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Braucht die Schweiz ein neues Krankenversicherungssystem[1]


von Stefan Kaufmann, stellvertretender Geschäftsleiter der EGK-Gesundheitskasse in Laufen, Schweiz 

Am 28. September 2014 stimmt die Schweizer Bevölkerung bereits zum dritten Mal innerhalb von elf Jahren über einen fundamentalen Kurswechsel im schweizerischen Krankenversicherungssystem ab. Im Mai 2003 und im März 2007 wurde die so genannte Einheitskrankenkasse mit jeweils über 70 Prozent Nein-Stimmen klar abgelehnt. Aktuelle Befragungen zeigen jedoch, dass die Idee einer einzigen öffentlichen Krankenkasse in der Gunst der Stimmberechtigten stark gestiegen ist.

Seit der Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) am 1. Januar 1996 besteht in der Schweiz ein Krankenversicherungsobligatorium. Jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz muss eine Krankenpflegeversicherung, oft auch Grundversicherung genannt, abschließen. Bei welchem der aktuell 61 Krankenversicherer dies geschieht, ist den Versicherten überlassen – die Krankenversicherer müssen jeden Antragsteller ohne Gesundheitsprüfung vorbehaltlos aufnehmen. Die Leistungen, welche aus dieser Grundversicherung vergütet werden müssen, sind vom Gesetzgeber in einem Leistungskatalog vorgeschrieben und für alle Krankenversicherer gleich, freiwillige Leistungen gibt es nicht. Der Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern wird entsprechend ausschließlich über die Servicequalität und die Höhe der individuellen Prämien bestimmt, die nicht nur zwischen den Kassen, sondern auch je nach Kanton und Prämienregion (max. drei pro Kanton) unterschiedlich hoch ausfallen können.

Um diesen Wettbewerb attraktiv zu gestalten und auch die Gesundheitskosten besser kontrollieren zu können, sind in den vergangenen fast 20 Jahren unterschiedliche Versicherungsmodelle in den Bereichen Managed Care, Telemedizin und Hausarztmedizin entstanden. Der Gesetzgeber erlaubt dies den Versicherern unter der Voraussetzung, dass bestimmte Vorschriften und Richtlinien eingehalten werden.

49 Prozent für Systemwechsel

Seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) im Jahr 1996 werden allerdings immer wieder Stimmen laut, die eine einzige große Organisation, bei der alle Schweizerinnen und Schweizer versichert wären, für einfacher und effizienter halten. Das Ziel, eine solche Einheitskasse zu schaffen, haben denn auch die Initianten der eidgenössischen Volksinitiative «für eine öffentliche Krankenkasse», über die am 28. September an der Urne entschieden werden soll.

Eine Analyse des Forschungsinstituts GfS Bern aus dem vergangenen Jahr zeigt eigentlich, dass die Zufriedenheit mit dem aktuellen Krankenversicherungssystem an sich unverändert hoch ist. Dass der Ruf nach einem Systemwechsel trotzdem laut wird, hängt vermutlich eher mit einem gewissen Verdruss der Bevölkerung über die Akteure zusammen. Dies zeigt sich auch darin, dass die Zahl der Befürworter im Vergleich zu früheren Abstimmungen stark gestiegen ist: 49 Prozent der Befragten befürworteten bei der letzten Umfrage einen Systemwechsel, während ihn 38 Prozent ablehnten.

Die Versprechen der Initianten hören sich gerade für diese Bevölkerungsgruppe sicherlich verlockend an: Das Prämienwachstum soll verlangsamt werden. Die berüchtigte Jagd auf gute Risiken, also junge, gesunde Versicherte, würde unterbunden und die Behandlungsqualität im Bereich der chronischen Krankheiten verbessert. Tarifverhandlungen für alle Leistungserbringer würden aus einer Hand geführt. Zu hohe Prämien wären nicht mehr möglich, weil die Kantone ein Interesse an stärkerer Kostenkontrolle hätten. Und nicht zuletzt wird versprochen, dass es trotz obligatorischer Versicherung bei einem vorgeschriebenen Versicherer zu keiner Verstaatlichung des Gesundheitswesens käme, da Arztpraxen, Therapieangebote, ein Teil der Spitäler und der Zusatzversicherungsbereich in privater Hand blieben. Zudem würde die Einheitskasse eine Trennung von Grund- und Zusatzversicherungen garantieren, was zu mehr Kostentransparenz führte.

Was die Initianten dabei übersehen: Durch den verbesserten Risikoausgleich zwischen allen Krankenversicherern, der Anfang dieses Jahres durch die Schweizer Regierung verabschiedet wurde, lohnt sich die Jagd nach guten Risiken für die Krankenversicherern kaum mehr. Auch die gesetzliche Regelung der institutionellen Trennung von Grund- und Zusatzversicherung ist im Rahmen des geplanten neuen Aufsichtsgesetzes vorgesehen. Wenn ein Versicherer Grund- und Zusatzversicherungen anbietet, müssten diese juristisch getrennt sein. Es darf zudem bereits jetzt kein Informationsaustausch über Leistungen zwischen diesen beiden Bereichen stattfinden. Von den rund 60 Schweizer Krankenversicherern haben 44 diese Trennung allerdings bereits heute vollzogen. 

