Mit den Versen „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen“, lässt Matthias Claudius „Urians Reise um die Welt“ aus dem Jahr 1786 beginnen.
Recht hatte er!
Wenn deutsche Gesundheitspolitiker oder Akteure deutscher Gesundheitspolitik reisen, berichten sie uns oft von wahren Wundern in den Gesundheitswesen anderer Länder!
Erinnern Sie sich, als die „Heimkehrer“ aus den USA von Managed Care schwärmten und diese 1:1 auch in Deutschland etablieren wollten? Alles, wirklich alles sollte mit dieser Wunderwaffe besser werden. Wie viele von Managed Care Ansätzen sind inzwischen in Deutschland erprobt worden, ohne dass eine Revolution im Gesundheitswesen ausgebrochen ist.
Aus Australien brachten die „Besucher“ die Australian DRGs (obwohl die französischen für unser System deutlich adäquater gewesen wären) mit, die wir prompt als German Refined implantiert haben, und jetzt beklagen wir, dass sich Krankenhäuser nach den durch diese DRGs gesetzten Anreizen „strecken“.
Dann brach das schwere, gefährliche Schweizer Kopfpauschalenfieber aus, an dessen Nachwirkungen wir noch heute kranken. Darauf reiste der gesundheitspolitische Tross in die Niederlande und plötzlich träumte alles vom niederländischen System. In Deutschland haben wir viel von NICE abgekupfert usw.
Reisen bildet eben und es ist sicherlich richtig, von anderen Gesundheitssystemen zu lernen, Gutes zu adaptieren und Schlechtes, Ineffizientes zu meiden.
Dazu sollte man aber nicht nur reisen, sondern sich in den Gesundheitswesen anderer Länder, deren Finanzierung, Struktur und Wirkmechanismen zumindest ein wenig auskennen.
Aber wie erkennen wir, was wirklich gut, was effizient, was finanziell wie wirksam ist?
Hier scheiden sich oft die Geister, z.T. aus reiner Schwärmerei für das „Andere“ oder aus Unwissenheit, aus nicht hinreichender Kenntnis der Fakten, der Strukturen, Kosten und Effizienz.
Aber wie kann der zu Hause Gebliebene diese Berichte, die Forderungen, z.B. nach Entlastung der Arbeitgeber, etc. im internationalen Kontext richtig einordnen?
Die dazu notwendigen Kenntnisse sind auf eigene Faust nicht einfach und schon gar nicht schnell zu generieren. Man findet zwar Etliches an Literatur, deren Hauptschwachpunkt oft ist, dass sie aus endlosen Zahlenreihen bestehen, deren Erhebungsbasis, Bedeutung und Relevanz der unkundige Leser kaum beurteilen und bewerten kann.
Zudem, was sozialpolitisch richtig ist, muss nicht finanziell tragbar sein und umgekehrt, reine Sparpolitik kann zu Wartezeiten führen, was niemand will und vieles, vieles mehr.
Man kann, wie wir aus Erfahrung wissen, nicht in simpler Manier einzelne Elemente aus einem in einen anderen Strukturzusammenhang übertragen, denn Wirkweisen werden auch durch den jeweiligen Strukturkontext bestimmt.
Sich durch andere Gesundheitssysteme hindurch zu arbeiten, unterschiedliche Aspekte, Zusammenhänge und Wirkungen zu beleuchten und zu gewichten, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, zu der im Arbeitsalltag kaum jemand die notwendige Zeit aufbringen kann.
Seriöse „Unterstützung“ ist demnach für viele, die sich nicht tagtäglich mit dieser Materie beschäftigen, für die gesundheitspolitische Debatte unabdingbar, und diese leisten Martin Schölkopf und Holger Pressel mit „Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich, Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik“, inzwischen in 2. Auflage, aktualisiert und erweitert erschienen.
Die beiden, im System aus anderen Zusammenhängen wohlbekannten Autoren analysieren Typologien und Entstehungsprinzipien unterschiedlicher Gesundheitswesen und kommen zu dem nicht unerwarteten Schluss, dass sich die real existierende Wirklichkeit mit diesen nur unzureichend beschreiben lässt.
Aber diese Typologien und Entstehungsprinzipien sind der einzig vernünftige Einstieg, um die bedeutsamen Unterschiede und vor allem die unterschiedlichen Traditionen und Denkweisen der Akteure verstehen zu können, zumal diese Denkweisen oft bestimmender für Entscheidungen sind als z.B. ökonomische Zwänge. Zudem sind Gesundheitswesen nichts Statisches, man sieht allein schon an einigen Tabellen, wie lang es auch in Europa gedauert hat, bis sich die Gesundheitswesen zum heutigen Stand entwickelt haben.
Die in diesem Band aus der Reihe „Health Care Management“ mit viel Sorgfalt zusammengestellten Länderberichte sind eine gute Quelle für eine schnelle Information über die Gesundheitswesen in den unterschiedlichen Staaten. Besonders erwähnenswert ist, dass in diese erweiterte Ausgabe auch die osteuropäischen Länder Eingang gefunden haben, die für viele von uns noch immer terra incognita sind.
Wer sich tiefer in das Gesundheitswesen eines Staates einarbeiten will, findet saubere Quellenangaben und weiterführende Literatur, ohne lang herumsuchen zu müssen.
Das Kapitel „Gesundheitsausgaben und ihre Finanzierung“ bietet weitaus mehr als übliche Arbeiten zu diesem Thema, denn es weist auf methodische Probleme offen hin, zeigt auch, wie problematisch derartige Vergleiche sind und dies ist nicht zuletzt ein Ausweis wissenschaftlicher Redlichkeit.
In der Wertung des vorliegenden Zahlenmaterials kommen die Autoren zu teilweise erstaunlichen Ergebnissen, die auch die politische Diskussion in Deutschland bei entsprechender Rezeption verändern könnte.
Eines dieser Ergebnisse, nicht das Spektakulärste, aber in seiner Bedeutung auch nicht zu vernachlässigen, ist die Bewertung der Verwaltungskosten der gesetzlichen Krankenkassen bzw. anderer Kostenträgersysteme im Vergleich, aber das Ergebnis soll hier nicht vorweggenommen werden, sondern bleibt der Lektüre vorbehalten.
Die Prognosen der Autoren sind auch nicht von jener „kecken“, Öffentlichkeit heischenden Art mancher Wissenschaftler, sondern höchst vorsichtig formuliert, auch dies deutet auf ein nicht interessengetriggertes, seriöses wissenschaftliches Interesse, was sich durch das gesamte Buch zieht.
Betrachtet man die Analyse der unterschiedlichen Finanzierungsweisen der untersuchten Länder und ihrer Implikationen, kommt der Leser schnell zu dem Schluss, dass die Art und Weise, wie wir das deutsche Gesundheitswesen finanzieren, trotz aller Probleme gar nicht schlecht ist und ein weiteres „Herumwerkeln“ an der Finanzierung gut überlegt sein will. Auch die Analyse des ambulanten wie des stationären Sektors zeigt Ergebnisse, die besonders in die aktuelle Diskussion, so in die um die Krankenhausreform, Eingang finden sollten. Das Kapitel Arzneimittelversorgung dürfte manchen Leser, insbesondere dann, wenn er Politiker ist, verwundern. Hier wird mit etlichen Mythen aufgeräumt und ein Licht auf den Arzneimittelmarkt im internationalen Vergleich geworfen, das weitaus näher an der Realität sein dürfte als viele andere Veröffentlichungen.
Hervorragend ist die Zusammenstellung, ebenso neu in der 2. Auflage, zur europäischen Gesundheitspolitik, in der Entwicklungsstränge aufgezeigt werden, die vielen in der deutschen Gesundheitspolitik immer noch nicht gegenwärtig sind, trotz aller Kongresse und Arbeiten zu diesem Thema.
Die Darstellung von Martin Schölkopf und Holger Pressel ist kurz, komprimiert und informativ.
Verdienstvoll ist auch eine Auflistung der europäischen Verbände mit kurzen Erläuterungen und wie überall in dieser Arbeit mit weiterführenden Hinweisen.
Ihr Fazit, dass in Zukunft die gesundheitspolitische Musik mehr und mehr in Brüssel und Straßburg spielen wird, müsste den einen oder anderen Akteur in der deutschen Gesundheitspolitik hellhörig werden und ihn eventuell sogar entsprechende Schlüsse ziehen lassen.
Ein Kapitel, nämlich das Kapitel 7, „Die Leistungsfähigkeit von Gesundheitssystemen: Effizienz, Qualität und Nutzerorientierung“, hat uns ratlos zurückgelassen. Nicht, weil die Autoren hier nicht die entsprechenden Daten vorgelegt und analysiert hätten, sondern weil, wie sie selbst konstatieren, die Messdaten und -methoden höchst problematisch erscheinen, die Einschätzung der Patienten von vielen Faktoren abhängt, die nicht in die Bewertung eingehen, nicht eingehen können.
Insbesondere die Wertung der Versorgungsniveaus nach Indices, wie z.B. in Fritz Beskes und Thomas Drabinskis Untersuchung, lassen die Stirn runzeln.
Betrachtet man dagegen einzelne Faktoren der Versorgung, dann findet man nur schwer zu einer Gesamtbetrachtung, welche die einzelnen Faktoren gewichten muss. Aber ist eine solche überhaupt notwendig?
Für die harten Indikatoren wie Überlebensdauer nach Erkrankungen, etc., fehlen zusätzliche Informationen, wie Multimorbidität, Alter, etc. Dasselbe gilt für die Einschätzung von Behandlungsfehlern von Patienten, zu denen profundes medizinisches Wissen notwendig ist.
Die Autoren wissen um die Problematik, schreiben dies sogar explizit, haben sich dennoch nicht um diese Darstellung „gedrückt“, was ihnen hoch anzurechnen ist.
Dies zeigt aber, auf welch` dünnem Eis die gesundheitspolitische Diskussion über eine Qualitätsorientierung Pirouetten dreht.
Dennoch glauben die Autoren, einen Nachholbedarf in Sachen Qualität und Outcome in Deutschland zu erkennen, für den sie selbstverständlich die entsprechenden Hinweise bieten.
Vor allem bringen sie den Leser dieses 7. Kapitels zu einem kritischen Überdenken vieler Positionen und Projekte und gerade dies zeichnet gute Arbeiten aus.
Einsteigern im Gesundheitswesen und in der Gesundheitspolitik sei eine ausführliche Lektüre von Martin Schölkopfs und Holger Pressels Arbeit liebevoll, aber dringlich ans Herz gelegt, aber auch Profis werden einige Einschätzungen revidieren müssen und dieses Buch als Nachschlagewerk schätzen lernen.
In unsere Handbibliothek, die wir tagtäglich nutzen, haben wir „Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich“ sofort eingestellt.
Martin Schölkopf, Holger Pressel, Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich, Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage 2014, ISBN 978-3-95466-101-5, 304 S., 69,95 €
[1]Quelle: Newsletter HIGHLIGHTS Magazin, Ausgabe 20/14 – 21. August 2014; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.