Große Teile der Präventionsszene in Theorie und Praxis sind derzeit mit der Umsetzung des Präventionsgesetzes 2015 beschäftigt. Da geht es um Fragen, wie Krankenkassen davon überzeugt werden können, dass regional koordinierte Programme wichtiger sind als die Marketing-Interessen einzelner Kassen(arten), wie Lebenswelten nicht nur als Einflugschneisen und Ablageorte für klassische „Gesundheitsbotschaften“ dienen, sondern sich durch direkte Entscheidungen der Nutzer*innen zu gesundheitsförderlichen Strukturen entwickeln können, wie der herkömmlich erfolgsarme Präventionsansatz „knowledge – attitude – practice“ (Information/ Wissen ändert die Einstellung, veränderte Einstellung führt zu gesundheitsgerechtem Verhalten) endlich durch die schon in der Ottawa-Charta angelegte Orientierung auf Selbstbestimmung als Voraussetzung für mehr Gesundheit und auch für Verhaltensänderungen abgelöst werden kann.
Gleichzeitig erlebt das Konzept der „Gesundheitskompetenz“ einen Hype in Deutschland. Das Konzept stammt aus den USA, heißt dort „health literacy“ und bezeichnet die Fähigkeit, Informationen, die für die eigene Gesundheit relevant sind, zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und umzusetzen. Es erinnert mit seiner kognitiven Terminologie zunächst einmal fatal an „knowledge – attitude – practice“ und wirkt damit auf den allerersten Blick wie ein Frontalangriff auf moderne, auch dem Präventionsgesetz zugrunde liegende gesundheitswissenschaftliche Konzepte. Es gibt international vereinheitlichte Erhebungen mit erwartbaren Ergebnissen: große Defizite mit klaren Schichtgradienten. Unter Führung des Bundesministeriums für Gesundheit haben die Elefanten des Korporatismus im Sommer 2017 eine „Allianz für Gesundheitskompetenz“ gebildet, ein „Nationaler Aktionsplan“ ist in Arbeit, die Anzahl der Publikationen und Konferenzen schwillt an.
Was ist gut am Konzept, was nicht?
Nicht gut ist sicher der gigantisch aufgeblähte Name “Gesundheitskompetenz“. Den Begriff beim Wort genommen, ist er mehr als die Aufnahme und Verarbeitung von Gesundheitsinformationen, mehr als die angemessene Nutzung von Krankenversorgung und Pflege, ist eher eine Lebenskunst, die es ihren Träger*innen ermöglicht, mit den Zumutungen, Herausforderungen und Chancen des Lebens so achtsam und erfolgreich umzugehen, dass die Balance zwischen Gesundheitsressourcen und Gesundheitsbelastungen immer wieder hergestellt wird, ohne in die Fallen des „healthismus“ zu laufen. Insoweit kann Gesundheitskompetenz als Ziel aller Gesundheitsförderung und Prävention sowie auch als Voraussetzung sinnvoller Nutzung des Versorgungssystems bezeichnet werden. Gesundheitskompetenz in diesem Sinne ist sozial, ökonomisch, bildungsmäßig und auch individuell höchst voraussetzungsvoll und auf der sozialen Stufenleiter auch höchst ungleich verteilt (sonst bräuchte es keine Gesundheitsförderung). Die gesundheitskompetente Bevölkerung wäre ein sinnvolles, freilich ziemlich abstraktes Fernziel einer umfassenden health-in-all-policies-Strategie, die die Maximierung der Verwirklichungschancen bei gleichzeitigem Abbau sozialer Ungleichheit im Auge hat. So etwas Großes aber ist mit diesem Wort nicht gemeint.
Historisches Verständnis von „Gesundheitskompetenz“
Historisch – das heißt vor seiner begrifflichen Aufblähung – stammt Health Literacy aus Bemühungen von Nicht-Regierungs-Organisationen (in den USA, nicht lese- und schreibfähigen Migrant*innen ohne jede Erfahrung den Weg zur Krankenversorgung (sprich zur community clinic, zum Arzt, zum Medikament, zum Krankenhausbett, zu einer erfolgreichen Therapie) zu ebnen. In diesem Sinne ist es ein nützliches Konzept, das auch bei uns auf ein nach wie vor großes und dringend intensiver zu beackerndes Feld verweist. Gut ist, dass die einschlägigen Aktivist*innen und Akademiker*innen zumindest im deutschsprachigen Raum auf diesem Feld die Defizite nicht nur bei den Nutzer*innen sehen, sondern auch von den Organisationen und Institutionen Veränderungen fordern, die ihre Nutzung auch für Menschen mit anderem sprachlichen und kulturellem Hintergrund, mit Behinderung und/ oder geringer formaler Bildung nutzbar macht. Für Bemühungen um interkulturelle Öffnung des Versorgungssystems in diesem angemessen weiten Verständnis (physisch, ökonomisch, sprachlich, sozial und kulturell barrierefrei) ist das Konzept „health literacy“ nützlich und für die Selbsthilfe, die Berücksichtigung der Patientenpräferenzen beim „shared decision making“ wie auch für sozial sensible Patientenedukation direkt anschlussfähig beziehungsweise bestätigend. Das ist gut.
