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Das Bundesteilhabegesetz ist am 1.1.2017 in Kraft getreten


Im parlamentarischen Verfahren für ein Bundesteilhabegesetz wurden gegenüber dem Regierungsentwurf deutliche Verbesserungen erreicht. Das Bundesteilhabegesetz markiert den Auftakt für tiefgreifende Veränderungen und einen längst fälligen Systemwechsel.

Bis zuletzt haben sich Betroffene, Angehörige, Bezugspersonen und InteressenvertreterInnen gemeinsam für Nachbesserungen am Gesetzesentwurf eingesetzt. Allein in der Zeit von September bis November 2016 haben rund 20.000Menschen ihren Protest bei Demonstrationen und Kundgebungen auf den Straßen und Plätzen in verschiedenen Städten Deutschlands kundgetan. Unzählige Gespräche mit politisch Verantwortlichen und an die hunderttausend Postkarten an Bundessozialministerin Andrea Nahles haben zur Aufklärung beigetragen. Als einewesentliche Gesellschaftsgruppe sind Menschen mit Behinderung für ihre Rechte eingetreten, haben Politikaktiv selbst mitbestimmt und durch den Protest nicht nur ein Umdenken, sondern konkrete Veränderungenbewirkt. Die Proteste haben etwas bewegt. Sie sind ein eindrucksvolles Beispiel für Selbstbestimmung und gesellschaftlicheTeilhabe.

Gegenüber dem Regierungsentwurf wurden sogar einige Verbesserungen neu aufgenommen.

Beispielhaft werden hier einige genannt:

Ursprünglich war geplant, den Zugang zu Teilhabeleistungen erheblich einzuschränken. Dies konnte verhindert werden: Vorerst wird es keine Zugangsbeschränkungen zu den Teilhabeleistungen geben.

Die Prüfung der Anzahl der Lebensbereiche, in denen Unterstützung nötig wird, wurde auf das Jahr 2023 verschoben.

  • Leistungen werden künftig wie bisher möglich sein, wenn eine Behinderung droht bzw. nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

  • Der systemwidrige Vorrang Pflege vor Teilhabe und die damit verbundene Ausweitung der Selektion zwischen förder-/teilhabefähigen und nicht förder-/nicht teilhabefähigen Personen wurde zurückgenommen.

  • Der Gesetzgeber erkennt an, dass Wohnen eine besondere Bedeutung hat. Er hat klargestellt, dass der Wunsch bezogen auf das Wohnen in der eigenen Häuslichkeit stärker zu berücksichtigen ist. Das umstrittene „Poolen“ in der eigenen Häuslichkeit wurde deutlich abgeschwächt und die Begrenzung der Unterkunftskosten in besonderen Wohnformen wurde gestrichen.

  • Das Recht auf Sparen hat sich verbessert. Der Vermögensschonbetrag in der Sozialhilfe wurde von 2600 Euro auf 5000 Euro angehoben.

  • Das Arbeitsförderungsgeld für Beschäftigte in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung wurde mit der Erhöhung von 26 Euro auf 52 Euro verdoppelt.

  • Die Teilhabe an Bildung wurde erheblich verbessert, z.B. sind künftig auch Hilfen zum Besuch weiterführender Schulen möglich und die heilpädagogischen Maßnahmen zum Schulbesuch wieder Bestandteil der Eingliederungshilfe.

  • Ursprünglich war geplant, sonstige Leistungserbringer von der Teilhabeplankonferenz auszuschließen. Nun können Dienste und Einrichtungen wieder hinzugezogen werden und Menschen mit Behinderung erhalten ihren Gesamtplan ausgehändigt.

Was bleibt offen?

Wo besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf?

Das Gesetz ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem Systemwechsel. Dennoch entspricht es nicht den Leitgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention.

Der Paritätische geht deshalb davon aus, dass es in der Praxis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen wird und mit einem Anstieg von Rechtsstreitigkeiten zu rechnen ist. Der Verband wird sich auch weiterhin für

Verbesserungen und für das Abschaffen von Regelungen einsetzen, die nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention zu vereinbaren sind.

Dazu gehören beispielsweise:

  • Die Regelungen zum Wunsch- und Wahlrecht wurden zwar für den Bereich des Wohnens nachgebessert. Gegenüber dem heutigen Recht stellen sie jedoch insgesamt keine Verbesserung dar. Im Gegenteil: Bei Freizeitmaßnahmen kann es künftig zur Verpflichtung der gemeinsamen Inanspruchnahme kommen.

Ebenso sind Teilhabe- und Gesamtplankonferenzen, auch wenn der Wunsch des Menschen mit Behinderung besteht, nicht verpflichtend durchzuführen.

  • Das Problem bei der Schnittstelle Eingliederungshilfe und Pflege bleibt hinsichtlich der Abgrenzung zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff bestehen. Die Abgeltung der Pflegeleistungen mittels begrenzter geringer Pauschalen (max. 266 Euro) wurde weder abgeschafft noch wurden diese, vergleichbar den Verbesserungen bei Pflegegeld und -sachleistung in der Pflegeversicherung, erhöht. Im Gegenteil:

Die begrenzten Pauschalen werden sogar auf Wohngemeinschaften mit umfassendem Versorgungsbedarf ausgeweitet. Und die bisherige Sonderregelung, dass Menschen mit Behinderung in Pflegeheimen untergebracht werden können, wird zu einer regulären Bestimmung. Dies verschärft den Druck, dass Menschen mit komplexer Behinderung und hohem Pflegebedarf frühzeitig in Pflegeheime umziehen müssen.

  • Das Kriterium „Mindestmaß verwertbarer Arbeit“ für den Zugang zur Werkstatt für Menschen mit Behinderung konnte nicht abgeschafft werden, so dass für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf eine für sieerreichbare Teilhabe am Arbeitsleben erschwert und Beschäftigung, wenn überhaupt, nur außerhalb von Werkstätten in besonderen Tagesförderstätten möglich wird.
  • Die bisherigen umfassenden Aufgaben und Leistungen der Eingliederungshilfe, die maßgeblich alle Lebensbereiche bestimmen, konnten nicht erhalten werden. Sie werden künftig „künstlich getrennt“ und der medizinischen Rehabilitation, der Teilhabe am Arbeitsleben oder der sozialen Teilhabe zugeordnet bzw. in qualifizierte und nicht qualifizierte Assistenzleistungen unterschieden. Der neue Charakter der sozialen Teilhabe entspricht weder dem Fähigkeitskonzept der UN-Behindertenrechtskonvention noch der Lebensrealität von Menschen mit Behinderung. Beispielsweise besteht die große Gefahr, dass Lücken bei den heute gewährten Gesundheitsleistungen entstehen und zahlreiche Streitigkeiten bei der Zuordnung der Leistungen langwierig auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden.
  • Die Einführung der Wirksamkeitsprüfung konnte nicht verhindert werden. Der Paritätische tritt für Qualität bei der Leistungserbringung ein. Da es jedoch bundesweit keine Kriterien gibt, um die Wirksamkeit von Eingliederungshilfemaßnahmen zu messen, wird die neue Wirksamkeitsprüfung nur zu zusätzlichem Dokumentations- und Verwaltungsaufwand führen. Das kostet Zeit, die in der Betreuung dann fehlen wird!
  • Ebenso konnte nicht verhindert werden, dass die Länder viele Sonderrechte und die Möglichkeit bekommen, das Recht individuell zu gestalten. Die vom Paritätischen geforderten bundesweiten Grundsätze fehlen. Daher werden spezifische Regelungen in den Ländern zu unterschiedlichen Standards und damit ungleichen Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung führen.
  • Behinderung bleibt nach wie vor ein Armutsrisiko, weil Leistungen der Grundsicherung und der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Einkommens- und Vermögensfreigrenzen sich auch weiterhin am Niveau der Sozialhilfe bzw. den Leistungen für Arbeitsuchende orientieren.

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