Von Autorin: Miriam Bredemann
Zusammenfassung Dieser Beitrag bezieht die komplexe Interaktion von Geschlecht und Geschlechterverhältnis auf die verschiedenen (Arbeits-)Ebenen der sozialpsychiatrischen Forschung und Praxis. Dies erfordert insbesondere, auf die soziale Dimension von Geschlecht („Gender“) einzugehen. Hierbei wird auf sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze fokussiert, die zusammen mit biologischen und psychologischen Theoriemodellen in biopsychosoziale Krankheitsmodelle zu integrieren sind. Die hohe Relevanz des sozialwissenschaftlich-biografischen theoretischen Verstehenszugangs von Pierre Bourdieu wird für den sozialpsychiatrischen Kontext aufgezeigt.
Wieso Gender und Psychiatrie?
„Gender“ gilt als Modewort der 1990er- Jahre im Bereich der Philosophie, der Politik-, Sozial- und Geisteswissenschaften und heute vielerorts als „altbackenes, längst überholtes Thema“, als „Schnee von gestern“. So kann sich die Frage aufdrängen, ob die im sozialpsychiatrischen Feld Tätigen überhaupt die Zeit und das Potenzial dafür haben, sich mit diesem Thema zu befassen, wo doch zu haushalten ist mit einer „ungebrochenen Gewalt der Vermarktlichung des Sozialen“ (Dörner 2016: 709), die die professionelle sozialpsychiatrische Haltung, das Menschenbild und die Handlungspraxis herausfordert und kaum Raum für scheinbar nebensächliche Problemstellungen lässt.
Spätestens seit der Psychiatrieenquete Mitte der 1970er-Jahre, die den Zeitgeist der 1960er-Jahre widerspiegelte, ist die Thematik „Gender“ auch in der deutschen Psychiatrielandschaft virulent. In einer systematisierten Form finden geschlechtsspezifische Aspekte erst seit den 1980er-Jahren Berücksichtigung in der psychiatrischen Forschung (s. hierzu Rohde, Marneros 2006: 26; Brieger, Scheid 2006: 423). Eine unzureichende Beachtung der sozialen Kategorie „Geschlecht“ im psychiatrischen Kontext birgt nicht nur die Gefahr einer Verkürzung der zu behandelnden Phänomene. Sie kann zudem zu einer Reproduktion der bestehenden Ungleichheitslagen der Geschlechter führen, wodurch das aufklärerische und emanzipatorische Potenzial der Sozialpsychiatrie konterkariert würde. Ziel muss deshalb eine angemessene Berücksichtigung des Themas sein. Denn unter dem Diskurs der Gleichheit der Geschlechter hinsichtlich Chancen und Anerkennung bleibt „die Struktur der Abstände“ (Bourdieu 2012: 158, Herv. im Original), eine Asymmetrie und Ungleichheit der Geschlechter, verborgen. Wie bei einem „Handikaprennen“ (ebd.) lassen alle Fortschritte der Frauen sie bisher nicht die Vorsprünge der Männer einholen. Hierbei steht eine weibliche Gleichheitserwartung einer Ungleichheitswirklichkeit gegenüber (vgl. Beck 1986: 162).
Es ist demnach auszugehen von einer Geschlechterdifferenz, die mehrdimensional abzubilden ist (vgl. Rohde-Dachser 1997: 47 ff.). Im Nachfolgenden wird auf zwei Perspektiven fokussiert. Zum einen auf diejenige, die Geschlechterdifferenz als ein Muster geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen begreift, die eine Gesellschaft an ihre weiblichen und männlichen Mitglieder richtet. Zum anderen wird der Perspektive gefolgt, die die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als Herrschafts- und Machtverhältnis versteht.
Grundsätzliche Aussagen über „Gender“
Im Rahmen des seit den 1990er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum geführten konstruktivistischen Genderdiskurses erfolgte eine Differenzierung von „Geschlecht“ in das biologische Geschlecht (sex) und das soziale Geschlecht (gender). Sex bezieht sich hierbei auf das weibliche oder männliche Geschlecht. Gender umfasst Sozialaspekte der Geschlechtsidentität, geschlechtsspezifische soziale Zuschreibungen, Rollen und die Konfiguration der Geschlechterordnung.
