Am 26. Januar 2016 wurde vom Berliner Senat ein Entwurf des Berliner PsychKG in das Abgeordnetenhaus von Berlin eingebracht. Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusehen, dass dieser Entwurf mehr oder weniger so vom Abgeordnetenhaus verabschiedet wird, da viele politische Kräfte und Akteure des Psychiatriesystems darauf drängen, eine eindeutige Gesetzesregelung herbeizuführen. Aus Sicht vieler Betroffenenverbände ist bedauerlich, dass mal wieder ein Gesetz erlassen werden soll, in dem nach § 28 die Zwangsbehandlung von untergebrachten Personen unter bestimmten Voraussetzungen und Maßgaben möglich ist. Insbesondere kann der natürliche Wille ersetzt werden, wenn sogenannte krankheitsbedingte Einwilligungsunfähigkeit vorliegt, um eine Einwilligungsfähigkeit überhaupt erst zu schaffen oder wiederherzustellen. In den anderen Entwürfen der einzelnen Bundesländer gibt es ähnliche Regelungen.
Dann im Nachhinein in Deutschland rechtlich dagegen vorgehen zu wollen, wäre wohl ein müßiges Unterfangen, da höchstwahrscheinlich argumentiert werden wird, die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011 umgesetzt zu haben. Dem Bundesverfassungsgericht lag ein Gutachten des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) vor, das ausdrücklich davon ausging, dass die zwangsweise Behandlung in die Rechts- und Geschäftsfähigkeit des Betroffenen eingreift und Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention demgegenüber zum Ausdruck bringt, dass jeder behinderte Mensch vor dem Recht die gleiche Anerkennung genießt wie der nicht behinderte Mensch und damit auch rechtlich handlungsfähig sein muss. Das hat die Richter offensichtlich nicht überzeugt. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass die UN-Behindertenrechtskonvention als Auslegungshilfe für Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann, mehr aber auch nicht, obwohl sie in Deutschland Gesetzeskraft hat. Es gibt vielmehr nach dessen Ansicht bei krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit ausnahmsweise eine Befugnis des Staates, den Einzelnen „vor sich selbst in Schutz zu nehmen“. Weil der Betroffene hilfsbedürftig ist, darf der Staat – nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – in diejenigen Grundrechte eingreifen, die der Betroffene allein krankheitsbedingt überbewertet und relativiert dadurch die „Freiheit zur Krankheit“.
Da half es dann wenig, dass sich das UN-Komitee in seinen Richtlinien zur Behindertenrechtskonvention aus der Sitzung im September 2015 wie folgt zur Freiheit der Person geäußert hat: „Die Vertragsstaaten müssen Methoden und gesetzgeberische Bestimmungen abschaffen, die eine Zwangsbehandlung erlauben oder zur Praxis machen und Entscheidungen in Bezug auf die körperliche oder mentale Integrität einer Person können nur aufgrund der freien und informierten Einwilligung der betroffenen Person getroffen werden.“
Nicht ausdrücklich angesprochen wurde in den Bundesverfassungsgerichtsurteilen die Frage der Menschenwürde, die aus Sicht vieler Betroffener bei Zwangsbehandlungen eklatant verletzt wird. Laut Grundgesetz ist die Würde des Menschen ja unantastbar, deshalb findet eine Abwägung mit anderen Grundrechten nicht statt. Jedoch wird der jeweilige Würdeanspruch konkretisiert, indem in der konkreten Situation wie der Zwangsausübung alle ins Spiel kommenden Grundrechte in ihrer Gesamtheit betrachtet und bewertet werden. Es gibt deswegen keinen einheitlichen Würdebegriff. Stattdessen definiert man die Würde des Menschen je nach Situation unterschiedlich. Hält das Bundesverfassungsgericht die Ausübung der Menschenwürde für unmöglich, wenn sogenannte krankheitsbedingte Einsichtsunfähigkeit vorliegt, sodass der Staat mit Zwangsbehandlung einschreiten darf, um dem Betroffenen dies zu ermöglichen? Diese Ansicht wäre sehr bedenklich, vielmehr kommt Betroffenen schon kraft ihres Menschseins ein Anspruch auf Menschenwürde zu.
Das weiterhin bestehende Spannungsfeld ist also nach wie vor brisant und gewaltig. Betroffene, die die zu erwartenden PsychKG nicht hinnehmen wollen, werden in Zukunft noch viel Überzeugungsarbeit auf sich nehmen müssen, wenn sich in der Beziehung noch mal was ändern soll.
Angela Scheffler ist Juristin, Übersetzerin und Mitglied des Netzwerks Stimmenhören e. V. Sie lebt in Berlin.
[1]Quelle: PSYCHOSOZIALE Umschau, Ausgabe 2/2016, 31. Jg.; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin.