von Eckardt Johanning
Zunächst weltweit als sozialpolitische Errungenschaft gelobt, entwickelt sich die Gesundheits-reform des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama immer mehr zum Debakel. Nicht nur politische Gegner, sondern auch viele BürgerInnen lehnen die „Obamacare“ genannte Reform ab. Eckardt Johanning berichtet über die aktuelle Stimmung in den USA.
Neulich war ich beruflich in Brainerd, im Norden von Minnesota, nicht weit von der kanadischen Grenze entfernt. Auf der Toilette hörte ich einen älteren Mann so stark husten und keuchen, dass ich dachte, er brauche meine ärztliche Hilfe. Ich fragte ihn, ob er keine Medikamente gegen seine Bronchitis nehme. Da sagte er mir kurzatmig, er habe keine Krankenversicherung und warte auf die neue „Obama-Versicherung“. Bis dahin müsse er versuchen zu überleben, so gut es gehe – eine reguläre Krankenversicherung könne er sich nicht leisten. Würde der Mann nur ein paar Kilometer weiter nördlich in Kanada wohnen, hätte er dieses Problem nicht.
Versicherungspflicht für alle
Die „Obama-Versicherung“ ist Teil der bedeutsamsten Gesundheitsreform in den USA seit Einführung der staatlichen Programme „Medicare“ und „Medicaid“ (siehe Kasten auf der nächsten Seite) in den 1960er Jahren. Das von US-Präsident Barack Obama unterzeichnete Gesetz, „The Patient Protection and Affordable Care Act“ (PPACA), kurz „Affordable Care Act“ (ACA) oder Obamacare genannt, trat 2010 in Kraft. Es umfasst eine Vielzahl von Regelungen, die stufenweise umgesetzt werden.
Im Kern schreibt das Gesetz vor, dass jeder bislang nicht oder nur unzureichend Versicherte eine private Krankenversicherung abschließen muss. Die Frist zum Abschluss einer solchen Versicherung ist Ende März 2014 abgelaufen. Wer den Termin verpasst hat oder sich weigert, eine Versicherung abzuschließen, wird mit der nächsten Steuererklärung eine Strafe zahlen müssen. Der nächste Termin für die Einschreibung in eine Versicherung ist für Herbst 2014 vorgesehen.
Obama erklärte es als Erfolg seiner Regierung, dass bis zum Stichtag, dem 1. April 2014, von rund 50 Millionen Nichtversicherten in den USA 7,1 Millionen eine Versicherung abgeschlossen hätten. Dafür waren im Internet sogenannte health exchanges eingerichtet worden, Anbieter-Plattformen, auf denen die BürgerInnen aus den verschiedenen Angeboten der privaten Krankenversicherer wählen und den Vertrag abwickeln konnten – was aufgrund von technischen Problemen nicht reibungslos verlief und Gegner der Reform sichtlich freute. Nach Schätzungen des Congressional Budget Office (CBO), der parteiunabhängigen Forschungseinrichtung des US-Kongresses, soll die Zahl der Versicherten in 2015 auf 13 Millionen und ein Jahr später auf 22 Millionen wachsen.
Allerdings gibt es konzeptionelle Probleme, weil sich zunächst in der Mehrzahl die älteren und „krankheitsanfälligeren“ Menschen angemeldet haben und somit nicht genügend junge und gesunde Beitragszahler vorhanden sind. Auf diese Art und Weise wird die Rechnung für die privaten Versicherer nicht aufgehen. Und ob das Gesetz die Situation in den USA wirklich verbessern kann, die ein sehr teures und zugleich ineffektives Gesundheitssystem haben, wird von vielen bezweifelt.
Gesundheitsausgaben
Im Jahr 2012 wurden in den USA 17,2 Prozent des Bruttosozialprodukts, was 2,8 Milliarden US-Dollar entspricht, für die Gesundheitsversorgung ausgegeben – ein Zuwachs von 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mit den stetig steigenden Gesundheitsausgaben liegt das Land im internationalen Vergleich mit an der Spitze. Das durchschnittliche Jahreseinkommen einer US-Amerikanerin/eines US-Amerikaners lag in 2012 bei 51.017 US-Dollar. Davon wurden im Durchschnitt 8.915 US-Dollar für die Gesundheitsversorgung ausgegeben.
Dabei klafft die Einkommensschere zwischen der Mittelschicht und den Reichen immer weiter auseinander. Während die Mittelschicht seit 1967 einen Einkommenszuwachs von etwa 19 Prozent verzeichnen konnte, erzielten die oberen 5 Prozent im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von 67 Prozent.
Zugang zum Gesundheitssystem
2012 hatten 48 Millionen Menschen oder 15,4 Prozent der US-Bevölkerung (circa 313 Millionen) keine Krankenversicherung, davon waren 6,6 Millionen Kinder (8,9?%). Etwa 20 Prozent der Nichtversicherten sind sogenannte illegale EinwanderInnen und andere Nicht-US-AmerikanerInnen.
In einer Umfrage von 2013 gaben mehr als die Hälfte (57?%) der Befragten mit einer Krankenversicherung an, Arztbesuche aufzuschieben, weil sie sich die Zuzahlungen, die privat finanziert werden müssen, nicht leisten könnten. Bei den Nichtversicherten, die eine zeitgerechte Behandlung hinauszögerten, lag die Zahl bei 83 Prozent. Ein Fünftel der Versicherten gab an, dass ihre Krankenversicherung bestimmte notwendige ärztliche Leistungen nicht decken würde und sie deswegen schon in finanzielle Schwierigkeiten geraten seien.
Nicht bezahlbare Krankenhaus- und Arztrechnungen waren im Jahr 2013 der häufigste Grund für eine Privatinsolvenz in den USA, noch vor Kreditkarten- oder Hypothekenschulden. Rund zwei Millionen Menschen sind jährlich betroffen. Etwa 15 Millionen Menschen verwenden ihre gesamten Ersparnisse, um Krankenhaus- und Arztrechnungen zu bezahlen.
Das soll sich mit Obamacare ändern. Das Gesetz soll den Zugang zum Gesundheitssystem auch für diejenigen finanziell absichern, die ein zu geringes Einkommen haben oder die bei einem der vielen klein- und mittelständischen Betriebe arbeiten, die keine Krankenversicherung als betriebliche Leistung anbieten. Auch Menschen, die wegen bestimmter Vorerkrankungen bislang von den Krankenkassen abgewiesen wurden, weil die Risiken und absehbaren Versorgungskosten für zu hoch geschätzt wurden, sollen davon profitieren.
Reform als Wahlkampfthema
Im anstehenden Kongress-Wahlkampf im Herbst wird die Gesundheitsreform wohl zum wichtigsten politischen Angriffsziel der Republikaner und Tea Party-Anhänger werden. Debatten und Entscheidungen zu einer längst überfälligen Immigrationsreform wurden auf unbestimmte Zeit verschoben, damit sich die politischen Gegner auf die Kritik und Sabotage von Obamacare konzentrieren können. Alle bürokratischen Probleme beim Abschluss einer „Obama-Versicherung“, wie die Probleme mit der Internetseite zur Registrierung, komplizierte Einschreibeverfahren, erhöhte Versicherungsprämien für bereits Versicherte und vieles andere mehr, werden bereits jetzt in den Medien und auf Bürgerversammlungen aufgebauscht. Die Gesundheitsreform wird von den Konservativen als Angriff auf den amerikanischen Grundsatz der persönlichen Freiheit umgedeutet.
Versprechen nicht eingelöst
Das bereits bestehende komplexe, teure und ineffiziente Krankenversicherungssystem in den USA wird durch das neue Gesetz sicherlich nicht einfacher und besser. Es ist selbst kompliziert und lang (der Papierberg der Vorschriften und Regelungen ist über zwei Meter hoch), die Versicherungsprämien sind trotz vergleichbarer VersicherungskundInnen und -gesellschaften regional und in den verschiedenen Bundesstaaten unterschiedlich hoch.
Ein weiteres Problem: Versicherungen kündigten teilweise bereits bestehende Verträge, um mit einem neuen Versicherungsabschluss das „Risiko” neu bewerten und die Prämien entsprechend (in der Regel nach oben) anpassen zu können. Und obwohl das Gesetz das Adjektiv „affordable“, also bezahlbar, im Namen trägt und vorgibt, jeder könne sich nun eine Versicherung „leisten”, ziehen es viele BürgerInnen vor, eine Steuerstrafe zu zahlen und sich nicht versichern zu lassen – zumindest solange es noch geht.
