Im September fand in Berlin-Tiergarten im Novotel eine Fachtagung der BPtK statt zum hochaktuellen Thema „Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge“.
Mich hat zunächst überrascht, dass der Veranstaltungsraum, der knapp 200 Personen fasst, nicht gänzlich gefüllt war. Die BPtK, die die Tagung Ende letzten Jahres bereits plante, hatte einen Zeitpunkt für die Tagung erwischt, der aktueller nicht hätte sein können.
Der Präsident der BPtK, Dr. Dietrich Munz, erläuterte, dass mehr als die Hälfte der 800.000 Asylsuchenden psychisch krank seien. Allein in diesem Jahr ergäbe sich daraus die Zahl 400.000 psychisch erkrankter Asylsuchender. Davon würden aktuell aufgrund begrenzter Behandlungskapazitäten von den Einrichtungen, die der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF) angeschlossen sind, jährlich nur 4.000 behandelt.
Aufgrund des zeitlich parallel in Berlin stattfindenden Flüchtlingsgipfels der Bundesregierung konnte die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration der Bundesregierung, Staatsministerin Aydan Özo?uz, die Anwesenden nicht wie geplant persönlich begrüßen. In ihren schriftlichen Grußworten äußerte sie sich auch zu den gesundheitspolitischen Hürden bei der gesundheitlichen und psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen (Finanzierung von Dolmetschern, bundesweite Einführung der Gesundheitskarte für Flüchtlinge, Überprüfung der Leistungsbeschränkungen bei den Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge, Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie).
Im Namen der Bundesärztekammer begrüßte der Menschenrechtsbeauftragte, Herr Dr. Ulrich Clever, die Anwesenden und verdeutlichte, dass im Sinne der medizinischen Grundhaltung alle Menschen gleich zu behandeln seien, unabhängig davon, woher sie kommen und warum sie Schutz in Deutschland suchen.
Im ersten Fachvortrag zum Thema „Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen – Prävalenz, Symptome, Verlauf und Behandlung“ ging Prof. Dr. Christine Knaevelsrud (Freien Universität Berlin) darauf ein, dass das Asylbewerberleistungsgesetz zwar die Grundversorgung (Ernährung, Unterkunft, Leistungen bei akuter Erkrankung) erlaubt, sonstige Leistungen aber vom Einzelfall abhängig sind. So werden Behandlungskosten in den ersten 15 Monaten nur übernommen, wenn die Behandlung für die Gesundheit unerlässlich ist. Die Gesundheitskarte ermöglicht zwar ohne Beantragung das direkte Aufsuchen eines Arztes, allerdings nicht die Kostenübernahme von Dolmetschern – die Versorgung ist also kaum möglich.
Die Häufigkeit psychischer Störungen liegt bei Menschen, die aufgrund von Krieg oder Folter geflüchtet seien, deutlich höher als in der bundesdeutschen Allgemeinbevölkerung. Die häufigsten Krankheitsbilder sind Depression, Posttraumatische Belastungsstörungen und Somatoforme Störungen. Postmigrationsstressoren, wie ein ungesicherter Aufenthaltsstatus, der eingeschränkte Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und Arbeit/Ausbildung/Studium, Inaktivität und Hilflosigkeit sowie Massenunterkünfte, führten zur Verschlechterung der psychischen Gesundheit.
Für die Psychotherapie bei PTBS wird eine Kombination aus traumafokussiertem und multimodalem Ansatz empfohlen. Dieser erfordert eine enge Vernetzung mit anderen FachärztInnen, RechtsanwältInnen und SozialarbeiterInnen. Aus Sicht von Knaevelsrud werden zur verbesserten psychotherapeutischen Versorgung multimodale Therapieansätze, qualifizierte Begutachtung von Flüchtlingen und Dolmetscher benötigt.
Den zweiten Fachvortrag hielt Sabine Lübben von FATRA - Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil e. V. in Frankfurt am Main, einer psychosozialen Beratungsstelle für Flüchtlinge und Folteropfer.
Die 1993 gegründete Beratungsstelle bietet für Flüchtlinge eine kostenlose, psychosoziale Beratung an. Derzeit liegt die Wartezeit bei etwa einem Jahr. Bei etwa einem Drittel der Personen, die die Beratung in Anspruch nehmen, ergibt sich der Bedarf für eine psychotherapeutische Behandlung. Mit Hilfe eines engen Netzwerkes, bestehend aus niedergelassenen PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen, wird dann versucht die PatientInnen in die Regelversorgung zu integrieren. Die Finanzierung der Beratungsstelle erfolgt u.a. durch die UNO, das Land Hessen sowie die Stiftung der Quäker.
Lübben verwies auf die Notwendigkeit eines schrittweisen Vorgehens und der Trennung der Stufen Beratung, Behandlung und Begutachtung. Unter diesen Voraussetzungen zeigten sich PsychotherapeutInnen offen für die Vermittlung von PatientInnen über das Trauma-Netzwerk. Handlungsbedarf bestünde ihrer Auffassung nach auch im Kontext psychosozialer Stabilisierung – hier sollten psychologische und soziale Beratung stärker Hand in Hand gehen.
Den dritten Fachvortrag gestaltete Cornelia Reher, Leiterin der Flüchtlingsambulanz für Kinder und Jugendliche am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie berichtete, dass 1/3 aller Flüchtlinge minderjährig seien, davon wären etwa 90% be-gleitet. Die häufigsten Symptome der Kinder und Jugendlichen sind: Erneutes Einnässen (Kleinkinder), Halluzinationen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Suizid (-gedanken) und erhöhter Cannabiskonsum. Häufig kämen die Kinder und Jugendlichen aufgrund von Auffälligkeiten in der Schule. Hauptbelastungen von unbegleiteten Minderjährigen seien, die Schule (weil der Aufenthaltsstatus mitunter abhängig von den Schulleistungen ist), Schulden bei den Schleppern und Sorge um Familie.
Die Behandlung in der Flüchtlingsambulanz erfolgt überwiegend in Orientierung an die S3 Leitlinien für Traumaadaptierte Psychotherapie. Therapeutische Bestandteile sind Narrative Exposure Therapy (NET), traumafokussierte KVT und EMDR. Die Besonderheiten der Flüchtlingsambulanz als Medizinisches Versorgungszentrum mit KV-Sitzen für Psychotherapie und Psychiatrie sind, dass Medikamente ausgegeben werden dürfen, es alternative Therapiemöglichkeiten gibt (z.B. Kunsttherapie) und es vor Ort eine Sozial- und Schulberatung gibt. Als besondere Herausforderungen sehen die MitarbeiterInnen der Ambulanz die Vorgaben des Asylbewerberleistungsgesetzes, die sprachlichen Hürden und dass stationäre Aufenthalte fast nicht zu ermöglichen sind.
Erfahrungen und Handlungsbedarf beim Bremer Modell zur Verbesserung für die psychotherapeutische Versorgung von Flüchtlingen referierte im vierten Fachvortrag Frau Dr. Zahra Mohammadzadeh vom Gesundheitsamt Bremen.
Ein Baustein des Bremer Modells bildet die Gesundheitskarte für Flüchtlinge, die 2005 in Bremen und Hamburg eingeführt wurde. Diese Gesundheitskarte ermöglicht Arztbesuche ohne vorherige Beantragung bei Sozialämtern. Für die psychischen und psychosomatischen Belastungen, die zwischen 20-30% der Flüchtlinge aufweisen, lässt die Versorgung dennoch keine nachhaltige, erfolgreiche Behandlung zu. weil die Behandlung chronischer Erkrankungen ausgeschlossen ist und nur Kurzzeittherapien zugelassen werden.
Eine der durch das Bremer Modell herbeigeführten Verbesserungen ist die Vernetzung der Versorgungsträger. Die psychotherapeutische Versorgung ist aus Sicht der Referentin dennoch ausbaubar. Voraussetzungen dafür sind;
Eine bessere Feststellung von psychischen Störungen im Rahmen von Erstuntersuchungen, eine gesteigerte Sensibilität der an der Behandlung beteiligten Personen, Mehrsprachigkeit durch den Einsatz von Dolmetschern und ein direkter Übergang in die Regelversorgung.
Den letzten Fachvortrag hielt Elise Bittenbinder von der BafF, der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V.
Die Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren bewegt sich „im Spannungsfeld zwischen Asyl- und Menschenrechten“ und setzt auf eine starke Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen. Die psychosozialen Zentren bieten dabei teils Beratung, teils auch Behandlung an. Insgesamt können diese etwa 10.000 Klienten jährlich versorgen. Davon erhalten derzeit 88% eine allgemeine Beratung, etwa 3.000 Klienten (31%) sind in psychotherapeutischer Behandlung und 23% nehmen multimodale Angebote in Anspruch. Ein Zentrum behandelt dabei durchschnittlich 300 KlientInnen pro Jahr. Pro KlientIn stehen damit im Mittel 25 Minuten Beratungs- bzw. Behandlungszeit zur Verfügung. Teilweise wird aber auch nur eine Rechtsberatung mit anschließender Weitervermittlung o.ä. in Anspruch genommen. Die Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt derzeit etwa 13 Monate. Die Finanzierung erfolgt zu einem Großteil (95%) über Projektgelder (EU, Stiftungs- und Spendengelder), ein kleiner Teil stammt vom Sozialamt und vom Jugendamt. Frau Bittenbinder plädierte für die Unterstützung des Bremer Modells, welches u.a. eine Gesundheitskarte für Geflüchtete zur Verfügung stellt und neben einem deutlich verringerten Bürokratieaufwand zu insgesamt bis zu 22% Kostenersparnis führen kann. Sie forderte weiterhin eine grundlegende institutionelle Förderung der Komplexleistungen der Psychosozialen Zentren durch die Bundesregierung.
Nach der Mittagspause folgte eine Podiumsdiskussion zum Thema „Handlungsbedarf zur Sicherung einer angemessenen psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen“ mit folgenden Diskutanten: Frau Ute Bertram, CDU/CSU (MdB); Frau Maria Klein-Schmeink, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (MdB); Frau Birgit Wöllert, DIE LINKE (MdB); Frau Hilde Mattheis, SPD (MdB); Herrn Dr. Dietrich Munz (BPtK); Frau Elise Bittenbinder (BAfF); Frau PD Dr. Meryam Schouler-Ocak (DGPPN) und Herrn Dr. Ulrich Clever (BÄK).
Ute Bertram (CDU/CSU) betonte, dass es aktuell um die Lösung der akuten Flüchtlingsprobleme gehe. Dabei hätte die Verteilung und Unterbringung der Flüchtlinge zunächst Vorrang. Die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Flüchtlingen sei eine Herkulesaufgabe, die nicht kurzfristig zu lösen wäre. Die Ermächtigung von PsychotherapeutInnen und Flüchtlingszentren sei aber ein erster Schritt. Die Gesundheitskarte führe nicht wesentlich weiter; die Regelung der Gesundheitskarte sei Ländersache.
Hilde Mattheis (SPD) forderte dagegen die schnelle Sicherstellung einer besseren Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen. Dies sei "eine Belastungsprobe, die zu bewältigen ist". Das dürfe am Geld nicht scheitern. Man müsse anfangen, über "den Fetisch der schwarzen Null" für den Bundeshaushalt nachzudenken. Die Frage sei jedoch: "Was nützt den Menschen?" Es gäbe viele praxisorientierte Lösungsansätze. Das Problem sei, dass der Bund die Hilfen nicht ausreichend koordiniere. Wichtig sei es, ehrenamtliche Helfer, Sozialarbeiter und Lehrer anzuleiten, psychische Störungen bei Flüchtlingen zu erkennen.
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS/DIE GRÜNEN) forderte, dass "die Gesundheitsversorgung nicht in verschiedene Klassen eingeteilt werden dürfe". Flüchtlinge sollten über die Notfallleistungen an der Krankenversorgung partizipieren. Die Kosten dafür sollten durch den Bund getragen werden. Um die Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge zu verbessern, bedürfe es außerdem einer gesicherten Finanzierung der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.
Auch Birgit Wöllert (DIE LINKE) plädierte dafür, dass Flüchtlinge die gleichen Gesundheitsleistungen erhalten sollten wie deutsche Bürger: "Was medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, muss gemacht werden". Gleichzeitig müsse der deutschen Bevölkerung vermittelt werden, dass die Flüchtlinge ihnen nichts wegnehmen. Verbesserungen in der psychotherapeutischen Versorgung müssten parallel für alle PatientInnengruppen erzielt werden.
BPtK-Präsident Munz hob hervor, dass eine Behandlung psychisch kranker Flüchtlinge aufgrund fehlender Dolmetscher oft gar nicht möglich sei. "Wir brauchen eine gesicherte Finanzierung von Dolmetschern", stimmte ihm PD Dr. Meryam Schouler-Ocak zu. "Das Dogma, dass die gesetzliche Krankenversicherung keine Dolmetscherleistungen finanziert, muss aufgegeben werden", forderte der BÄK-Menschenrechtsbeauftragte Ulrich Clever. Für eine Aufnahme von Dolmetscherleistungen in den Leistungskatalog der GKV sprachen sich auch Maria Klein-Schmeink und Birgit Wöllert aus. Die beiden politischen Vertreterinnen der Regierungskoalition stimmten dieser fundamentalen Forderung nicht zu.
BAfF-Vorsitzende Elise Bittenbinder wies darauf hin, dass bundesweit viele ehrenamtliche Helfer ihr Bestes tun, um Flüchtlingen zu helfen: "Die Zivilgesellschaft überholt hier die Politik." VeranstaltungsteilnehmerInnen mahnten an, die Last nicht allein auf die Schultern von ehrenamtlichen Helfern zu legen. Es sei nicht die Aufgabe von Ehrenamtlichen, die Arbeit von Professionellen zu übernehmen. "Deutschland muss es sich erlauben dürfen, Geld für die Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge auszugeben", so Meryam Schouler-Ocak.
Breite Zustimmung fand die Forderung, die Einschränkungen in den Gesundheitsleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) aufzuheben. Die gesetzliche Unterscheidung zwischen akuten Erkrankungen, die behandelt werden dürfen, und chronischen Erkrankungen, die nicht behandelt werden dürfen, sei unmenschlich und fachlich nicht haltbar.
BPtK-Präsident Munz beendete die Veranstaltung mit der Aufforderung an die Politik, die Probleme bei der Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge gemeinsam mit der Profession zu lösen: "Wir Psychotherapeuten sind gerne bereit, dazu beizutragen, dass psychisch kranke Flüchtlinge eine angemessene Behandlung erhalten."
Dr. Mike Mösko, Alina Eckhard, Marlene Müller-Stephan & Kristin Wünsche
Arbeitsgruppe Psychosoziale Migrationsforschung
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Quelle: Rosa Beilage zur VPP 4/2015