Alles dreht sich ums Geld sowie um Verantwortungs- und Haftungsfragen
Frühjahrsdiskussionsrunde bei der Tagung „KBV kontrovers“
Das Thema Übertragung von Heilkunde an Nicht-Ärzte stand bei der Tagung ‚KBV kontrovers‘ im Mittelpunkt - wie bei vielen Veranstaltungen derzeit. Nach dem Beschluss der Richtlinie über die Festlegung ärztlicher Tätigkeiten zur Übertragung auf Berufsangehörige der Alten- und Krankenpflege zu selbstständigen Ausübung von Heilkunde im Rahmen von Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3 c SGB V des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 20. Oktober 2011, wird um die Vorherrschaft bei diesem Thema gerungen. Nicht klar zu erkennen ist in dieser Richtlinie, ob von Substitution oder Delegation von Aufgaben gesprochen wird. Unter Delegation wird die Tätigkeit nach Anweisung eines Arztes verstanden. Unter Substitution fasst man die selbstständige Ausübung der Heilkunde durch Pflegekräfte. In der Richtlinie wird nur der Ausdruck der „Übertragung der Heilkunde“ verwendet. Jeder verstehe unter dem Begriff Substitution und Delegation etwas anderes, meinte KBV-Chef Andreas Köhler bei der Veranstaltung. Als Beispiel fragte er, was es sei, wenn die Medizinische Fachangestellte (MFA) ein Rezept ausstelle.
Für Köhler steht fest, dass wir in Zukunft nicht ohne die Entlastung der Ärzte die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung sicherstellen können. Eine Versorgung der alten Prägung werde es bald so nicht mehr geben können, angesichts unterversorgter Gebiete und des demografischen Wandels, der die Zusammenarbeit verschiedener Berufe erfordere. Dazu würden Alten- und Krankenpfleger mit herangezogen werden müsse, sagte Köhler. Aber auch die nicht in der Richtlinie vorgesehen MFA sollten seiner Ansicht nach in die Versorgung mit einbezogen werden, diese Berufsgruppe sei prädestiniert für die Versorgung der Patienten.
Die Frage sei also nicht ob, sondern wie die Übertragung erfolgen könne. Dabei komme es darauf an, wie die nötige Qualifikation gesichert werden könne. Für Köhler besteht ein Problem in der immer stärkeren Fragmentierung der Versorgung, wenn immer mehr Professionen daran beteiligt würden. Substitution könne eben nicht das Mittel der Wahl sein, weil nur eine Person durch eine andre ausgetauscht werde. Einer müsse die Verantwortung tragen. Das könne nach seiner Meinung nur der Arzt sein. In § 28 SGB V ist festgeschrieben, dass bis zum 28. Juni 2012 die Partner des Bundesmantelvertrages beispielhaft festlegen müssen, bei welchen Leistungen Personen ärztliche Leistungen erbringen können und welche Bedingungen an die Erbringung zu stellen sind.
Köhler gab zu bedenken, dass die Pflegekräfte, die für diese Leistungen herangezogen würden, für ihre bisher übliche Arbeit fehlten. Angesichts der Nachwuchsprobleme, auch im Bereich Pflege, würde dies zu einem Problem. „Delegation in der Praxis findet seit 50 Jahren statt, in der Verantwortung des Arztes und unter seiner Verantwortung ist es im Bundesmantelvertrag geregelt“, erinnerte Köhler an die jetzigen Gegebenheiten. Neu geregelt werden müsse, wenn die MFA oder Pfleger in der Abwesenheit des Arztes, außerhalb der Praxis tätig werde - dafür würden neue Regelungen benötigt. Es stelle sich die Frage, wann die Delegation in Substitution übergehe und an welcher Stelle die Verantwortung für die Handlung einer nichtärztlichen Profession übergehe. Auch die Haftungsfragen seien bisher nicht geklärt.
Über die rechtlichen Bedingungen habe man genug diskutiert, meinte Andrea Lemke, Pflegedirektorin am Jüdischen Krankenhaus in Berlin und Vorstands-mitglied des Bundesverbandes Pflegemanagement sowie Mitglied im Präsidium Deutscher Pflegerat (DPR). Wenn die Entscheidungskompetenz übergehe, dann gehe aus ihrer Sicht auch die Haftung über, das sei unabhängig von der Berufsgruppe. Sie bemängelte, dass noch nicht klar sei, wie die geplanten Modellvorhaben überhaupt aussehen sollen. Außerdem seien die bis zu acht Jahren Laufzeit für die Modellvorhaben und die folgende Evaluation zu lang, diese Zeit sei gar nicht mehr vorhanden, um eine ausreichende Versorgung zu garantieren.
