„Patientenrechtegesetz: Auswirkungen auf die Praxis“ – zu dieser Veranstaltung hatte die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) am 27.09.2012 nach Berlin geladen. PsychotherapeutInnen aus dem gesamten Bundesgebiet konnten sich im Anschluss an die Einführungsvorträge in insgesamt drei Workshops zu den spezifischen Implikationen des künftigen Patientenrechtegesetzes informieren. Das Gesetz wird aller Voraussicht nach zum 1.1.2013 in Kraft treten und einige wesentliche Neuerungen auch für unseren Berufsstand mit sich bringen.
Nach einer kurzen Einführung ins Thema durch Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der BPtK, referierte Ministerialdirigent Karl-Heinz Oehler vom Bundesministerium für Justiz über den „Behandlungsvertrag im Patientenrechtegesetz“. Mit dem Gesetz habe man grundsätzlich folgende Ziele verfolgt: Förderung der Fehlervermeidungskultur, Stärkung der Verfahrensrechte bei Behandlungsfehlern, Stärkung der Rechte gegenüber Leistungsträgern, Stärkung der Patientenbeteiligung, Stärkung der Patienteninformation. Beiden letzteren Punkten diene insbesondere der Behandlungsvertrag, der PsychotherapeutInnen zu einer umfassenden Aufklärungs- und Informationspflicht veranlassen soll. In verständlicher Weise“ seien im Behandlungsvertrag sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern. Übrigens wird im Gesetz meist von „Behandelnden“ gesprochen und nicht nur von Ärzten, um alle Heilberufe einzubeziehen,
Aufklärungspflicht seitens der Behandler besteht zukünftig insbesondere auch im Hinblick auf individuelle Gesundheitsleistungen (sog. IGel-Leistungen). „Weiß der Behandelnde, dass eine vollständige Übernahme der Behandlungskosten durch einen Dritten (z.B. Krankenversicherung) nicht gesichert ist oder ergeben sich hierfür hinreichende Anhaltspunkte, muss er den Patienten vor Beginn der Behandlung über die voraussichtlichen Kosten der Behandlung informieren.“
Schließlich wird der Aufklärung und Einwilligung noch ein großer Bereich eingeräumt. Eine wirksame Einwilligung setzt die Aufklärung über alle wesentlichen Umstände voraus. Der Gesetzentwurf nennt insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, die Dringlichkeit, Eignung und die Erfolgsaussichten. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen. Die Aufklärung muss mündlich, rechtzeitig und verständlich erfolgen.
Darüber hinaus referierte Oehler noch über einige nicht zwingend zum Behandlungsvertrag gehörende Aspekte wie die Verpflichtung, über Behandlungsfehler zu informieren. Dies müsse jedoch nur geschehen, wenn es der Abwendung gesundheitlicher Gefahren dient oder der Patient danach fragt. Diese Einschränkung habe ihren Ursprung darin, dass sich eine weitergehende Verpflichtung rechtlich nur schwer begründen ließe.
Ein weiterer Aspekt, den das Patientenrechtegesetz grundlegend bearbeitet, ist die Haftung. Nach wie vor gilt der Grundsatz: Jeder hat die Tatsachen zu beweisen, die ihm günstig sind, also den Behandlungsfehler, die Ursächlichkeit dieses Fehlers für den Schaden und den Schadensumfang. Für den Fall des groben Behandlungsfehlers wurde die Beweislast nun geändert. Ein grober Behandlungsfehler liegt zukünftig vor wenn der Behandelnde gegen bewährte Regeln und gesicherte Erkenntnisse verstößt und einen Fehler begeht, der aus objektiver Sicht nicht nachvollziehbar ist.
