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Cannabis als Medizin - Michael Janßen zur Bewilligungs- und Versorgungslage seit März 2017[1]


Einer der Workshops beim Gesundheitspolitischen Forum des vdää beschäftigte sich mit Cannabis als Medizin, das seit letztem Jahr – in relativ engen Grenzen – auf GKV-Rezept zu bekommen ist. Michael Janßen, Arzt für Allgemein- und Suchtmedizin Berlin, erläutert die aktuelle Rechtslage, die besser ist, als die faktische Situation der Patient*innen und Ärzt*innen, die es verschreiben wollen.
 

Die rechtliche Situation

Der im März 2017 neu geschaffene § 31 (6) im SGB V ermöglicht erstmalig die Verschreibung von THC-haltigen Cannabisblüten, Rezepturen und Fertigarzneien zu Lasten der GKV ohne Indikationsbeschränkung. Die ärztliche Verordnung unterliegt allerdings dem Genehmigungsvorbehalt der Krankenkasse: Nur im begründeten Ausnahmefall darf abgelehnt werden. Verordnet werden kann bei Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung, bei der eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder (…) nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. (Kursive Passagen sind Zitate aus §31 (6) SGB V)

Diese Kriterien entsprechen im Wesentlichen denen des sogenannten Nikolausurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005. Es begründete damals die Kostenübernahmeverpflichtung für Bioresonanztherapie bei einem Patienten mit Muskeldystrophie.

Nach bisheriger Gesetzeslage konnte das dem Bundesministerium unterstehende Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) individuelle Genehmigungen erteilen, Cannabisblüten auf eigene Kosten unter ärztlicher Begleitung in der Apotheke zu erwerben; ca. 1.100 Patient*innen waren dazu berechtigt. Die Palette der (über 50) Diagnosen, für die Cannabisblüten genehmigt wurde, reichte von ADHS über Schmerzsyndrome bis zu chronisch entzündlichen Krankheiten. Mit Inkrafttreten der neuen Rechtslage entfällt dieser Weg.

Neben dem neuen no-label-use für Cannabisblüten gibt es weitere, für spezielle Indikationen zugelassene Tetrahydrocannabinolhaltige (THC) Fertig- Arzneimittel: Canemes© zur Behandlung Übelkeit unter Chemotherapie, Sativex© für schmerzhafte Spastik bei Multipler Sklerose. Rezepturen mit Dronabinol werden in einzelnen, meist palliativmedizinischen Situationen eingesetzt. Der Eigenanbau ist nach wie vor nahezu ausnahmslos verboten. ??

Versorgungs- und Bewilligungslage

Die Patient*innen mit bisheriger BfArM-Genehmigung, aber auch viele weitere Patient*innen, die sich teilweise schon viele Jahre selbst mit Cannabis behandelt hatten und hohe Kosten sowie strafrechtliche Risiken auf sich nehmen mussten, hofften nun auf reguläre Versorgung mit ihrem Medikament als GKV-Leistung. Die Rechnung war jedoch ohne den Wirt GKV gemacht: Schon nach wenigen Wochen etabliert sich eine äußerst zurückhaltende Genehmigungspraxis der Krankenkassen, auch Anträge der alten BfArM-Patient*innen werden vielfach abgelehnt. Die Begutachtungen des beauftragten Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) fallen rigide aus. Es erfolgt die Prüfung nach Aktenlage schablonenhaft nach den o.g. Nikolaus-Kriterien: Sind nach zuzuordnenden Behandlungsleitlinien alle Optionen nachgewiesen komplett und erfolglos ausgeschöpft? Gibt es noch irgendein aufgeführtes, in letzter Zeit nicht angewandtes Medikament oder Verfahren? Gibt es eine Lücke in der Dokumentation, wird der Antrag abgelehnt. Einige Gutachten unterstellen bei längerem Konsum eine Abhängigkeit von Cannabis und somit eine Kontraindikation. Dieses schematische Vorgehen ist unzureichend angewandte Evidenz basierte Medizin Es wäre EbM-konformes Vorgehen, im Einzelfall auch Begleiterkrankungen sowie Präferenzen, Erfahrungen und Haltungen der Patient* innen im Sinne des shared decision making als mitentscheidende Kriterien zu berücksichtigen. In der Begutachtung könnte der MDK der/dem verordnenden Ärzt*in die Kompetenz unterstellen oder Patient*innen persönlich vorladen – beides passiert nicht. Die Spruchpraxis der Sozialgerichte ist derzeit nicht grundlegend anders, das Bundessozialgericht hat bisher in keinem Fall entschieden.