Lemke erwiderte auf die ärztlichen Befürchtungen, die Pflege würde „alles übernehmen“, das sei „Blödsinn“. Es komme auf die Qualifikation der betreffenden Kraft an: Nicht alle seien dafür qualifiziert und nicht alle Pflegekräfte wollten alles übernehmen. Es komme darauf an, wen man qualifiziere. Die Vorgaben des G-BA würden dazu führen, dass man von der Realität eingeholt würde, die geplanten Zeitspannen seien einfach zu lang. Aus ihrer Sicht ist es sinnvoll, diese enger zu stellen und das Verfahren zu beschleunigen. Wichtig sei heute, dass die Projekte koordiniert werden.
Bisher sind fünf Leistungskomplexe für die Modellvorhaben vorgesehen:
• Diabetes mellitus Typ 1
• Diabetes Mellitus Typ 2
• Chronische Wunden
• Demenz (nicht palliativ)
• Hypertonus (nicht Schwangerschaftshypertonus)
Aus ihrer Sicht ist das größte Hindernis die notwendige Qualifizierung der Pflegekräfte. Der Gesetzgeber schreibe vor, dass zunächst Curricula erstellt werden müsse. Dieses Vorgehen sei nicht unbedingt sinnvoll, meinte Lemke, da es bereits eine ganze Anzahl weiterqualifizierter Pflegekräfte gebe, wie in der Diabetikerversorgung oder bei chronischen Wunden. Diese könnten aber nicht an den Start gehen, weil die Ausbildungspläne erst erstellt werden müssen. Köhler unterstützte diesen Ansatz von Lemke und meinte, gerade deshalb sollten die MFA mit einbezogen werden. Das sei aber aufgrund des Vetos der Pflegeverbände gescheitert. Die Qualifikation der MFA stellte Lemke nicht in Frage, diese seien eben nur anders qualifiziert als die Pflegekräfte. Man müsse prüfen, wie diese besser mit einbezogen werden könnten. Dass schon heute Bedarf besteht, machte sie an einem Beispiel der Langzeitpflegeeinrichtungen ohne angestellte Ärzte deutlich. Dort sei oft niemand, der Infusionen anlegen oder Schutzhosen verschreiben könnte. Deshalb komme es immer wieder zu stationären Einweisungen, die eigentlich unnötig seien.
Für Köhler steht hinter den Bemühungen, Aufgaben zu übernehmen, auch der Gedanke, wie man an das Geld der Ärzte kommen könne, und hier werde die Ärzteschaft nicht mitspielen. „Die Gesundheitspolitik erkennt an, dass mit einer sich dramatisch verändernden Demografie die Gesundheitsausgaben steigen werden. Wer den Spaltpilz treibt und sagt, dass Substitution auch Umverteilung der Gelder heißt, so wird das nicht funktionieren. Die wohnortnahe Versorgung wird mehr Geld kosten. Mit einer Kannibalisierung der Vergütung wird das nicht funktionieren. Das bedeutet, dass man sowohl für den Arzt als auch die Pflege eine attraktive Vergütung bereitzustellen muss“, verdeutlichte Köhler.
Lemke hingegen meinte, dann sollte die Finanzierungsdiskussion hinten anstellen, da man sonst nicht weiter komme. Auch sie verwies auf Probleme, die sich aus dem zunehmenden Fachkräftemangel ergeben werden und prophezeite, dass auch die Pflege heutige Aufgaben künftig abgeben werde. Zunächst müsse geprüft werden, wie die zukünftigen Kooperationsformen der Professionen auszusehen hätten.
Allerdings glaubt auch Lemke nicht, dass es im System billiger werden wird, „noch billiger als die Vergütung eines ärztlichen Hausbesuches kann es auch die Pflege nicht machen“, sagte sie. Man müsse prüfen, ob mehr Selbstbeteiligungen oder andere Finanzierungen greifen müssten, sie kenne keine Lösung für dieses Problem, gab sie zu. Als Idee nannte sie das Modell der Anschubfinanzierung, wie es bereits bei den IV-Verträgen erprobt worden sei.