Anschließend referierte Beate Lisofsky, Pressereferentin des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker e.V., über „Das Patientenrechtegesetz aus Sicht einer Patientenvertreterin“. Nach der Vorstellung des Vereins berichtete sie über das Selbsthilfenetz Psychiatrie, zu dem der Verein gehört, und über Erwartungen an den Gesetzgeber. Dazu gehören die Gleichstellung psychisch und somatisch Erkrankter, wohnortnahe, vernetzte Angebote, Versorgungsverpflichtung auch für „schwierige“ Patienten, ausreichende fachärztliche und psychotherapeutische Versorgung auch in ländlichen Gebieten, Sicherstellung von somatischen Versorgungsaspekten qualifizierte Angebote auch für chronische Patienten. Abgeleitet von Erwartungen an das Gesetz wurde auch Kritik geübt: der Anspruch auf umfassende, ggf. koordinierte Behandlung sei nicht explizit verankert, die Pflicht zum integrierten Behandlungsplan fehle, es gebe zu viele Ausnahmeregelungen bezüglich der Informations- und Aufklärungspflicht, der Ausbau von Patientenberatungen sei nicht verankert, bundesweit herrsche Uneinheitlichkeit von Verfahrensgrundsätzen der Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen.
Dr. Martin Stellpflug, Justitiar bei der BPtK, sprach über das Thema „Einsichtnahme und Dokumentation im Patientenrechtegesetz“. Zunächst wurde der Gesetzestext kurz dargelegt.
§ 630f BGB-E Dokumentation der Behandlung:
(1) Der Behandelnde ist verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn der ursprüngliche Inhalt erkennbar bleibt.
(2) Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche, aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung, wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen.
(3) Der Behandelnde hat die Patientenakte für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren, soweit nicht nach anderen Vorschriften andere Aufbewahrungsfristen bestehen.
Dr. Stellpflug stellte anschließend Vorgaben für eine Musterberufsordnung dar:.
§ 9 Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten
(1) Psychotherapeuten sind verpflichtet, die psychotherapeutische Behandlung und Beratung zu dokumentieren. Diese Dokumentation muss mindestens Datum, anamnestische Daten, Diagnosen, Fallkonzeptualisierungen, psychotherapeutische Maßnahmen sowie gegebenenfalls Ergebnisse psychometrischer Erhebungen enthalten.
(2) Die Dokumentationen nach Absatz 1 sind zehn Jahre nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren, soweit sich nicht aus den gesetzlichen Vorschriften eine längere Aufbewahrungspflicht ergibt.
Es wurde darauf verwiesen, dass die Dokumentation „sämtliche, aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung, wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse“ enthalten müsse. Diese umfängliche Dokumentation diene der Therapiesicherung (Informationen für weiterbehandelnden Therapeuten), der Rechenschaftslegung (Überprüfung der Behandlung durch Patient) und der Beweissicherung. Gerade Letztes kann rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Denn: „Hat der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme entgegen § 630f Absatz 1 oder Absatz 2 BGB nicht in der Patientenakte aufgezeichnet oder hat er die Patientenakte entgegen § 630f Absatz 3 BGB nicht aufbewahrt, wird vermutet, dass er diese Maßnahme nicht getroffen hat.“
Zum Thema der Einsichtnahme auch hier noch der Gesetzestext.
§ 630g BGB Einsichtnahme in die Patientenakte:
(1) Dem Patienten ist auf Verlangen unverzüglich Einsicht in die ihn betreffende Patientenakte zu gewähren, soweit der Einsichtnahme nicht erhebliche therapeutische oder sonstige erhebliche Gründe entgegenstehen. § 811 ist entsprechend anzuwenden.
(2) Der Patient kann Abschriften von der Patientenakte verlangen. Er hat dem Behandelnden die entstandenen Kosten zu erstatten.
(3) Im Fall des Todes des Patienten stehen die Rechte aus den Absätzen 1 und 2 zur Wahrnehmung der vermögensrechtlichen Interessen seinen Erben zu. Gleiches gilt für die nächsten Angehörigen des Patienten, soweit sie immaterielle Interessen geltend machen. Die Rechte sind ausgeschlossen, soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten entgegensteht.