Durch den Doppelcharakter von Geschlecht wird verdeutlicht, dass trotz ihrer unbestrittenen Wirkungsmacht nicht mehr von einer „natürlichen“ Geschlechterdifferenz, einer „natürlichen“ Weiblichkeit oder Männlichkeit ausgegangen werden kann. Das biologische Geschlecht wird hingegen als stets kulturell überformt und sozial gedeutet verstanden. Dieses Phänomen findet sich in jeder Art von Gesellschaft und in jeder historischen Epoche auf eine jeweils spezifische Art und Weise (zur Kritik an der Kategorie sex als ein ebenso wie gender zu erachtendes kulturelles Produkt s. Butler 1991).
Für den Prozess der Wahrnehmung und Darstellung von Geschlecht in der alltäglichen Praxis prägten Ende der 1980er-Jahre die amerikanische Soziologin Candace West und ihr Fachkollege Don H. Zimmerman (1987) den für den konstruktivistischen Genderdiskurs zentralen Begriff „doing-gender“. Durch diesen Begriff wird der aktive Anteil des Individuums an der Hervorbringung der sozialen Wirklichkeit – und dadurch auch die Möglichkeit der Veränderung – betont. Geschlecht ist hiernach „nicht etwas, was wir „haben“ oder „sind“, sondern etwas, was wir tun“ (Hagemann-White 1993: 68). In Interaktionen wird Geschlecht zwischen Menschen permanent wechselseitig hergestellt. Die Individuen ordnen sich hierbei gegenseitig in das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit ein. Sie bewerten sich in diesen Kategorien und reagieren dementsprechend aufeinander. Bei dem Prozess des doing gender wird sowohl die eigene als auch die Geschlechtlichkeit des Gegenübers inszeniert. So verhält sich ein Mann vermutlich anders gegenüber Männern als zu Frauen und bestätigt so sein eigenes Mann-Sein und gleichzeitig das Mann- bzw. Frau-Sein seines Gegenübers. Gender reduziert somit die Vielfalt möglicher Verhaltensweisen, ordnet sie und führt zu einer gegenseitigen Bestätigung der jeweiligen Geschlechtsidentitäten. Damit diese Prozesse möglichst störungsfrei funktionieren, stehen dem Individuum internalisierte „Genderskripts, soziale Repräsentationen“ (Schigl 2014: 93) zur Verfügung, die gewisse Handlungsmuster vorgeben wie z. B. Regeln des Auftretens in der Öffentlichkeit oder Regeln der Höflichkeit.
An dieser Stelle ist zu betonen, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität soziale Konstrukte in Form von gesellschaftlichen Konventionen darstellen, wodurch die herrschende heterosexuelle Geschlechterordnung und deren Behauptung zweier biologisch eindeutig verifizierbarer Geschlechter stetig reproduziert wird (vgl. Butler 1991; Maihofer 1994). Es ist die Tatsache zu betonen, dass es eine Vielzahl an Geschlechtsidentitäten gibt. Im Hinblick auf Dynamiken von Inklusion und Ausschluss, gesellschaftlichem Status und Diskriminierung, von Identität und Zugehörigkeitsprozessen sind auch sie in spezifischer, meist negativer Weise betroffen. Eine nicht eindeutige Geschlechtszugehörigkeit und/oder eine nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprechende Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung stellen in unserem Kulturkreis weniger eine spielerische Möglichkeit denn ein erhebliches psychisches und soziales Problem dar (vgl. Mogge-Grotjahn 2004: 9).
Gender – Macht und Ressourcen
Das Konzept des doing gender darf nicht zu dem Fehlschluss verleiten, „als seien die historisch gewachsenen Geschlechterverhältnisse und -identitäten ›einfach mal so‹ beliebig und nach subjektivem Geschmack jederzeit veränderbar“ (Mogge-Grotjahn 2009: 9). Vielmehr sind eine gewisse Trägheit und eine scheinbare „Unverwüstlichkeit“ (Chodorow 1986: 14) der Asymmetrie und Ungleichheit der Geschlechter festzustellen. Diese über die Zeit hinausgehende und kulturübergreifende „Veränderungsresistenz“ beruht nicht ausschließlich auf der Bedeutung der Geschlechtsidentität als eine der grundlegend tragenden Säulen der Persönlichkeit. Vielmehr steht die enge Verknüpfung der Geschlechterverhältnisse mit den, in der Regel religiös determinierten, Herrschafts- und Machtstrukturen einer Gesellschaft einer prinzipiell möglichen Veränderung im Wege. Mit Geschlecht sind nicht ausschließlich Fantasien über das jeweils eigene und das andere Geschlecht verbunden. Durch die Geschlechterzugehörigkeit und den damit verknüpften Geschlechterstereotypen wird zudem der Zugang zu sozialer Teilhabe, zu persönlichen, sozialen und materiellen Ressourcen, die Ausstattung mit Privilegien und die Teilhabe an Macht strukturiert. Hierdurch ergeben sich unterschiedliche persönliche, materielle, soziale und gesundheitliche Lebenslagen und Bedürfnisse von Frauen und Männern (vgl. Möller-Leimkühler 2006: 470; Rohr 1999: 71).
