholungsbehandlungen und der Patientenbeurteilungen sowie der Kostenentwicklungen machen. Das Morbiditätsrisiko liegt im Falle des hier vorgestellten Vertrags bei der Kasse, da alle psychotherapeutischen Leistungen ohne Deckelung vergütet werden. Von daher werden vermutlich die Kosten für psychotherapeutische Behandlungen steigen. Denkbar ist, dass die Kassen damit rechnen, dass diese Leistungsausweitung z.T. über verkürzte Behandlungszeiten und ein Mehr an Gruppentherapie, z.T. über Einsparungen in anderen Leistungsbereichen (Krankengeldzahlungen, stationäre und medikamentöse Behandlungen, Vermeidung von Doppeluntersuchungen...) aufgefangen werden kann.

Hierzu werden im Verlauf des Vertrages, der mit einer Laufzeit von zunächst mind. 5 Jahren konzipiert ist, sicher Erfahrungen gewonnen werden. Letztlich wird auch davon abhängen, ob ein solcher Vertrag langfristig Bestand hat.

Welche Folgen der Vertrag hinsichtlich des Einstiegs in eine Koppelung zwischen Diagnosen und möglichen Leistungen hat, muss ebenfalls abgewartet werden. Diagnoseabhängige Beschränkungen können in den Fällen problematisch werden, in denen bestimmte Störungsbilder nur in unspezifischen Diagnosegruppen einzuordnen sind und das ICD-System entsprechende Schwächen aufweist. In diesen Fällen darf mit dieser Diagnose keine Leistung abgerechnet werden. Besonders gravierend ist dies im Fall der hochfrequenten Psychoanalyse, die lediglich bei Persönlichkeitsstörungen abgerechnet werden kann.

Ausblick

Insgesamt sind mit diesem Vertrag eine Reihe von gegenüber dem KV-System ganz neuartigen Bedingungen für die psychotherapeutische Versorgung verbunden. Hier sind vor allem Versorgungsverpflichtungen hinsichtlich Wartezeiten und Präsenz, Kooperation mit anderen Behandlern, Anreizbedingungen für kürzere und niederfrequentere Behandlungen und mehr Gruppenpsychotherapie, Anreize für Anstellungen und Vergrößerungen von Praxen, die Abkehr von einer Kontrolle des Leistungsumfanges durch Begutachtungen, der Einstieg in diagnoseabhängige Leistungsbegrenzungen, aber auch die Abkehr von verfahrensspezifischen Besonderheiten und eine Ausweitung an therapeutischer Vielfalt im Sinne einer allgemeinen Psychotherapie zu nennen.

Welche Folgen diese Steuerungswirkungen durch den Vertrag im Hinblick auf die psychotherapeutische Versorgung haben, ist derzeit schwer abzusehen. Sie sind jedenfalls deutlich verschieden von den Steuerungswirkungen des jetzigen Systems, das mit z.B. mit der spezifischen Ausgestaltung der Genehmigungsbedingungen und der Antrags- und Berichtspflicht auch eine spezifische Steuerung der Versorgung mit sich bringt (z.B. Ausschöpfung einmal beantragter Stunden, fehlende Anreize für schnelle Aufnahmen von Patienten).

Eine globale Beurteilung des Vertrages ist angesichts der Vorteile und auch Risiken, die mit dem Vertrag verbunden sein können, schwierig und wird wohl sehr auch von individuellen Bedingungen und Positionen abhängen.

In jedem Fall kommt mit dem Vertrag Bewegung in eine seit vielen Jahren hinsichtlich der Psychotherapie und ihrer Versorgungsbedingungen festgefahrene Situation. Man darf gespannt sein, welche Erfahrungen mit einem solchen Vertrag gemacht werden.

Dr. Wolfgang Bürger

Literatur

Bürger, W. (2011). Vorschläge zur Reformierung der Bewilligungspraxis psychotherapeutischer Leistungen und des Gutachterverfahrens. In: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 43 (3), Suppl. 3 [Rosa Beilage], 27-32

Bürger, W. (2009) PsychotherapeutInnen (PP und KJP) in den neuen Versorgungsformen (MVZ, IV, DMP): Eine Analyse der Situation, Perspektiven und Handlungsoptionen – Expertise im Auftrag der DGVT. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, (1) 41 (1), 176-194

Der Autor ist Psychologischer Psychotherapeut mit eigener Praxis in Karlsruhe, Mitglied im Beratenden Fachausschuss der KV Baden-Württemberg sowie Mitglied im Ausschuss Ambulante Versorgung der Psychotherapeutenkammer Baden-Württemberg.

 


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