Als Vorgabe für eine Musterberufsordnung schlug Stellpflug vor:
§ 11 Einsicht in Behandlungsdokumentationen
(1) Patienten ist auch nach Abschluss der Behandlung auf ihr Verlangen hin Einsicht in die sie betreffenden Dokumentationen zu gewähren, die nach § 9 Absatz 1 zu erstellen sind.
(2) Psychotherapeuten können die Einsicht ganz oder teilweise nur verweigern, wenn dies den Patienten gesundheitlich gefährden würde oder wenn Rechte Dritter betroffen sind. Die Einsichtnahme in persönliche Aufzeichnungen des Therapeuten über seine emotionalen Erlebnisweisen im Rahmen des therapeutischen Geschehens (subjektive Daten) kann verweigert werden, wenn die Einsicht dem Patienten oder dem Therapeuten oder Dritten schaden würde. Eine Einsichtsverweigerung ist gegenüber dem Patienten zu begründen.
Anschließend stellte der Referent noch einige Urteile und Formulierungen zusammen, bei denen das Einsichtsrecht wegen therapeutischer Gründe oder Persönlichkeitsrechten von Therapeuten eingeschränkt wurde. Einige dieser früheren Urteile werden sicher durch das neue Patientenrechtegesetz revidiert werden müssen, wie Begründungen zum Gesetzesentwurf bereits vermuten lassen:
„Niederschriften über persönliche Eindrücke oder subjektive Wahrnehmungen des Behandelnden betreffend die Person des Patienten sind dem Patienten grundsätzlich offen zu legen. Ein begründetes Interesse des Behandelnden an der Nichtoffenbarung solcher Aufzeichnungen ist, in Abwägung zu dem Persönlichkeitsrecht des Patienten, im Regelfall nicht gegeben. Auch hier kommt es aber auf die Umstände im Einzelfall an.“
Schließlich spielt zukünftig auch noch die Beurteilung der Einsichtsrechte für Erben und Angehörige eine Rolle. Die Erbenstellung alleine berechtigt nur bei Verfolgung vermögensrechtlicher Interessen zur Einsichtnahme. Die Stellung als „nächster Angehöriger“ berechtigt auch bei immateriellen Interessen zur Einsichtnahme. Stellpflug erklärte, dass laut Patientenrechtegesetz der Patient eine Abschrift der Patientenakte verlangen kann. Dem Behandelnden sind dafür die Kosten zu erstatten (0,50 €./ DIN A4 Seite). Die Herausgabe kann von der Zahlung der Kosten abhängig gemacht werden.
Die auf die Vorträge folgenden Workshops begannen jeweils mit Impulsreferaten. Ein Workshop unter der Moderation von Monika Konitzer, Vizepräsidentin der BPtK, widmete sich dem Thema „Dokumentation und Einsichtnahme“. Stephan Stanko beschrieb das Dilemma eines psychodynamisch arbeitenden Therapeuten: Die Forderung nach Umfang und Tiefe der Dokumentation bei gleichzeitig nicht begrenzter „unverzüglicher“ Einsichtnahmemöglichkeit des Patienten. Vieles von dem, was an sogenannten subjektiven Eindrücken dokumentiert werde – dazu gehört in wesentlichen Teilen auch der Bericht an den Gutachter –, habe neben höchst Persönlichem auch Hypothesencharakter: Es handelt sich um einen Entwurf, um eine Momentaufnahme eines psychodynamischen Prozesses. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse können in Behandlungen die tiefsten Schichten des Therapeuten berühren. Diese subjektiven Daten seien nicht für eine Weitergabe gedacht und sind dennoch als Material für die Selbstreflexion und die Entschlüsselung des aktuellen Übertragungsgeschehens von größter Relevanz. Die Bereitschaft, sich als Therapeut nicht nur an der Oberfläche berühren zu lassen, benötige Schutz. Eine Offenlegung der Hypothesen gegenüber dem Patienten würde das Ziel der Bearbeitung der Inhalte konterkarieren und die Abwehr stärken. Als Patientenrecht gesetzlich verbürgt, wäre die Forderung nach einer Einsichtnahme dann auch schwerlich i. S. eines Widerstands zu bearbeiten.