KritikerInnen werfen Obama außerdem vor, die Reform würde die grundlegenden Probleme des privaten Versicherungsmarktes in den USA nicht lösen. Dazu gehört etwa, dass es in den Kliniken zunehmend Versorgungsengpässe bei häufig verwendeten Medikamenten gibt und dass Medikamente, die in der Grundversorgung von Diabetikern, Hypertonikern oder anderen chronisch Erkrankten gebraucht werden, immer teurer werden. Die US-amerikanische Pharmalobby gibt Europa die Schuld an dieser Entwicklung, da dort Medikamentenpreise häufig gesetzlich begrenzt würden. Die AmerikanerInnen müssten den Gewinnausfall der Unternehmen durch Zuzahlungen ausgleichen. „Die Europäer leben auf unsere Kosten“, heißt es auch in einem Artikel der New York Times, der Anfang April erschienen ist. Die Heilmittel- und Pharmaindustrie agiere nun mal global und durch Staaten wie Deutschland, die die Preise staatlich kontrollieren, sei in Europa nicht das gleiche Geld zu verdienen wie in den USA.
Kritik von Ärzteorganisationen
Die kritische Ärztevereinigung Physicians for a National Health Program (PHNO), die ein umfassendes und unkompliziertes Krankenversicherungssystem fordert, bemängelt die Reform als unzureichend und lückenhaft. Die PHNO, die in den USA mehr als 19.000 Mitglieder hat, tritt seit 1987 für ein Modell ein, das dem Versorgungssystem in Kanada ähnelt. Dort gibt es ein staatlich kontrolliertes und aus Steuern finanziertes System, das auf dem Canada Health Act von 1984 basiert und mit dem National Health Service in Großbritannien vergleichbar ist. Es sichert den kanadischen BürgerInnen den Zugang zu einer weitgehend kostenlosen Primärversorgung durch meist private Gesundheitsanbieter, wobei die Regierung den Versorgungsstandard steuert. Auch andere Ärzteverbände wie zum Beispiel die American Society of Clinical Oncology sowie prominente Professoren und Klinikchefs treten für ein solches System ein.
Margaret Flowers, eine Kinderärztin, die seit 2007 als eine der KämpferInnen für ein neues, umfassenderes staatlich finanziertes und kontrolliertes Gesundheitssystem in den USA – „ein Medicare-System für alle“ – eintritt, bezeichnete Obamacare als „Betrug“. Mit dem Gesetz würden Milliarden US-Dollar aus öffentlicher Hand für einen riesigen Bürokratie-Apparat und die privaten Versicherungsunternehmen ausgegeben. Flowers hat keine Krankenversicherung. Sie verweigert Obamacare aus Gewissensgründen und beteiligt sich auch an einer Verfassungsklage. Diese soll klären, ob der Staat seine BürgerInnen dazu verpflichten darf, eine private Krankenversicherung abzuschließen.
Negative Einstellung überwiegt
Die „Krankenversicherungs-Verweigerin“ Flowers ist mit ihrer Kritik bei Weitem nicht alleine. In einer Umfrage im März 2014 gaben die meisten der Befragten (46?%) an, dem Gesetz gegenüber negativ eingestellt zu sein. Nur 38 Prozent hatten einen „positiven Eindruck“. Als Grund für die ablehnende Haltung wurden an erster Stelle die Kosten genannt (23?%), gefolgt von dem „staatlichen Zwang zur Versicherung“ (17?%) und der Ablehnung jeglicher „staatlichen Einmischung“ (10?%). Die BefürworterInnen hingegen sagten, dass durch die Reform der Zugang zum Gesundheitswesen erleichtert (61?%) und die Krankenversicherung bezahlbar würden (10?%) und dass sie für das Land und die Bevölkerung insgesamt eine Verbesserung darstelle (7?%).
Nachbessern!
Die Gesundheitsreform wird gegenwärtig von einem Großteil der US-AmerikanerInnen diskutiert. Die allgemein ablehnende Haltung ändert sich dabei langsam – mehr und mehr scheint deutlich zu werden, wie sich die positiven Aspekte des Gesetzes auswirken könnten. Mittlerweile spricht sich eine Mehrheit dafür aus, das Gesetz zwar zu erhalten, aber nachzubessern (49?%). Nur 11 Prozent wollen es wie die Republikaner durch ein Neues ersetzen oder ganz abschaffen (18?%).
Dabei gibt es auch in den politischen Lagern erstaunliche Gemeinsamkeiten. Sowohl Demokraten als auch Republikaner wollen verschiedene Punkte der Reform erhalten: etwa den Einschluss von Kindern in den Familienplan (bis zum Alter von 26 Jahren), die Kostenerstattung von Medikamenten, die nicht durch Medicare abgedeckt werden, die finanzielle Unterstützung von Gering- und Mittelverdienern, die Abschaffung der Eigenbeteiligung bei präventiven Leistungen, die Erweiterung von Medicaid sowie das Verbot, dass private Krankenkassen Personen mit Vorerkrankungen ablehnen dürfen.
Ein Bundesstaat als Hoffnungsträger
Vielleicht geht Vermont, der kleine „grüne“ Bundesstaat im Nordosten der USA, der Nation mit gutem Beispiel voran, wenn dort im Jahr 2017 ein staatlich organisierter „Single-Payer Health Plan“ in Kraft tritt. Damit soll künftig eine Krankenversicherung realisiert werden, die mit weniger Bürokratie und geringeren Kosten eine allgemeine Krankenversicherung für alle BürgerInnen im Staat Vermont ermöglichen soll.
Aber wie wir alle wissen, Vermont ist nicht Texas! Und ein „Solidarprinzip“, wie ich es aus Deutschland kenne, gilt vielen in den USA eher als Schimpfwort und Schreckgespenst denn als Errungenschaft. Noch immer werden Eigenverantwortung und Individualität als verfassungsrechtliche und kulturelle Güter verteidigt.
In der Zwischenzeit hat sich der einzige parteiunabhängige und etwas eigenwillig fortschrittliche Senator aus Vermont, Bernie Sanders, in einem „Untersuchungsausschuss für gesundheitliche Grundversorgung, Bildung, Arbeit und Renten“ mit den Gesundheitssystemen in Kanada, Taiwan, Dänemark und Frankreich beschäftigt. Die Systeme in diesen Ländern würden die Gesundheitsversorgung als ein „humanes Grundrecht“ betrachten. Dort habe man nahezu eine vollständige Versorgung erreicht und einen universellen Zugang ermöglicht. Sanders sagt: „Es wird Zeit, dass die USA den restlichen industrialisierten Ländern in der Welt beitreten und den Zugang zum Gesundheitssystem als ein Grundrecht verankern und sichern, und es nicht mehr nur ein Privileg der Reichen ist.“
Mehr Informationen zum Thema:
www.consumerreports.org/health/resources/pdf/ncqa/The_Affordable_Care_Act-You_and_Your_Family.pdf
Infokasten: Verteilung der Gesundheitskosten in den USA in 2012
blau US-Staaten / rot private Haushalte / grün private Wirtschaft / lila U.S. Bund (Medicare/Medicaid)
Medicare ist ein nationales Krankenversicherungssystem, das 1966 in den USA eingeführt wurde und das von einer Bundesbehörde zentral verwaltet wird. Es soll allen US-BürgerInnen über 65 Jahre, die während ihrer Lebensarbeitszeit monatliche Sozialversicherungsbeiträge geleistet haben, den Zugang zu den in den USA privat organisierten Gesundheitseinrichtungen ermöglichen. Zudem werden Menschen mit Nierenversagen, Sklerose (ALS) und bestimmten Behinderungen damit versichert. Fast die Hälfte der Krankenhauskosten (47,2?% oder rund 183 Milliarden US-Dollar) werden durch Medicare gedeckt (weitere Informationen: www.cms.gov).
Medicaid ist ein staatliches Krankenversicherungssystem für die Armen jeden Alters. Es wird von den einzelnen Bundesstaaten in den USA verwaltet und finanziert. Es ist das größte Versicherungssystem für Sozialhilfeempfänger mit einem Einkommen bis zu 133 Prozent oberhalb der Armutsgrenze. 2012 erhielten 46,5 Millionen Menschen, also 15 Prozent der US-Bevölkerung, Leistungen über Medicaid (weitere Informationen: www.medicaid.gov).
[1]Quelle: Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, 209, Mai/Juni 2014; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.