Verwaltungskosten bei nur fünf Prozent – Mengenwachstum bleibt

Tatsache ist, dass die Gesundheitskosten und damit auch die Prämien der obligatorischen Krankenpflegeversicherung Jahr für Jahr steigen. In diese Kerbe schlagen nun die Initianten der Einheitskassen-Initivative. «Kostenexplosion stoppen» lautet der wohl bekannteste Slogan, mit dem der Abstimmungskampf betrieben wird. Durch die Ausschaltung des Wettbewerbs könnten die Marketing- und Werbekosten eingespart, die Informatik- und die Verwaltungskosten gesenkt werden. Das Initiativkomitee geht mit dem Versprechen, dass damit auch die Prämien günstiger würden, mittlerweile allerdings sparsamer um: Die Verwaltungskosten der heutigen Krankenversicherer betragen im KVG-Bereich rund fünf Prozent der Prämieneinnahmen. Werbung und Marketing wiederum werden 99.7 Prozent aus dem Zusatzversicherungsgeschäft finanziert und haben damit keinen Einfluss auf die Prämienhöhe der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Ob eine Einheitskasse dies unterbieten könnte, ist im Hinblick darauf zu bezweifeln, dass andere Schweizer Sozialversicherungen wie die Invalidenversicherung IV hoch verschuldet sind oder – wie die Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV – viel höhere Verwaltungskosten verursachen.

Dass die Gesundheitskosten steigen, hat viel mehr unterschiedliche, zum Teil auch gesellschaftlich gewollte Gründe. Einer davon ist sicherlich der medizinische Fortschritt, der teurere Behandlungsmethoden und Medikamente mit sich bringt. Es ist jedoch auch nicht von der Hand zu weisen, dass die älter werdende Bevölkerung heute schlicht häufiger und rascher zum Arzt geht und Chirurgen schneller zum Skalpell greifen, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Dieses stetige Mengenwachstum ist die allergrößte Herausforderung der Zukunft mit Blick auf die steigenden Kosten und damit steigende Kopfprämien.

euer wäre gemäß einer Studie des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie auch die Umstellung auf eine einzige öffentliche Krankenversicherung. Der Prognose zufolge müssten rund 2.15 Milliarden Franken (1.77 Milliarden Euro) für die voraussichtlich zehn Jahre dauernde Einführungsphase des neuen Systems veranschlagt werden. Zahlreiche Fachleute halten diesen Betrag zudem für zu tief angesetzt. Die Umstellung würden die Initianten der Einheitskassen-Initiative gerne aus den Reserven der bestehenden Krankenkassen finanzieren, die aktuell bei ungefähr 6.5 Milliarden Franken (5.4 Milliarden Euro) liegen. Dieses Vorgehen ist jedoch höchst umstritten, da die Prämienreserven von Gesetzes wegen nur zur Deckung unvorhergesehener Kosten im Leistungsbereich benutzt werden darf. 

Wechsel nicht mehr Möglich

Es ist eine Errungenschaft des heutigen Systems, dass jeder und jede Versicherte unabhängig von seiner oder ihrer finanziellen Situation einen sehr guten Zugang zu einer hochstehenden medizinischen Versorgung hat. Dazu kommt, dass der Krankenversicherer relativ unbürokratisch gewechselt werden kann, wenn die Servicequalität nicht den eigenen Erwartungen entspricht. Mit einer Einheitskasse wäre dieser Vorteil nicht mehr gegeben. Diese sieht laut dem Initiativtext vor, dass jeder der 26 Kantone über eine einheitliche Prämie und eine kantonale Agentur verfügt, welcher alle im Kanton wohnenden Personen zugeordnet wären. Ein Wechsel wäre höchstens mit einem Umzug in einen anderen Teil des Landes möglich.

Ein von den Initiativgegnern in Auftrag gegebenes Gutachten sieht darin für viele Versicherte einen finanziellen Nachteil im Vergleich zum heutigen System. Laut Gutachter Ueli Kieser würden nicht nur die Prämienunterschiede zwischen den Kantonen, sondern auch sämtliche anderen Prämienabstufungen wegfallen. Heute variiert diese unter anderem nach Franchise (in vorgegebenen Abstufungen wählbar von 300 bis 2500 Franken), Prämienregion (je nach Leistungserbringerdichte) und Versicherungsmodell. Auch Familien profitieren von tieferen Prämien für Kinder bis 18 Jahre und junge Erwachsene bis 25 Jahre. Würde eine Einheitskasse eingeführt, wie sie der Initiativtext vorschreibt, würden insbesondere Familien und die Landbevölkerung im Vergleich zu heute benachteiligt.

Welche Folgen eine Einheitskasse tatsächlich nach sich ziehen würde, ist jedoch schwer abzuschätzen. Die Schweizer Regierung, der Bundesrat, ist dezidiert gegen die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung. Es nützt ja auch nichts, bei stetig steigendem Wasserkonsum den Wasserzähler auszuwechseln, um damit den Wasserkonsum einzudämmen!


[1]Quelle: Newsletter ‚HIGHLIGHTS‘, Ausgabe 20/14 – 21. August 2014; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


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