Aktuelle Daten sind nicht verfügbar, die Schätzungen gehen von maximal 40 Prozent bewilligter Anträge aus. Die Bundestagsfraktionen von LINKE und Bündnis 90/GRÜNE mahnten schon im Sommer 2017 eine Nachbesserung der Gesetzeslage zu Gunsten der Patient*innen an, bisher ohne Erfolg. Hinzu kommen noch nicht behobene Lieferengpässe der zertifizierten Importeure von Cannabisblüten aus den bevorzugten Herstellerländern Kanada und Niederlande. Die erste deutsche marktfähige Ernte im Auftrag der BfArM-Cannabisagentur wird nicht vor 2019 verfügbar sein. Darüber hinaus gibt es auch bei den Ärzt*innen deutliche Zurückhaltung in der Verschreibung. Einerseits wird der nicht geringe (nach EBM mittlerweile abzurechnende) Arbeitsaufwand mit Antrag, Widerspruch und Sozialgerichtverfahren gescheut. Andererseits ist die – unbegründete – Angst groß, sich zukünftig mit Freizeitkonsument*innen auseinandersetzen zu müssen, die GKV-Rezepte wünschen. ?

Das medizinische Potential von Cannabis und die Dilemmata

Das Potential von medizinischem Cannabis (THC und Cannabidiol – CBD) sowie weiterer, noch nicht gänzlich erforschter Bestandteile der Pflanze, unter anderem sogenannter Terpene, ist bei weitem nicht erkennbar, nicht zuletzt wegen der jahrzehntelangen internationalen Forschungszurückhaltung durch die Prohibition. Das Besondere an den erst im Jahre 1987 entdeckten Cannabinoidrezeptoren ist ihr Vorkommen in den verschiedensten Geweben und Organen. Die Bedeutungen des Cannabinoidsystems sind bisher nicht vollständig bekannt. Dementsprechend ist die wissenschaftliche Erkenntnislage der Wirkungsweisen noch schlecht, insbesondre mangels größerer randomisierter, kontrollierter Studien.

Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin sieht trotzdem das therapeutisch nutzbare Potential für klinisch evident. Das Arzneitelegramm (10/2018) äußert sich bezüglich weniger Indikationen – Spastik bei MS, Übelkeit und Erbrechen unter Chemotherapie und chronischen Schmerzen – zurückhaltend: „Eine Empfehlung (…) können wir mangels klinischer Daten nicht geben.“ Das Deutsche Ärzteblatt (38/2018) gibt einen Überblick über die Datenlage bei Schmerz- und Palliativmedizin: „Es besteht eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung (…) und den Ergebnissen (…) nach den Standards der evidenzbasierten Medizin.“ Und Norbert Schmacke schreibt in Dr. med. Mabuse (Nr. 230; 06/2017) über das Gesetz: „(…) dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht interessieren, wenn die Politik eigene Vorstellungen von wirksamer Therapie entwickelt.“

Auf eine wesentliche Besonderheit der Selbstmedikation mit Cannabis ist noch hinzuweisen: Die langjährig und weit verbreitete Erfahrung in der Selbstmedikation bei sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern ist bei keiner anderen verschreibungspflichtigen oder verbotenen Substanzklasse bekannt. Daraus folgt in vielen Einzelfällen eine Arzt/Ärztin und Patient*in beeindruckende Erfahrung und Wirksamkeit: Schwarmintelligenz, Placeboeffekte oder Mythenbildung? Jedenfalls muss man ausgeprägte Substanz-spezifische Wirkungen unterstellen, anders als bei Methoden der Alternativen Medizin wie Homöopathie oder Ozonbehandlung.

Das Dilemma hat drei Dimensionen:

  1. der paradoxe Auftrag des Gesetzgebers an die GKV, Verordnungen nur als ultima ratio zu genehmigen, gleichzeitig aber nur im Ausnahmefall die Verweigerung zuzubilligen;

  2. die mangelhafte wissenschaftliche Evidenz;

  3. die Überzeugungskraft der positiven Selbsterfahrungen und Hoffnungen der in der Regel schwer kranken Patient* innen. ??

Evidenz: wie schaffen – und wie geht es bis dahin?

Die im Gesetz vorgesehene Begleiterhebung wird als Anwendungsbeobachtung keine indikationsspezifisch belastbaren Daten liefern. Im von der Cannabisagentur festzulegenden Herstellerabgabepreis der Produzenten ist kein Anteil für Forschung vorgesehen. Aber die außergewöhnliche Situation einer staatlich gelenkten Arzneimittelproduktion und Preisregulation wäre für staatlich geförderte und finanzierte Forschung nutzbar. Von der Pharmaindustrie geforderte überhöhte Arzneimittelpreise, die mit zweifelhaften Angaben über Forschungskosten begründet werden, könnten so nebenbei exemplarisch widerlegt werden.

Bis es bessere Evidenz gibt und insbesondere noch keine arzneimittelrechtlichen Zulassungen vorliegen, ist die Prüfung der Kostenübernahmeanträge weiterhin gerechtfertigt. Sie ist aber auf Plausibilität zu beschränken, ggf. unter persönlicher Vorstellung des Antragstellenden. Der begründeten ärztlichen Verordnung soll in der Regel gefolgt werden; nur im Ausnahmefall, wie es der Gesetzgeber jetzt schon vorsieht, soll abgelehnt werden.

Michael Janßen ist Arzt für Allgemein- und Suchtmedizin in Berlin und einer der neuen Vorsitzenden des vdää.


[1]Quelle: Gesundheit braucht Politik, Heft 4/2017; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.


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