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Gesundheitsförderung als Voraussetzung für „Gesundheitskompetenz“
Wie Antonovskys Kohärenzsinn und andere Gesundheitskonzepte bezeichnet health literacy einen Zielzustand und enthält kaum Hinweise darauf, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Bei näherem Hinsehen ist natürlich auch diese, gegenüber dem im Wort „Gesundheitskompetenz“ mitschwingenden Größenwahn auf realistische Ziele und Arbeitsfelder reduzierte Version in der Umsetzung keine rein kognitive Veranstaltung und deshalb ohne Gesundheitsförderung nicht zu haben: Das fängt beim „Finden“ von Gesundheitsinformationen an. Denn dem Finden geht das Suchen voraus, und zum Suchen braucht es Motivation, die ihrerseits nicht nur vom Problemdruck, sondern wesentlich auch vom Selbstwertgefühl, von der eigenen Zukunftsorientierung, von der Selbstwirksamkeitserfahrung und von der Eingebundenheit in dafür hilfreiche soziale Netze abhängt, also von jenen Ressourcen, auf deren Entwicklung und Stärkung Gesundheitsförderung (und wohlverstandene Prävention in Lebenswelten) zielt. Je weiter unten auf der sozialen Stufenleiter, desto intensiver.
Nicht gut ist, dass dies von jenen Akteur*innen, die Gesundheitsförderung immer schon auf einfache, standardisierbare Interventionen reduzieren wollen und (deshalb) mit Partizipation wenig anfangen können, in der Praxis gern „übersehen“ wird, zukünftig möglicherweise verstärkt unter Berufung auf ein solch verkürztes Verständnis von health literacy.
Noch stärker gilt dies für Prävention und Gesundheitsförderung: Veränderungen des Lebensstils stehen eben in aller Regel nicht am Ende einer Sequenz von Finden, Verstehen, Bewerten und „Umsetzen“ von Gesundheitsinformationen. Dies aber suggeriert das Konzept, und auch dem derzeit verwendeten Erhebungsinstrument liegt diese Denke zugrunde. Dazu passt auch die höchst unklare Verwendung des Begriffs der „Motivation“ im Konzept . Denn die Kategorie „Motivation“ individualisiert die Gründe ‚falschen‘ Verhaltens und lenkt den Blick (und die Intervention) weg von den strukturellen Gründen für oder gegen „Motivation“. Um also „health literacy“ für gesundheitswissenschaftlich fundierte Prävention und Gesundheitsförderung anschlussfähig zu machen, ist da noch einige Arbeit am Konzept und den Erhebungsinstrumenten zu leisten. Bis dahin lässt sich – stark verkürzt – sagen: Voraussetzung für den Erwerb von Gesundheitskompetenz ist erfolgreiche Gesundheitsförderung – und nicht etwa umgekehrt.
Das Konzept erweist sich damit auf den zweiten Blick nicht als Frontalangriff auf gesundheitswissenschaftliche fundierte Strategien der Beförderung von Nutzer*innen-Kompetenz sowie von Prävention und Gesundheitsförderung. Vielmehr kann es die Bemühungen um Nutzer*innen-Qualifizierung und interkulturelle Öffnung in der Krankenversorgung gut unterstützen, und diese Chance sollte auch genutzt werden. Im Hinblick auf Prävention und Gesundheitsförderung freilich sollten die Proponent*innen dieses Konzepts theoretisch und auch in den darauf basierenden Erhebungsinstrumenten noch etwas zulegen, um der weit über die Kognition hinausgehenden Komplexität des Geschehens gerechter zu werden und die aktuellen Bemühungen der Umsetzung des Präventionsgesetzes (Prävention in Lebenswelten) unterstützen zu können.
Politisch wird es in den durch „health literacy“ angestoßenen Debatten und Entwicklungen darauf ankommen, die große Differenz zwischen „health literacy“ und „Gesundheitskompetenz“ sichtbar zu halten, um das große Ziel einer „gesundheitskompetenten Bevölkerung“’ nicht zu kleiner und wohlfeiler Münze werden zu lassen.
Literatur beim Verfasser
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, von 1988-2015 Leiter der Forschungsgruppe „Public Health“ im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), seit 2015 ehrenamtlicher Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband, Oranienburger Straße 13-14, 10178 Berlin, E-Mail: rolf.rosenbrock@paritaet.org
[1]Quelle: 97 impu!se, Heft 4, Dez. 2017; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.