Als geeignet für Substitution und Delegation von Leistungen sieht Köhler chronisch internistische Erkrankungen an. Mittels moderner Praxis-EDV-Systeme sollte eine gemeinsame Fallakte erstellt werden, um die jeweiligen Leistungen zu dokumentieren. Zusammengeführt werden sollte das seiner Ansicht nach beispielsweise in der Arztpraxis.
Dipl.-Med. Regina Feldmann, Vorstandsvorsitzende der KV Thüringen - sowie vielleicht Nachfolgerin des zurückgetretenen KBV-Vorstands Carl-Heinz Müller - machte besonders auf den ländlichen Raum aufmerksam. In Thüringen habe man mit den ehemaligen Gemeindeschwestern, die zum großen Teil Pflegedienste nach der Wende gegründet hätten, sehr gute Erfahrungen mit der gemeinsamen Versorgung der Patienten gemacht. Darauf solle man aufbauen. Ein Hausarzt aus dem brandenburgischen Bernau betonte, dass es in überschaubaren Regionen mit wenigen Pflegediensten sehr gut laufe, problematisch sei es dort, wo viele Pflegedienste existierten, man sich nicht kenne und wenig über die Qualifikationen wisse. Diese Schnittstelle sei durch die Ärzte nicht zu bewältigen. Aus seiner Sicht ist die Finanzierung zweitrangig.
Heinz Christian Esser, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Heilmittelverbände (BHV), bemängelte, dass das Modellvorhaben nach § 63b SGB V an den Ärzten gescheitert seien. Dieser Paragraph regelt die Möglichkeit von Modellvorhaben zur Verordnung von Verbandmitteln und Pflegehilfsmitteln etc. Es sei völlig klar, dass man nicht die ärztliche Differentialdiagnostik übernehmen wolle und auch keinen Euro aus den ärztlichen Honorartöpfen. Es gebe im Heilmittelbereich ein Budget von rund 5 Mrd. Euro und es müsse gefragt werden, wie das Geld verteilt werden solle. Aus seiner Sicht könne eine elektronische Patientenakte hilfreich sein, um transparent die Leistungen zu dokumentieren. Köhler meinte dazu, wenn die Heilmittelhersteller bereit seien, das Regressrisiko der Ärzte zu übernehmen, könne man gerne weiterverhandeln.
In vielen Diskussionen auch abseits dieser aktuellen Veranstaltung ist der deutliche Frust des Pflegebereiches zu spüren. Die lange Zeit der Modellvorhaben, die unklare Vergütung, die nicht unbedingt idealen Vorgaben zur Entwicklung der Curricula, bremsen die anfängliche Euphorie. Auch die unklaren Regeln zur Haftung werden noch für Unruhe sorgen. Zieht man Parallelen zu den Versicherungsbeiträgen der Hebammen, die viele Geburtshelferinnen bereits an den Rand der finanziellen Möglichkeiten aufgrund der hohen Prämien gebracht haben, können sich die PflegerInnen bereits auf steigende Versicherungsbeiträge einstellen. In einigen Bundesländern werden Pflegekammern gefordert, in Bayern gibt es bereits eine. Angestrebt werden bundesweit einheitliche Reglungen zum Umfang der delegierbaren Leistungen, bisher gibt es unterschiedliche Regeln. Bei Substitution haftet der Arzt nicht mehr.
Ob es soweit kommt, dass Modellvorhaben ohne Beteiligung von Ärzten stattfinden, wie es die Deutsche Krankenhausgesellschaft erwartet, bleibt dahin gestellt. Eindeutig geregelt für die Modellvorhaben ist, dass die Diagnose und Indikationsstellung ausnahmslos durch den Arzt erfolgen muss und nicht weitergereicht werden kann oder darf. Dies muss ausreichend und ausführlich dokumentiert werden, ein Tätigwerden auf Zuruf ist nicht statthaft. Den Krankenkassen wird von vielen aus dem ärztlichen Bereich unterstellt, sie witterten Morgenluft und hofften darauf, die Stellung der Ärzteschaft zu schwächen und mittels der Pflegekräfte Geld zu sparen.
[1]Quelle: Gesundheitspolitischer Informationsdienst – gid –, 17. Jg., Ausgabe 10, vom 27. April 2012; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.