Im Juli dieses Jahres ist – nach rund dreijähriger Arbeit und Auswertung von rund 3000 Studien - der Abschlussbericht des IQWiG zur Systemischen Therapie als Psychotherapieverfahren bei Erwachsenen erschienen. Nach der Wissenschaftlichen Anerkennung durch den WBP 2008 war dies der nächste Meilenstein für die Systemische Therapie auf dem Weg zur Kassenzulassung.
Im Bericht bescheinigt das IQWiG Systemischer Therapie darin Wirksamkeit für folgende Diagnosegruppen: Angst- und Zwangsstörung, Schizophrenie, depressive Störungen, Substanzkonsumstörungen, Essstörungen, körperliche Erkrankungen und gemischte Störungen. Das Schwellenkriterium der Psychotherapie-Richtlinien kann damit als erfüllt gelten. Die weitere Entscheidung liegt nun beim G-BA, der den IQWiG-Bericht 2014 in Auftrag gegeben hatte und nun auf dieser Grundlage seine Entscheidung fällen muss.
Da das IQWiG mit der Systemischen Therapie erstmalig ein Psychotherapieverfahren geprüft hat, orientierte sich das Verfahren in weiten Teilen an den Standards für Arzneimittelforschung. Die Beforschung von Psychotherapie weist aber einige Besonderheiten auf, die im weiteren Zusammenspiel von IQWIG-Ergebnisbericht und G-BA noch berücksichtigt werden sollten.
Ein Beispiel zur Verdeutlichung: das IQWiG bewertet die einzelnen Studien, die seinem Urteil zugrunde liegen, nicht nur hinsichtlich ihres Ergebnisses, sondern auch hinsichtlich ihrer methodischen Qualität. Es verwendet eine Skala mit vier unterschiedliche Outcomekategorien für den Nutzen einer geprüften medizinischen Maßnahme: „Belege“ als höchste Nutzenkategorie, „Hinweise“ als zweithöchste, gefolgt von „Anhaltspunkten“, oder eben „kein Anhaltspunkt“. Wenn das IQWiG einer medizinischen Maßnahme „Hinweise für einen Nutzen“ bescheinigt, kann also (ceteris paribus) mit höherer Ergebnissicherheit von einem Nutzen ausgegangen werden, als wenn ein „Anhaltspunkt“ bescheinigt wird. Studien, in denen keine Doppelverblindung von PatientIn und AnwenderIn erfolgt, werden dabei methodisch soweit abgestuft, dass mit ihnen kein „Beleg“ erzielt werden kann und die nächsthöheren Kategorien „Hinweis“ und „Anhaltspunkt“ entsprechend schwerer erreicht werden können. Nun ist zwar auch dem IQWiG bekannt, dass eine Doppelverblindung, bei der auch die TherapeutInnen nicht wissen, welches Verfahren sie anwenden, in Psychotherapiestudien weder sinnvoll noch möglich ist; genausowenig wie beispielsweise bei chirurgischen Verfahren. Zu einer Anpassung der Maßstäbe führt dies jedoch nicht- es bleibt zu hoffen, dass der G-BA seine Bewertung entsprechend anpasst.
Ein weiterer Punkt: In der Arzneimittelforschung ist seit dem Contergan-Skandal in den frühen 1960er-Jahren die umfassende Erhebung von unerwünschten Ereignissen vorgeschrieben. Die Psychotherapieforschung hinkt hier hinterher, allerdings ist die Abgrenzung von Haupt- und Nebenwirkungen in der Psychotherapie wesentlich auch wesentlich schwerer zu treffen als in der Arzneimittelforschung. Es fehlt hier noch an etablierten Standards; sicherlich gibt es hier Nachbesserungsbedarf in der Psychotherapieforschung. Mit diesem Problem haben aber alle Psychotherapieverfahren zu kämpfen; Systemische Therapie bildet hier keine Ausnahme. Für das IQWiG waren die fehlenden Daten zu unerwünschten Ereignissen der Grund, keine Gesamtabwägung zwischen Nutzen und Schaden für die Systemische Therapie vorzunehmen.
Jenseits dieser Übertragungsfragen gibt es einzelne weitere Punkte im IQWiG-Bericht, die einen kritischen Blick verdient haben: im Rahmen der „Helsinki Psychotherapy Study“ um den finnischen Psychotherapieforscher Paul Knekt wurden sehr unterschiedliche Therapiedosen miteinander verglichen: bis zu 12 Stunden Systemische Therapie mit bis zu 232 Sitzungen Psychoanalyse. Dass die trotzdem beachtlichen Ergebnisse der Systemischen Therapie hier als Misserfolg gewertet wurden, kann man methodisch hinterfragen. Ein weiterer kritischer Punkt ist der Ausschluss einer britischen Studie (2000 von Leff et al., 2000), bei der Depressionsbehandlungen mittels KVT, ST und einem dem trizyklischen Antidepressivum Desipramin miteinander verglichen wurden. Diese Studie wurde aus der Bewertung genommen, weil Desipramin in Deutschland seit 2011 nicht mehr zugelassen ist. Zum Studienzeitpunk war es aber ein in Deutschland wie Großbritannien gängiges Antidepressivum; in Großbritannien wird es weiterhin verwendet. Auch in Deutschland wird es in der Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression von 2015 (!) zur Behandlung empfohlen.
Jenseits dieser Punkte hat das IQWiG außerordentlich hochwertige Arbeit geliefert. Auf dieser Grundlage steigt die Chance, dass der G-BA Systemische Therapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufnimmt.
Dipl.-Psych. Kerstin Dittrich
Fachreferentin für Gesundheitspolitik
DGSF - Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V.
www.dgsf.org
[1] „Literatur bei den Verfassern“