von Christian Reumschüssel-Wienert und Matthias Rosemann
Die derzeitige Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, in dieser Legislaturperiode sowohl die Eingliederungshilfe (EinglH) als auch das Teilhaberecht entscheidend zu reformieren. Hierzu wird im Koalitionsvertrag auf Seite 111 ausgeführt, dass die Bundesregierung plant „die Menschen aus dem Fürsorgesystem“ herauszuführen und die „Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht“ weiterzuentwickeln.
Für Menschen mit (seelischen) Behinderungen hat sich die EinglH von einem Ausfallbürgen zur Linderung von Notlagen zu einer Regelfinanzierung von Dienstleistungen für diese Zielgruppe und damit für Einrichtungen und Dienste entwickelt, die Aufgaben der Rehabilitation übernahmen, die „eigentlich“ den vorrangig zuständigen Sozialversicherungen obliegen. Einige Zahlen: Die Zahl der Leistungsempfängerinnen und -empfänger ist von 58000 im Jahr 1963 auf 405000 1995 und 820000 im Jahre 2012 angewachsen. Die Kostenentwicklung ist stärker gestiegen; zwischen 1995 und 2012 erhöhte sie sich von 6,7 Mrd. Euro auf 15 Mrd. Euro auf mehr als das Doppelte (Statistisches Bundesamt 2014). Diese Entwicklung sowie eine prognostizierte Fallzahlsteigerung setzen die kommunalen und überörtlichen Sozialhilfeträger unter einen erheblichen Druck.
Vor diesem Hintergrund sowie durch UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und SGB IX hat die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) der Länder 2007 eine Reform der Eingliederungshilfe auf den Weg gebracht, die seither als „ASMK-Prozess“ bekannt ist. Dieser Prozess mündete über mehrere Stationen 2012 in ein so genanntes Grundlagenpapier (Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2012). Ziel war es, die Eingliederungshilfe zu einer personenzentrierten, flexiblen Teilhabeleistung zu entwickeln, die Steuerungsmöglichkeiten des Trägers der Eingliederungshilfe zu erhöhen und Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu flexibilisieren. Hierzu gehörten im Wesentlichen:
Deutliche Kritik an den Vorschlägen
Insbesondere die erste Position entsprach weitgehend der, die schon vor mehr als einem Jahrzehnt durch den „personenzentrierten Ansatz“ der #Aktion Psychisch Kranke^ formuliert worden war. Auch andere Positionen, wie z.B. zur Planung, wurden von der Fachwelt zum Teil mit Wohlwollen aufgenommen. Dennoch formulierte eine Reihe von Verbänden auch eine deutliche Kritik an den Papieren. Insbesondere mit Blick auf die UN-BRK wurde in teils unterschiedlichen Positionen angemerkt:
Auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag formulierten Kritik am Grundlagenpapier. Sie beziehen sich eher auf Fragen der Kompetenzregelung bei Bedarfsermittlung, Steuerung und Vertragsrecht sowie möglicher Folgekosten von (neuen) Zuordnungen und Leistungen (Deutscher Städtetag 2012).
Aus Sozialrechtskreisen wurden Kritiken formuliert, die jedoch in eine andere Richtung gingen. Die prominenten Sozialrechtler Harry Fuchs und Felix Welti formulierten ihre Kritik vor dem Hintergrund des (reformbedürftigen) SGB IX. Sie betonten, dass die wesentlichen Positionen im SGB IX stehen und die Reformüberlegungen der ASMK hinter das Recht des SGB IX
zurückfallen. Sie fordern anstelle einer Reform der Eingliederungshilfe eine Reform des Rehabilitationsrechts (SGB IX), um die dort entstandenen Vollzugsdefizite (z.B. in der Koordination von Leistungen) bei allen Leistungsträgern zu beheben (Fuchs 2011; Fuchs/Welti 2010). Um diese Positionen entspann sich eine breite Diskussion (siehe hierzu die verschiedenen Beiträge in: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Forum D1.