In den Geschlechterverhältnissen sind die politischen, rechtlichen, sozialen und ökonomischen Strukturen der Gesellschaft unauflösbar mit den persönlichsten Erfahrungen der Individuen verbunden. Diese enge Verwobenheit zwischen individueller Wahrnehmung, individuellem Denken und Handeln mit der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung beschreibt der französische Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu mit seinem Konzept des Habitus. Mit seinen Forschungen greift Bourdieu über den konstruktivistischen Genderdiskurs hinaus, indem er explizit gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse in die Betrachtung mit einbezieht. Bourdieus Analysen zeigen auf, dass die politischen und ökonomischen Verhältnisse stets die geschlechterbezogenen Konstruktionen befördern, festigen und reproduzieren. Geschlecht wird somit eine konstitutive Bedeutung für die Entstehung und Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung zugesprochen (vgl. Bourdieu 2012; s. hierzu auch Haug 1983, ebd. 1999). Hierbei ist zu beachten, dass die soziale Kategorie „Geschlecht“ mit anderen strukturellen Identifizierungsmerkmalen wie Ethnie, soziale Herkunft, Alter, religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung und Behinderung interagiert. Durch das Verwobensein dieser habituellen Prägungen variieren die bereits mit dem Geschlecht verbundenen Ressourcen und geschlechtsspezifischen Risiken (Intersektionalität) (vgl. Butler 1991: 18). So wird beispielsweise eine afroamerikanische Frau anders behandelt als eine deutsche Frau, ein depressiv erkrankter Mann anders als ein Mann ohne diagnostizierte Erkrankung.
Gender und das (sozial-)psychiatrische Forschungs- und Praxisfeld
Bourdieu eruiert, dass die (traditionelle) gesellschaftliche Geschlechterordnung eingeschrieben ist in die Kultur, die Rollen, die Beziehungen und die Körper (vgl. Bourdieu 1993, 2012). Sie nimmt erstens Einfluss auf die Identität und die Selbstregulation des Einzelnen. Jegliches Wahrnehmen, Denken, Handeln und jede Interaktion wird überformt durch die jeweilige Geschlechtszugehörigkeit, vollzieht sich „auf dem Boden“ der strukturellen Hierarchie der Geschlechter (vgl. Hagemann-White 1993). Somit sind auch in der psychiatrischen Landschaft alle am Behandlungs- und Betreuungsprozess Beteiligten in diese vornehmlich unbewussten Prozesse involviert bzw. verstrickt. Geschlecht und das Geschlechterverhältnis interagieren außerdem auf komplexe Weise mit individuellen psychischen Erkrankungen. So sind geschlechtsspezifische Unterschiede in der Epidemiologie, Symptomatik und im Verlauf in nahezu allen klinisch relevanten Gruppen psychischer Störungen eruiert worden, die verschiedene Notwendigkeiten für die Diagnose, Prognose, Behandlung und Versorgungsstrukturen erforderlich machen (vgl. Rohde, Marneros 2006: 26; Brieger, Scheid 2006: 423).
Zweitens spiegelt sich die gesellschaftliche Geschlechterordnung wider in Institutionen, indem scheinbar veraltete geschlechterstereotype Denkweisen weiterhin auch hier wirkungsmächtig sind. Institutionen handeln wiederum substanziell vergeschlechtlicht. Geschlecht und die Geschlechterordnung interagieren somit auch in komplexer Weise mit Institutionen wie der Psychiatrie und den Angeboten, die es zur Behandlung und Betreuung für Menschen mit psychischer Krankheit gibt.