Stanko zieht dementsprechend auch folgendes Fazit: „Ich fürchte, dass die Regelungen des vorliegenden Gesetzesentwurfs zur Folge haben werden, dass Dokumentationen inhaltsleer werden, gewissermaßen 'pseudo-transparent' und eine „Fehlervermeidungskultur“ nicht fördern, sondern schwächen werden: Denn die Behandlung und die Prävention von Behandlungsfehlern leben von der – geschützten – Offenheit“.
Im zweiten Impulsreferat schilderte Dr. Wolfgang Groeger aus der Perspektive eines Verhaltenstherapeuten seine Überlegungen zum Thema Dokumentation und Einsichtsrecht. Nach einer Vorstellung der hier schon dargestellten Gesetzestexte zog der Kollege seine Schlussfolgerungen im Hinblick auf das Führen von Patientenakten:
1) Das Einsichtnahmerecht des Patienten umfasst im Regelfall auch die Aufzeichnung persönlicher Eindrücke des Behandlers.
2) Fallkonzeptualisierung, Zielbestimmung und Therapieplanung (mit Aufklärung und Einwilligung) sind auch dann unverzichtbar, wenn Befreiung für die Begründungspflicht für Kurzzeittherapieanträge besteht.
3) Die Elektronische Patientenakte kann die Papierform nur ersetzen, wenn erfüllt ist:
(a) Erstellung zeitlich unmittelbar in/nach jeder Behandlungseinheit
(b) ursprünglicher Inhalt kann nicht überschrieben/gelöscht werden
(c) jede Änderung wird (mit Zeitstempel und Signatur) erfasst.
Groeger fasste Schlussfolgerungen im Hinblick auf Protokollbögen:
1) Rahmenangaben: Namen Therapeut, Patient, ggf. weitere Beteiligte, Datum und Dauer, Ort (falls nicht oder nicht nur in der Praxis), Setting (Einzel, Gruppe, Familie etc.)
2) eingesetzte Behandlungsmethoden
3) Verlauf und Ergebnisse der Sitzung
4) ggf. Dokumentation psychopathologisch relevanter Befunde/Verhaltensweisen in der Sitzung (bspw. Denkstörungen, Suizidalität, Impulskontrollstörungen, Sucht)
Bei Überschreitung der Mindestanforderungen sollte immer das Einsichtsrecht bedacht werden.
Als letzter Referent schilderte Hermann Schürmann aus der Perspektive der stationären Versorgung seine Gedanken zum Thema Dokumentation und Einsichtsrecht. Beginnend mit der Darstellung der Besonderheiten stationärer Behandlung (multimodale Behandlung, multiprofessionelles Team, Verfahrensorientierung eher im Hintergrund, fokusorientiert, Übertragung und Regression begrenzt, Rahmenbedingungen haben einen hohen Einfluss, Kurzzeitpsychotherapie) und der früheren Dokumentationspraxis (Aufnahmebefund/Anamnese, Therapeutische Maßnahmen in der Patientenkurve, Entlassungsbrief, persönliche Aufzeichnungen des Psychotherapeuten), ging Schürmann über zur „Dokumentationspraxis in Zeiten der Zertifizierung und Fehlbelegungsprüfung“.
Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versorgung, Nachweis der erbrachten Leistungen, Nachweis der Behandlungsindikation, Dokumentation mit objektiven und objektivierbaren Befunden, keine subjektiven Eindrücke und Überlegungen, Nachvollziehbarkeit für Patienten und unbeteiligte Dritte – so lauten die Merkmale. Natürlich gelte auch hier die Devise: „Was nicht dokumentiert ist, ist nicht gemacht!“ Mittlerweile befinde sich der stationäre Betrieb in der Zeit eines pauschalierenden Entgeltsystems für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP), was den Einsatz eines Krankenhausinformationssystems (KIS) mit sich gebracht hat. Es verfügt über die Merkmale: alle Befunde sind an einem Ort, jeder an der Behandlung Beteiligte kann die Dokumentation einsehen, die Behandlung kann im Zusammenhang gesehen werden, die Dokumentation dient in erster Linie der Kommunikation („Was muss/soll der Mitbehandelnde wissen?“), Einträge sind möglicherweise entgeltrelevant (OPS), Nebenadressaten bleiben wichtig.
Interessant ist die bislang praktizierte Inanspruchnahme des Einsichtsrechts. Ca. 20 % der Patienten fordern, so Schürmann, einen Entlassungsbericht an, zwei von 16.000 Patienten haben in den letzten 20 Jahren eine Akteneinsicht angefordert, die dann von keinem wahrgenommen worden sei.
Der zweite Workshop befasste sich mit dem Thema „Anträge und Befundberichte“ unter der Moderation von Prof. Richter. Auch hier wurden drei Impulsreferate gehalten und diskutiert. Als erster äußerte sich Prof. Stefan Klingberg vom Universitätsklinikum Tübingen aus der Perspektive „… für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung“. Der Referent stellte die Intention des Gesetzes, die betreffenden Berichte (Verlängerungsanträge für stationäre Akutbehandlung, Anträge auf Rehabilitationsbehandlung, Bescheinigungen für Studierende, Anträge für Eingliederungshilfe, wie ambulant betreutes Wohnen, stationäres Wohnen, Bescheinigungen für Versicherungsleistungen wie Reiserücktritt, Tagegelder…) und das Anliegen des neuen Gesetzes heraus. Fachbegriffe, die auch umgangssprachlich wertend verwendet werden (narzisstisch, histrionisch, schizophren), können problematisch sein. Klingberg schlägt hier selbstwertschonende Umschreibungen vor („Der Patient hat ein großes Bedürfnis, anerkannt und beachtet zu werden“), was allerdings zu Lasten der Präzision geht und daher abgewogen werden muss (Abwägung von potentieller Kränkung des Patienten und Missverständnis zwischen Behandlern). Außerdem kollidiere eine selbstwertschonende Darstellung mit der expliziten Darstellung schwieriger Situationen, um eine längere Verweildauer und adäquate Vergütung sicherzustellen (positive Entwicklungen werden nicht herausgestellt, Schwelle zu unscharfen Begriffen wie „Therapieresistenz“ oder „Chronifizierungsgefahr“ liegt niedriger, Nennung einer Vielzahl an Diagnosen und Verwendung von Begriffen wie „multimorbide“). Auch verwies der Referent auf die Rechte Dritter. So müssen Angehörige verstärkt darauf hingewiesen werden, dass Auskünfte an den Behandler dem Patienten gegenüber nicht geheim bleiben werden. Auch muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass Aussagen über Dritte deren Persönlichkeitsrechte berühren. Wichtig ist auch die Berücksichtigung verschiedener Krankheitsphasen. So passe das Leitbild des kritischen Verbrauchers nicht für die Akutphase einer psychischen Störung, bei der erhebliche kognitive und emotionale Einschränkungen vorliegen können.
Als zweiter Referent in diesem Workshop sprach Dieter Best (Verhaltenstherapeut, Gutachter im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie) über „Therapieanträge im Rahmen der GKV und PKV aus Sicht der Verhaltenstherapie“. Zunächst stellte er den gesetzlichen Hintergrund dar und nannte Gerichtsentscheide zum Einsichtsrecht. Zur Veranschaulichung der Problematik referierte Best dann verschiedene psychische Befunde aus Antragsberichten, um abschließend Empfehlungen für Verhaltenstherapeuten zu geben:
Der Bericht an den Gutachter kann mit den Patienten offen besprochen werden. Der Patient kann in die Entwicklung eines gemeinsam getragenen Störungsverständnisses, in die gemeinsam entwickelten Therapieziele und in die Entwicklung des Behandlungsplanes einbezogen werden. Auch bei Umwandlungs- oder Fortführungsanträgen kann der Patient mitwirken, indem man ihm Fragen stellt wie:
· Welche Bedingungen in Ihrer Lebensgeschichte haben Ihrer Meinung nach zu Ihrem Problem beigetragen?
· Was glauben Sie, was Sie selbst zur Aufrechterhaltung Ihrer Probleme beitragen?
· Was hat sich seit Beginn der Therapie an den Symptomen konkret geändert, was hat sich gebessert, verschlechtert oder ist gleich geblieben?
· Was hat Ihnen weitergeholfen? Was hat Ihnen bisher gefehlt? Was hat Sie gestört?
· Welche konkreten weiteren Schritte wollen Sie im nächsten Therapieabschnitt erreichen? Woran würden Sie und Ihre Umgebung die Fortschritte erkennen?
· Welche Möglichkeiten sehen Sie nach Beendigung der Psychotherapie, Ihre Probleme selbständig zu bewältigen?
· Welche Medikamente nehmen Sie zurzeit ein?
Anne Springer als Gutachterin für psychoanalytisch begründete Verfahren machte deutlich, dass alle Teile des Antrages, also auch der Konsiliarbericht und die gutachterliche Stellungnahme etc.,Bestandteil der Patientenakte werden und damit der möglichen Einsichtnahme unterliegen. Gerade die Ausführungen zur Psychodynamik verbalisieren die innerpsychische Arbeit der PsychotherapeutInnen, die darin bestehe, die vom Patienten erhaltenen Informationen unter Einbeziehung von Übertragungsverstehen und von Gegenübertragungsreaktionen als innerpsychische Antwort auf die PatientInnen zu verdichten und so zu einem vorläufigen Verstehen dieser individuellen Persönlichkeit zu gelangen. Alle diese Arbeitshypothesen werden erst im Behandlungsverlauf verifiziert oder falsifiziert. Den behandlungsplanenden PsychotherapeutInnen stehen PatientInnen gegenüber, deren innerpsychischer Prozess den genauen Verlauf bestimmt. Diese Feststellung führt die Kollegin zur folgenden folgenreichen Frage: Kann die bei Verlangen „unverzüglich“ zu erfolgende Herausgabe dieser Texte potentiell PatientInnen schädigen?
Die Referentin bejaht dies und begründet dies folgendermaßen: Aller klinischen Erfahrung nach verlangen PatientInnen eine sofortige Einsicht in die Berichte an den Gutachter in Behandlungsphasen, die von überwiegend negativer Übertragung gekennzeichnet sind. In diesen Behandlungsphasen werden sogenannte „negative“ Affekte und Emotionen und Beziehungsphantasien wie Neid, Hass, Gier und progressiv wichtige und wertvolle aggressive Strebungen in der therapeutischen Beziehung erprobt, erforscht und im günstigen Fall neu integriert. Gerade für diese Behandlungsphasen sei ein geschützter Raum von eminenter Wichtigkeit für das Patientenwohl. In solchen Phasen neigten PatientInnen aber in sehr nachvollziehbarer Weise zum Inszenieren aggressiv getönter Übertragungen. Neurotisch bedingte Kontrollwünsche, schwer zu bearbeitende und nicht rational begründete Misstrauenshaltungen könnten in Wünschen nach unverzüglicher Aktenherausgabe münden. Damit sei das Arbeitsbündnis nachhaltig gestört. Das Spannungsfeld zwischen Arbeitsbündnis und Vertragsbeziehung, in dem der therapeutische Prozess angesiedelt ist, kollabiere.
Ein Ausblick sieht dann auch folgendermaßen aus: Im potentiellen Konflikt zwischen Patientenrecht und zu gewährleistendem Patientenschutz (= Schutz des Behandlungsraums) wird der lege artis arbeitende Therapeut sich für das Patientenwohl und für den Schutz der therapeutischen Beziehung einsetzen. Was unter „erheblichen therapeutischen Bedenken“ und „sonstige(n) erhebliche(n) Gründe(n)“ im § 630g, Abs. 1 BGB zu verstehen ist, wird sich in der Rechtssprechung entwickeln.
Schließlich wurden auch die Fragen der KollegInnen erörtert, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Hierfür fand sich der Workshop III zusammen „Rechte von Kindern und Jugendlichen als Patienten“. Es gab zwei Impulsreferate. Inge Berns sprach aus der Sicht einer KJPlerin zu dem Thema. Auf anschauliche Weise arbeitete die Kollegin heraus, wie bei Kindern zwischen dem, was sie sagen und dem, was sie wirklich meinen, zu unterscheiden sei. Dazu stellte sie zwei Fallbeispiele vor (ein fünfjähriger Junge und ein neunjähriges Mädchen) und nahm die Workshop-Teilnehmer mit auf die Entdeckungsreise der impliziten Botschaften im Spielzimmer zur Frage „Habe ich ein Problem, bei dessen Lösung ich mir helfen lassen möchte?“. Im Weiteren wurde deutlich, dass der Therapeut nach wie vor seine Orientierung in seinem eigenen therapeutischen und menschlichen Verständnis finden soll, in seinem ethisch moralischen Wertesystem und erst in zweiter Linie in Gesetzestexten. Der Begriff der therapeutischen Haltung fiel hier.
Als zweite Referentin war Simone Skibba geladen, Familienrichterin aus Winsen. Ihr Thema: Einsichtnahme bei Konflikten und Sorgerechtsstreitereien. Skibba führte zunächst die juristische Einschätzung aus, dass unter 18-Jährige nicht geschäftsfähig bzw. nur bedingt geschäftsfähig sind. Demgegenüber habe der Jugendliche aber ein Selbstbestimmungsrecht. Bei einem nicht einsichtsfähigen Jugendlichen haben die Eltern ein umfassendes Einsichtsrecht. Dies könne verweigert werden, wenn die Vermutung nahe liegt, dass bei der Veröffentlichung von bestimmten Umständen körperliche Gewalt gegen den Jugendlichen / das Kind angewendet wird. Der einsichtsfähige Jugendliche sei zu fragen, ob das Einsichtsrecht den Eltern gewährt werden soll oder nicht. Juristisch gesehen habe hier das Selbstbestimmungsrecht Vorrang vor dem Elternrecht. Die Einsichtsfähigkeit sei nicht an ein bestimmtes Alter gebunden, werde aber häufig mit dem vollendeten 14. Lebensjahr angenommen. Prinzipiell könnte es aber auch darunter liegen. Ein 15-Jähriger könnte also grundsätzlich eine Psychotherapie beantragen, aber die Eltern sind davon zu informieren.
In der Plenumsdiskussion unter der Leitung von Andrea Mrazek (Präsidentin der OPK) ging es um Fragen wie Schutz des Therapeuten, die Umsetzung in die Berufsordnung sowie um die Frage, ob Supervision mit zur Patientenakte gehört, und wenn dies so ist, wie hier die Frage des Einsichtsrechts beurteilt wird.
Insgesamt wurde das Patientenrechtegesetz als ein Gewinn an Rechtssicherheit gewürdigt. Viele Detailfragen werden sich wohl erst durch eine juristische Ausformung in der konkreten Anwendung klären. Besonders Fragen, die den Bereich der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen betreffen, werden im Gesetzentwurf nach allgemeiner Auffassung allerdings nicht klar genug geregelt. Für die Zukunft bedeutet das neue Gesetz eine Anpassung der Berufsordnung. Psychotherapeuten werden einen großen Bedarf an Information und ggf. Unterstützung in konkreten Fragen haben.
Dr. Markus Funke
DGVT-Landessprecher Sachsen und OPK-Kammerdelegierter