Im Rahmen der Diskussion um die Föderalismusreform (EU-Fiskalpakt) wurde die Forderung nach einem so genannten Bundesleistungsgesetz, also der Überführung der Eingliederungshilfe in ein eigenständiges Gesetz, virulent und mündete 2012 in eine Bundesratsinitiative Bayerns (Deutscher Bundesrat 2013). Im Anschluss entwickelte eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein „Grundlagenpapier“ zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe, das, unter Einbeziehung der Ergebnisse des Fiskalpakts und der Bundesratsinitiative, nahtlos in die Konzeption eines „Bundesteilhabegesetzes“ – wie es nun wohl heißen wird – eingeflossen ist.
Eckpunkte des Entwurfs
Im September 2013 wurde der erste Entwurf eines Berichts für die ASMK zu einem Bundesleistungsgesetz erstellt, in den natürlich auch die Positionen der vorhergehenden Papiere eingeflossen sind. Die Eckpunkte dieses Entwurfs sind (zum Folgenden: Länderarbeitsgruppe der ASMK 2013):
Auf einer Tagung* der neuen Behindertenbeauftragten Verena Bentele am 17. Februar 2014 in Berlin wurden die Positionen hierzu noch einmal verdeutlicht (siehe hierzu Rosemann/Reumschüssel-Wienert 2014).
Deutlich wurde hinsichtlich der Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe auch, dass von vielen Akteuren ein so genanntes Bundesteilhabegeld gefordert wird. Hierbei handelt es sich um einen Geldbetrag (ca. 650 Euro pro Monat), der als Nachteilsausgleich an Menschen mit einer anerkannten Behinderung ausgezahlt werden soll. Sofern diese Menschen auch Sachleistungen der Eingliederungshilfe (z.B. betreutes Wohnen) in Anspruch nehmen, soll dieses bis zu einem freien Betrag von zirka 125 Euro angerechnet werden – so jedenfalls erste, eher informelle Überlegungen.
Eckpunktepapier der Verbände
Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege verhalten sich bisher recht abwartend zu dem Vorschlag eines Bundesteilhabegeldes und fordern zunächst ein Gesamtkonzept zur Ausgestaltung eines Bundesgesetzes (vgl. auch zum Folgenden: BAG der freien Wohlfahrtspflege 2013). Hierzu legen sie ein Eckpunktepapier vor, das sich stark auf die UN-BRK bezieht und eine Neudefinition des Behindertenbegriffs fordert. Hiervon ausgehend wird eine unabhängige Beratung gefordert sowie ein Zugang zu Teilhabeleistungen, der keine „Heranziehung“ bedeutet und das Wunsch- und Wahlrecht sowie das personenzentrierte Bedarfsdeckungsprinzip UN-BRK-konform berücksichtigt. Darüber hinaus wird gefordert:
Weiterhin wird die Beachtung von Schnittstellen zu anderen Gesetzen im Rahmen einer Gesamtstrategie angemahnt sowie die Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden zur Schaffung einer angemessenen „inklusiven“ Infrastruktur „vor Ort“.
Weitere Stellungnahmen
Die Städte und Gemeinden fordern nach wie vor eine schnelle Umsetzung eines Bundesteilhabegesetzes. Hierbei ist ein finanzielles Interesse nicht zu übersehen, da sie zum einen die strenge Kostenneutralität einer Reform fordern und andererseits durch die Einführung eines Bundesteilhabegeldes wesentliche Entlastungen der kommunalen Eingliederungshilfe erwarten. Dies wurde auf der oben genannten Veranstaltung deutlich (siehe auch: Deutscher Landkreistag 2014).
Einen eigenständigen Gesetzentwurf präsentiert das #Forum behinderter Juristinnen und Juristen^2. Der Entwurf lehnt sich strikt an die Vorgaben der UN-BRK an und betont die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen. Entsprechend steht die Herauslösung der Hilfen zur Teilhabe aus dem Fürsorgesystem, ein Bundesteilhabegeld, unabhängige und trägerübergreifende Beratung/Planung, die Stärkung Persönlicher Budgets und Assistenz sowie ein Budget für Arbeit im Zentrum dieses Entwurfes.
Die Gemeindepsychiatrie muss eigene Positionen entwickeln!
Für die gemeindepsychiatrischen Hilfen ist die Eingliederungshilfe der wichtigste Pfeiler. Aus diesem Grunde ist es notwendig, zu diesen Vorhaben eine Position zu entwickeln und sich aktiv in die Politik einzumischen. Hierbei erscheinen – neben anderen, die mit entsprechenden Verbänden abzusprechen sind – folgende Bereiche besonders relevant: die Ausgestaltung der Leistungen, die Stellung des Leistungsträgers zum Leistungsberechtigten und zu den Leistungserbringern, das Bundesteilhabegeld sowie die Beibehaltung des Bedarfsdeckungsprinzips.
Die gemeindepsychiatrisch aktiven Verbände sind dringend aufgerufen, innerhalb ihrer Organisationen, aber auch in den "Kontaktgesprächen Psychiatrie" die Diskussion aufzunehmen und gemeinsame Positionen und Strategien zu entwickeln.
Nach mehreren Anläufen verschiedener Bundesregierungen ist das SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – 2005 in Kraft getreten. Im Wesentlichen hat es das vormalige Schwerbehindertenrecht sowie das Reha-Angleichungsgesetz zusammengeführt und sprachlich auf eine neue, ICF-kompatible* Grundlage gestellt. Darüber hinaus hat es das „trägerübergreifende Persönliche Budget“ gebracht. Es ist in weiten Teilen ein übergreifendes Gesetzeswerk, das andere Sozialgesetzbücher aber nicht wirklich beeinflusst und vereinheitlicht. Hier liegen auch die wesentlichen Defizite dieses Gesetzes, das daran krankt, dass die Regelungen zu wenig Bindungswirkung entfalten und es nicht umgesetzt wird. So gibt es keine allgemeinen Voraussetzungen, Modalitäten und Verfahren hinsichtlich der Rehabilitation und Teilhabe. Das Recht der einzelnen Sozialrechtsbereiche geht immer vor den allgemeinen Regelungen des SGB IX. Die ausführlichen Regelungen zur Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger werden nicht umgesetzt. Dasselbe gilt für das Persönliche Budget. Es sind nicht alle relevanten Leistungsträger als Rehabilitationsträger benannt; dies gilt zum Teil für das SGB XII, aber vor allem für das SGB II und SGB XI.
Die Regierungskoalition hat sich, wie gesagt, zum Ziel gesetzt, auch das SGB IX zu einem „modernen Teilhaberecht“ zu entwickeln. Allerdings ist noch nicht klar, wie die Bundesregierung sich das vorstellt; entsprechende Aussagen, Erklärungen oder „Eckpunkte“ gibt es noch nicht.
Die Reform der Eingliederungshilfe ist jetzt viele Jahre diskutiert und sollte deshalb in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Die Reform des SGB IX und der dazugehörigen Leistungsgesetze kann dazu parallel angefangen werden; ihretwegen auf die Reform der Eingliederungshilfe zu verzichten, birgt hohe Risiken.
Christian Reumschüssel-Wienert ist Referent für Psychiatrie und Queere Lebensweisen im Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin und Vorsitzender der Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (BGSP). Matthias Rosemann ist Geschäftsführer von Träger gGmbH, Berlin, und Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde e.V. (BAG-GPV).
Literatur bei den Autoren (E-Mail: reumschuessel(at)paritaet-berlin(dot)de).
Anmerkungen:
1 www.reha-recht.de
2 www.teilhabegesetz.org
* Tagungstitel: „Das neue Teilhaberecht – oder wo stehen wir und wie geht es es weiter mit den Rechtsgrundlagen für Menschen mit Behinderungen“.
** ICF = International Classification of Functioning, Disability and Health (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit).
[1]Quelle: soziale psychiatrie, 145, Ausgabe 3 (Juli 2014); Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autoren.