Im Rahmen der sozialpsychiatrischen Praxis werden verschiedene Ebenen von der Dimension „Gender“ berührt: 1. die Ebene des Individuums, 2. die interaktive Ebene der Verhaltensgestaltung, d. h. der sozialpsychiatrische Behandlungs- und Beziehungsraum, 3. die institutionelle und strukturelle Ebene wie u. a. Diagnostik und Therapieangebote und 4. die politisch-gesellschaftliche Ebene wie beispielsweise die Struktur und die Einrichtungen der sozialpsychiatrischen Versorgungslandschaft, z. B. Bundesteilhabegesetz, Inklusion, GenderMainstreaming und PEPP. In welcher Form Geschlecht und das Geschlechterverhältnis in komplexer Weise mit den verschiedenen Ebenen der psychiatrischen Forschung und Praxis interagiert, wird im Überblick dargestellt.
Die Ebene des Individuums – Das habitussensible, geschlechterreflexive Verstehen
Ein wesentlicher Anspruch der Sozialpsychiatrie ist, individuelles Handeln als gesellschaftliches Handeln zu reflektieren. Stete Anforderung stellt für sie dar, sich kritisch mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen auseinanderzusetzen, um so ihr Selbstverständnis, ihre professionelle Haltung und ihre Handlungskonzepte zu gestalten bzw. daraufhin auszurichten. Anschlussfähig daran ist das sozialwissenschaftliche Verstehen, bei dem die individuelle Sicht auf die Person erweitert wird um den Habitus (generalisierte, relativ überdauernde Prägungen und Dispositionen der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns eines Individuums) und das Feld (soziale Verortung des Individuums im gesellschaftlichen Raum/seine Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Milieu). Es handelt sich um Bourdieus Begriff des habitusreflexiven Verstehens (vgl. Bourdieu et al. 2005 a). Mit dem Fokus auf das geschlechtersensible Verstehen geht es um die Geschlechterrollendefinition einer Gesellschaft, um Fragen der Geschlechtsidentität sowie der Geschlechtsabhängigkeit von Selbst- und Fremdbildern und um typische Anpassungs- und Bewältigungsstrategien. Historisch-soziokulturelle, politisch-ökonomische Bedingungen und mithin Herrschafts- und Machtverhältnisse werden somit in die Betrachtung mit einbezogen. Diese spiegeln sich in dem Individuum, das im Rahmen der Vergesellschaftung gesellschaftliche Werte, Normen, Erwartungen und Machtkonfigurationen internalisiert und reproduziert. Bourdieu beschreibt diese vornehmlich unbewussten, „unter die Haut gehenden“ Prozesse mit dem Begriff der Inkorporation (vgl. Bourdieu 1993, ebd. 2012).
Doch in welcher Art und Weise wird die gesellschaftliche (Geschlechter-)Ordnung gesichert? Wie konstituiert sich das Verhältnis „Gesellschaft und Individuum“? Den Prozess der Vergesellschaftung beschreibt Bourdieu mit seinem Konzept des Habitus. Der Habitus ist als „Schnittstelle“ zwischen individueller Existenz und sozialer Struktur zu verstehen. Er verknüpft die innere seelische Struktur im Prozess der Sozialisation beständig und systematisch mit der äußeren sozialen Struktur. Er stellt ein sinnstiftendes Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Strukturvorgaben, so auch Werten, Normen und Erwartungen hinsichtlich der vorherrschenden Geschlechterorientierung und Geschlechterrollen, und den individuellen Reaktionsmöglichkeiten auf die Handlungsanforderungen dar. Im Prozess der Vergesellschaftung bildet sich demzufolge ein geschlechtsspezifisch geprägter Habitus. Durch die Einlagerung der vergeschlechtlichten Ordnung in den Habitus des Einzelnen erhält diese Ordnung ihre besondere Wirksamkeit. Sowohl durch Männer als auch durch Frauen werden die inkorporierten, unter die Haut gegangenen Geschlechterrollenerwartungen und ein weiterhin hierarchisch angeordnetes Geschlechterverhältnis stets von Neuem in der alltäglichen Praxis interaktional konstruiert, inszeniert, reproduziert, modifiziert und weiterentwickelt. Diese unbewussten und ungesteuerten Prozesse und Aspekte sind schwer zu verändern und schwer besprechbar zu machen.
