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Soziotherapie in der vertragsärztlichen Versorgung – eine Tragödie auf dem Rücken der Patienten

Position der DGVT zum laufenden Stellungnahmeverfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Überarbeitung der Soziotherapierichtlinie


Der Beginn der Tragödie liegt schon einige Jahre zurück. Mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz vom 1.1.2000 wurde ambulante Soziotherapie als eine GKV-Leistung eingeführt. Die damit definierten längerfristigen Betreuungsleistungen für schwer psychisch kranke Menschen sollten dazu beitragen, dass ihnen trotz erheblicher Fähigkeitseinschränkungen ein Leben im normalen Umfeld und insbesondere die Inanspruchnahme notwendiger ärztlicher Behandlungen möglich ist. Auf diese Weise sollten u.a. sog. Drehtüreffekte, d.h. häufige stationäre psychiatrische Wiederaufnahmen aufgrund von unzureichender ambulanter Unterstützung im Anschluss an einen Psychiatrie-Aufenthalt, vermieden werden. Gemäß des gesetzlichen Auftrags wurde das Nähere über Ziele und Inhalte der Soziotherapie sodann in der Soziotherapierichtlinie des damaligen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss/GBA) festgelegt. Die Anforderungen an die Leistungserbringer von Soziotherapie wurden in den Gemeinsamen Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen gemäß § 132b Abs. 2 SGB V zu den Anforderungen an die Leistungserbringer für Soziotherapie in der Fassung vom 29.11.2001 geregelt[1].

Sehr rasch wurde allerdings deutlich, dass die Soziotherapie, trotz der hohen Erwartungen und des offensichtlich bestehenden Bedarfs, nur sehr selten und unzureichend in Anspruch genommen wurde. Rössler und Melchinger (2012) schreiben dazu: „Das Scheitern der Soziotherapie war durch zwei Bedingungen vorprogrammiert: durch unrealistisch hohe Ansprüche an die Qualifikations- und Erfahrungsprofile der zuzulassenden Leistungserbringer und durch prohibitiv niedrige Vergütungssätze“ (a.a.O, S. 107). Doch obwohl diese Probleme für Insider schon bei der Veröffentlichung der Soziotherapierichtlinie und der Empfehlungen der Spitzenverbände auf der Hand lagen, hat der Gemeinsame Bundesausschuss am 16.5.2006 zunächst eine Untersuchung über die möglichen Gründe für die geringe Inanspruchnahme der ambulanten Soziotherapie in Auftrag gegeben. Dieses Vorgehen wurde häufig als Verzögerungstaktik beschrieben, hat aber immerhin einen quasi amtlichen Überblick über die völlig inakzeptable Umsetzung des gesetzgeberischen Auftrags gebracht. Der von der Geschäftsstelle des Gemeinsamen Bundesausschusses erstellte Bericht über die umfassende Befragung bei allen soziotherapeutischen Leistungserbringern und allen verordnungsermächtigten Fachärzten wurde auf jeden Fall schon sehr bald, nämlich im Januar 2008, vorgelegt. Er enthält differenzierte Beschreibungen der Problemlage und Hinweise auf mögliche Gründe. U.a. zeigt der Bericht, dass sechs Jahre nach In-Kraft-Treten der Soziotherapierichtlinie in mehreren Bundesländern kein oder fast kein soziotherapeutischer Leistungserbringer tätig ist (Brandenburg, Saarland und Sachsen-Anhalt je 0; Hamburg u. Mecklenburg-Vorpommern je 1) und dass über 60 Prozent der Hausärzte angeben, dass sie nicht einmal wissen, dass sie ermächtigt sind, soziotherapeutische Motivierungsgespräche zu verordnen.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung stellte im Jahr 2009 fest, dass die Gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2008 rund 3,4 Mio. Euro für Soziotherapie aufgewendet habe. Dies entspreche einem Anteil von 0,002 % der gesamten GKV-Ausgaben.

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Gesundheitsministerien der Bundesländer und des Bundes sieht im Jahr 2010 als vorrangigen Grund für den geringen Umsetzungsgrad der Soziotherapie die unzureichende Leistungsvergütung, die je nach Bundesland zwischen 24 und 42 Euro schwanke und in keinem angemessenen Verhältnis zur geforderten Qualifikation des Leistungserbringers (Sozialpädagogen, Sozialarbeiter oder Fachkrankenpfleger für Psychiatrie mit jeweils 3-jähriger Berufserfahrung in einer Fachklinik) stehe. Als weiterer Grund wird auf die geringe Zahl der Ärzte verwiesen, die Soziotherapie (aufgrund von Unkenntnis oder aufgrund der Umständlichkeit des Verordnungsverfahrens) verordnen.

Nach Vorlage der erwähnten Untersuchung der Geschäftsstelle des GBA dauerte es noch einmal vier Jahre, bis Mitte 2012 (auf Antrag der Patientenvertreter!) im Gemeinsamen Bundesausschuss (AG Soziotherapie-PHKP) die Beratungen über die Neufassung der Soziotherapierichtlinie wieder aufgenommen wurden. Nach einer Expertenanhörung im Jahr 2013 liegt nun ein Entwurf einer Neufassung vor. Hierzu läuft aktuell ein schriftliches Stellungnahmeverfahren.

Die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie hält die Überarbeitung der Soziotherapierichtlinie für überfällig und unterstützt die Neufassung mit Nachdruck.

Viele Veränderungen stellen allein redaktionelle Verbesserungen und Festlegungen dar, die sich als Konsequenz von Gerichturteilen als unvermeidlich ergeben haben. Beispielsweise wird Soziotherapie jetzt über einen Zeitraum von drei Jahren hinaus möglich. Aber es werden auch weitergehende Veränderungen vorgesehen, wie beispielsweise die Öffnung des Indikationsspektrums für Patienten mit schweren, weiteren Diagnosen (nicht nur Patienten mit schizophrenen Störungen). Andere Veränderungen sind offenbar noch umstritten zwischen den Fraktionen im GBA, etwa die Ausweitung der Verordnungsbefugnis auf Ärzte in Psychiatrischen Institutsambulanzen und in sozialpsychiatrischen Diensten.

Aus Sicht der DGVT wird die Überarbeitung der Soziotherapierichtlinie aber nur dann zu einer verbesserten Inanspruchnahme führen, wenn weitere Veränderungen in Angriff genommen werden: Eine deutlich verbesserte Vergütung für die Leistungserbringer und Erleichterungen in der rigiden Zulassungspraxis durch die Krankenkassen. Die Zulassungen für soziotherapeutische Leistungserbringer orientieren sich bislang noch weitgehend an einem Kriterienkatalog des GKV-Spitzenverbandes, der bereits seit sechs Jahren aufgrund gesetzlicher Änderungen nicht mehr in Kraft ist und demzufolge nicht mehr angewandt werden soll. Hier ist der GKV-Spitzenverband in der Pflicht darauf hinzuweisen, dass vor dem Hintergrund des regionalen Bedarfs geeignete Anbieter zuzulassen sind und dass dafür praktikable Regelungen gefunden werden müssen. Schließlich ist die Ausweitung der verordnungsfähigen Ärzte auf psychotherapeutisch tätige Ärzte, auf Ärzte in Sozialpsychiatrischen Ambulanzen und Diensten und auch auf Psychologische Psychotherapeut/innen und Psychotherapeuten notwendig, damit die Soziotherapie tatsächlich eine zusätzliche Behandlungsoption für schwer psychisch kranke Menschen darstellt, die auch von den Therapeuten/Ärzten indiziert und von den Betroffenen in Anspruch genommen wird.

Dass es möglich ist, Soziotherapie wirklich flächendeckend anzubieten und sie auch in erheblichem Umfang in Anspruch genommen wird, zeigt das Beispiel Rheinland-Pfalz. Hier haben, guter Wille bei den regionalen Krankenkassen vorausgesetzt, die Spitzenverbände der Wohlfahrtsbände bereits im Jahr 2002 mit den Krankenkassen-Landesverbänden eine Rahmenvereinbarung geschlossen, auf deren Grundlage inzwischen eine große Zahl an soziotherapeutischen Leistungserbringern zur Zufriedenheit der Beteiligten tätig ist.

Da nach nunmehr zehn weiteren Jahren bislang erst in Baden-Württemberg und im Saarland einigermaßen vergleichbare Regelungen etabliert wurden, zeigt sich, dass der Gesetzgeber aktiv werden muss. Neben dem allgemeinen Auftrag (im SGB V) zur Ermöglichung von Soziotherapie an die Krankenkassen und den GBA muss er auch deutlichere Forderungen und Standards vorgeben – die sog. gemeinsame Selbstverwaltung (in der die Soziotherapeuten weder Sitz noch Stimme haben) ist offenbar nicht willens und nicht in der Lage, für eine flächendeckende Versorgung von schwer psychisch kranken Menschen in Deutschland zu sorgen.

 

Literatur

Gemeinsamer Bundesausschuss (2008). Ursachen für die Umsetzungsproblematiken in der Soziotherapie Evaluationsbericht. Bericht der Geschäftsführung im Auftrag des Unterausschusses Soziotherapie. Fassung vom 17. Januar 2008.

Rössler, W. &Melchinger, H. (2012). Die ambulante Soziotherapie nach § 37a SGB V ist gescheitert. Psychiatrische Praxis, 39, 106-108.


[1]  Die Leistungserbringer müssen danach Fachkrankenpflegekräfte für Psychiatrie oder Sozialarbeiter/innen mit jeweils mehrjähriger Erfahrung in der Psychiatrie sein, davon ein Jahr in einer Psychiatrischen Klinik mit Versorgungsver­pflichtung und ein Jahr in einem ambulanten sozialpsychiatrischen Dienst. Sie müssen zudem umfangreiche Kenntnisse in der Psychiatrie nachweisen und ferner spätestens ein Jahr nach Zulassung ganztags in der Soziotherapie tätig sein. Durch den Wegfall von § 132b Abs. 2 SGB V mit dem GKV-WSG vom 26.3.2007 ist die Grundlage für diese Festlegung entfallen. Seitdem sind die Krankenkassen verpflichtet und ermächtigt, mit „geeigneten Personen oder Einrichtungen“ Verträge über die Versorgung mit Soziotherapie zu schließen ….


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