Welche geschlechterspezifischen Rollenerwartungen und welches Geschlechterverhältnis gelten als gesellschaftlich anerkannt? Mit Mann-Sein und Frau-Sein sind spezifische Charakteristika, Fähigkeiten, Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen verbunden, die als typisch, angemessen und sozial erwünscht konstruiert sind. Bis in die 1970er-Jahre hinein konnte ein eindimensionales Geschlechterrollenmodell Geltung für sich beanspruchen, das Weiblichkeit mit „Expressivität“ (Passivität, Anpassung, Selbstlosigkeit, Ängstlichkeit, Harmonisierung, Hilfsbereitschaft, Emotionalität und Beziehungsorientierung) und Männlichkeit mit „Instrumentalität“ (Aktivität, Unabhängigkeit, Aggressivität, Zielorientierung, Gefühlsunterdrückung, Sachlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Abenteuerfreude) verknüpfte (vgl. Parsons 1972). Die Inhalte der stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit wurden verbunden mit einer arbeitsteiligen geschlechtsspezifischen Rollenanforderung (Care-Arbeit und Reproduktionsarbeit als weibliches, Produktionsarbeit als männliches Tun).
Trotz gesellschaftlichen Strukturwandels, sozialer Beschleunigung, Individualisierung und Enttraditionalisierung sind die grundlegenden Geschlechterstereotype erstaunlich veränderungsresistent. Sie werden jedoch in ihrer Ausformung modifiziert und stetig an die ökonomischen und technisch-wissenschaftlichen Bedingungen angepasst. Im Hinblick auf die Frauenrolle haben sich – angestoßen im Rahmen der zweiten Frauenbewegung seit Anfang der 1970er-Jahre – für die Bereiche Sexualität, Partnerschaft, Bildung und Beruf Modifikationen ergeben. Jedoch ist weiterhin eine strukturelle Benachteiligung von Frauen zu verifizieren. Die Veränderung der Frauenrolle bedeutet i. d. R. eine besondere Belastung und eine Erhöhung des Konfliktpotenzials für Frauen. Ein spezifisches Spannungsverhältnis ergibt sich daraus, dass die gesellschaftlichen Autonomieanforderungen an Frauen gestiegen sind, traditionelle Rollenvorstellungen mit ihren Anforderungen an Care-Arbeit und Hausarbeit jedoch nicht aufgelöst wurden (vgl. Dierks 2005; Möller-Leimkühler 2006; Stach 2015; zu den neuen Entwürfen von „Männlichkeit“ s. Süffke 2016).
Geschlechterstereotype erscheinen als „natürlich“ und anerkannt. Bourdieu verifiziert diese im Rahmen seiner Analysen als Verhaltensanweisungen und Handlungsregulative, die in ihrer Aussage unangreifbar und nicht hinterfragbar zugleich sind (vgl. Bourdieu 2012; s. hierzu auch die ethnografischen Forschungen von Haug insb. 1983, ebd. 1999). Konflikte entstehen, wenn eine Person den Vorstellungen von Geschlecht und dem Geschlechterrollenverhalten nicht entspricht, wenn sie von den scheinbar natürlich mit Mann und Frau verknüpften Eigenschaften sichtbar abweicht oder die intrapsychischen Bedürfnisse von den gesellschaftlichen Konstrukten divergieren. Nicht-(An-)Passung des Individuums an die Geschlechterrollenerwartungen lösen im sozialen Umfeld i. d. R. Irritationen aus. Eine Nicht-Entsprechung birgt Risiken für die Person in sich und kann Sanktionen zur Folge haben. Die Sozialwissenschaftlerin Anne Maria Möller-Leimkühler hat in ihren Studien den Zusammenhang zwischen Geschlechterrolle und psychischer Krankheit eruiert. Sie weist auf den empirisch belegten Zusammenhang hin, dass für eine Person die Wahrscheinlichkeit für die Feststellung einer psychischen Störung ansteigt, je deutlicher sie von den Geschlechterrollenstereotypen abweicht. Zudem zeigt sie die Gesundheitsrisiken auf, die sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlechterrollenstereotyp aufgrund seiner Eindimensionalität mit sich bringt (vgl. Möller-Leimkühler 2006: 475 f.).
Die Ebene der Interaktion: Der sozialpsychiatrische Behandlungs- und Beziehungsraum – Erkennen und Kontrolle von symbolischer Gewalt
Geschlechterkonstruktionen und -inszenierungen werden in jeder Interaktion repräsentiert und (re-)konstruiert, so auch im sozialpsychiatrischen Kontext. Provokationen, die der geschlechtliche Habitus – aber auch Dimensionen wie soziale Herkunft, Ethnie, Alter etc. – mit sich bringt, sollten für das Verstehen genutzt werden. Hierbei sind der Habitus der zu betreuenden Person und zudem explizit der Habitus der Fachperson in den Blick zu nehmen, da immer auch der (geschlechtsspezifisch geprägte) Habitus der helfenden Person berührt wird. Das Menschenbild der Expert*innen, ihr geschlechtsrollentypischer Blick und ihre unterschiedlichen Bewertungen von Störungen bei Männern und Frauen gehören hierbei deutlich in den Fokus genommen.
Im Rahmen von Interaktion spielen zudem körperliche Aspekte eine wichtige Rolle, eine Tatsache, die im sozialpsychiatrischen Arbeitskontext zu wenig Berücksichtigung findet. Die Erziehungswissenschaftlerin Katharina Gröning belegt in ihren Forschungen zur Emotionssoziologie der Pflegeforschung die Relevanz der Körpersoziologie in der psychiatrischen Pflege und zeigt die Wirkmächtigkeit von Körpern/Körperlichkeit im sozialen Kontext auf. Sie untersucht die Sicht und Wahrnehmung erkrankter Menschen auf ihren Körper und entziffert dessen Ausdrucksformen und physischen Inszenierungen (vgl. Gröning 2015 a, ebd. 2016). Aspekte der Körperlichkeit, ein mögliches Scheitern an gesellschaftlich propagierten Maßstäben und Idealen können Gefühle der Scham (auch!) aufseiten der Menschen mit psychischer Krankheit auslösen. Diese Gefühle sind schwer besprechbar zu machen im therapeutischen/betreuenden Kontext. Sensibilität für die Thematik, Vertrauen und Zeit sind hierfür erforderlich. Zudem sind Gegenübertragungen aufseiten der behandelnden/betreuenden Personen, die durch den Körper ausgelöst werden können, der aufgrund von Krankheit und Krankheitsbegleiterscheinungen „ungepflegt“ bis hin zu „verwahrlost“ erscheinen kann, von ihnen einer Eigenreflexion zuzuführen. Hierdurch kann einer unreflektierten „Beantwortung“ der zumeist ungewollten Provokation, z. B. durch vermeidendes, abwertendes, sanktionierendes Verhalten seitens der Helfer*innen den betreuten Personen gegenüber, verhindert werden.
Der Psychologe Klaus Weber beschreibt das Verhältnis zwischen den professionell Tätigen in der Psychiatrie und den ihnen anvertrauten Personen als ein subtiles gesellschaftliches Machtverhältnis. Durch die Tatsache, dass die/der professionell Helfende in ein Verhältnis des Helfens zu der ihr/ihm anvertrauten Person versetzt ist, sei bereits „das ›Recht des Nicht-Wahnsinns über den Wahnsinn‹“ (Foucault 1980: 79 zit. n. Weber 1998: 23) impliziert. Dieses Recht basiere auf Begriffen wie „fachliche Kompetenz“, „gesunder Menschenverstand“ und „Normalität“. Was gilt als „normal“, was als „krank“? Welche Person mit welcher Qualifikation entscheidet darüber? Weber beschreibt die Definitions- und Legitimationsprozesse als eine der psychiatrischen Struktur immanente Machtstruktur. Verstärkt werde dieses Machtverhältnis durch die habituellen Dimensionen Gender, Ethnie und soziale Herkunft. Weber fordert, dass sich die Sozialpsychiatrie, wenn sie schon nicht die Machtverhältnisse brechen kann, kritisch und reflektiert mit diesen auseinanderzusetzen hat. In der Praxis habe sie diese einzugrenzen und zu kontrollieren (vgl. Weber 1998: 21 ff.).
Webers Forderungen bilden eine theoretische Brücke zu Bourdieus sozialwissenschaftlichem Verstehensbegriff, der nahtlos auf das sozialpsychiatrische Arbeitsfeld zu übertragen ist. Als Voraussetzungen für das Verstehen führt Bourdieu ein Erkennen und eine umfassende Kontrolle jeglicher Machtstruktur und -ausübung an. So hat die im psychiatrischen Feld tätige Person auf eigene symbolische Gewalt durch Sprache, Darstellung und Benehmen zu verzichten. Voraussetzung hierfür bildet eine wohlwollende, verstehende Haltung und Bewusstseinswerdung. Die Helferin/der Helfer hat mit dem „soziologischen Ohr“ zu hören (vgl. Bourdieu 2005: 393 ff.). Mit dieser Metapher ist das habitussensible und somit auch geschlechtersensible Verstehen gemeint. Nicht nur das Verwobensein der betreuten Person in die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren habituellen Prägungen sind hierbei von den sozialpsychiatrisch Tätigen zu reflektieren. Auch der eigene Habitus ist von der Helferin/dem Helfer zu reflektieren.
Die Ebenen der Institution und die gesellschaftliche Ebene: Krankheit als Konstrukt – Psychiatrie als Anpassungsprozess der normativen Entgleisung
In der Psychiatrie spiegelt sich der innere Zustand der Gesellschaft. Psychiatrie ist nur verstehbar im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Praktische Wissenschaft wie die Psychiatrie hängt ab von der aktuellen Definition seitens der Gesellschaft, was „vernünftig“ und „unvernünftig“ ist. Hierbei sind die ökonomischen Verhältnisse einer Epoche genauso wichtig wie die geistigen. Was „passt“ zur Realität der Gesellschaft? Was spiegelt Gesellschaft wider in ihren Bewertungs- und Umgangsformen? Wie geht sie konkret mit dem „Unpassenden“ (= „Ungesunden“) um? Welche Diskurse werden geführt, welche verhindert (vgl. Dörner 2016: 689)?
Den Wissensgebieten der Psychologie und Psychiatrie liegen Vorstellungen zugrunde, welches psychische Erleben und welches Verhalten als „normal“ und gesund zu erachten ist (vgl. Schigl 2010: 19). Im Rahmen der feministischen Kritik wurde bereits seit den 1980er-Jahren die Idealvorstellung von Gesundheit kritisiert, die den (weißen, bürgerlichen) Mann als die Norm „Mensch“ setzt und die Frauen hierdurch zu Anderen und Minderen macht (Misogynie). Der Mann bzw. das Männliche wird als Ausgangspunkt allen Wissens und aller Erfahrung genommen (vgl. Irigary 1987). Diese Vorstellungen stellen weiterhin die Basis zur Bewertung von Krankheit, Diagnostik, Ätiologie, zur Gestaltung des Designs epidemiologischer Studien und des therapeutischen Handelns dar (Möller-Leimkühler 2006: 477 ff.; Schigl 2010: 1 f.). Zudem spiegeln sie sich wider in der Selbstwahrnehmung von erkrankten Menschen und in der Sichtweise professionell Tätiger auf die von ihnen Behandelten/Betreuten.
In der Studie der Psychologin Inge Broverman und Mitforscher/innen (1972) wurde ein „Doppelstandard seelischer Gesundheit“ nachgewiesen. Es wurde eruiert, dass Personen, die im psychosozialen/psychiatrischen Feld tätig sind, (unbewusst) patriarchalen Geschlechterstereotypen in ihrer Wahrnehmung, in ihrem Denken und Handeln folgen. Hierbei wurde gesunder Mensch mit gesundem Mann gleichgesetzt. Einer gesunden Frau wurden Charakteristika zugesprochen, die beim männlichen Geschlecht als krank erachtet werden (vgl. ebd.). Aufseiten der Betroffenen tragen die Stigmatisierung psychischer Probleme und die Verknüpfung von Mann-Sein mit Gesundheit u. a. dazu bei, dass psychische Symptome von Männern selbst nicht erkannt oder versteckt werden und dadurch lange Zeit unbehandelt bleiben (vgl. Möller- Leimkühler 2006: 471 ff.).
Die Sozialpsychiatrie ist orientiert am „Normalisierungsprinzip“. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen im globalen Kapitalismus versteht der Sozialpsychologe Heiner Keupp es als Aufgabe der Sozialpsychiatrie, die aktuellen Normalitätsprinzipien wie Flexibilität, Mobilität und multioptionale Offenheit (verknüpft mit idealtypischen Vorstellungen von „Mann-“ und „Frau-Sein“) zu reflektieren. Wenn diese „unkritisch zu Leitlinien unseres Handelns werden, wird ein großer Teil der Menschen mit psychischen Problemen auf der Strecke bleiben“ (Keupp 2011: 5). Keupp ruft zu einer gesellschaftskritischen Positionierung der Sozialpsychiatrie auf. Sie habe sich dem „Affirmationszwang an das neoliberale Menschenbild“ (ebd.) zu widersetzen und sich dadurch „wieder als Teil einer gesellschaftlichen Oppositionsbewegung“ (ebd.) zu verstehen.
Fazit – Für eine vollständige Wahrnehmung
Es gilt zu erkennen und das Bewusstsein zu fördern, dass die Dimension „Gender“ jegliches menschliche Handeln einfärbt, so auch jegliche Interaktion im sozialpsychiatrischen Kontext. Sie sollte deshalb als eine zentrale Analysestruktur Anwendung finden. Neben einer Weiterentwicklung der geschlechtersensiblen Diagnosestellung, Therapie und Öffentlichkeitsarbeit im sozialpsychiatrischen Forschungs- und Arbeitskontext ist die Geschlechterreflexivität der im Arbeitsfeld Tätigen deutlich zu stärken. Sie haben die Wahrnehmungs-, Erlebens- und Denkstrukturen des Hilfe suchenden Individuums und dessen seelischen Verstrickungen in den Blick zu nehmen. Dies müssen sie – wie Gröning es für die geschlechterreflexive Beratung und Supervision fordert – „im Kontext von Biografie und Entwicklungsaufgaben des Lebenszyklus ebenso tun wie im Kontext von konkreten sozioökonomische Lebenslagen, von Habitus und Feld“ (Gröning 2015 b: 16 f.). Individuelles, psychologisches Verstehen geht hierbei Hand in Hand mit dem sozialwissenschaftlichen, habitussensiblen Verstehen. Denn: Individuelles (Er-)Leben und (Er-) Leiden ist nicht von den konkreten sozialen Verhältnissen (die spezifische Geschlechterordnung mit inbegriffen) zu abstrahieren.
Literatur
Bourdieu, P. (2005): Verstehen. In: Bourdieu, P. et al. (Hg.): Das Elend der Welt. Gekürzte Studienausgabe. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, S. 393 – 426.
Bourdieu, P. (2012): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag.
Dörner, K.; Plog, U.; Bock, T. et al. (Hg.) (2016): Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Köln: Psychiatrie Verlag.
Gröning, K. (2015 b): Probleme des Beziehungsraumes im Kontext geschlechtersensibler Beratung. Zur Bedeutung der Habitustheorie für die Beratung. In: Gröning, K.; Kunstmann, A.; Neumann, C. (Hg.): Geschlechtersensible Beratung. Traditionslinien und praktische Ansätze. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 91 – 107.
Keupp, H. (2011): Wie zukunftsfähig ist die Sozialpsychiatrie im globalen Netzwerkkapitalismus? In: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
e. V. (Hg.): Soziale Psychiatrie. Heft 2. S. 4 – 9. Kolip, P.; Hurrelmann, K. (Hg.) (2015): Geschlecht und Gesundheit. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl., Göttingen: Hogrefe.
Möller-Leimkühler, A.M. (2006): Geschlechtsrolle und psychische Erkrankung. In: Rohde, A.; Marneros, A. (Hg.): Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Handbuch. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. S. 470 – 484.
Rohde, A.; Marneros, A. (Hg.) (2006): Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Handbuch. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Weber, K. (1998): Kulturelle Differenz und Geschlecht als Dimension sozialpsychiatrischer Arbeit. In: Sozialpsychiatrische Informationen. Zeitschrift für kritische Psychiatrie. 28. Jg., Heft 2. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 21 – 28.
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Die Autorin
Miriam Bredemann
Supervisorin M. A. (DGSv)
Soz. Verhaltenswissenschaften B. A. Dipl.-Sozialpädagogin
[1]Quelle: sozialpsychiatrische informationen, Heft 1/2018, 48. Jg.; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin.