Zwei Jubiläen konnten mit dem 30. Kongress für klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung in diesem Jahr in Berlin gefeiert werden. Die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie wurde 50 Jahre alt und es war auch der 30. (D)GVT-Kongress insgesamt. Viel Grund zum Feiern, zum Nachdenken und zum „Nach-Vorne-Schauen“. Das tat der Kongress auch.
Eröffnungsabend: Emotional-fokussierte Psychotherapie – die dritte Welle
„Free Your Mind – Psychotherapie im Wandel“ lautete das Rahmenthema, das Nina Romanczuk-Seifert als Sprecherin der Inhaltlichen Planungsgruppe in ihrer Einführung ins Thema am Eröffnungsabend mit „Macht euch frei“ übersetzte. Damit erntete sie einen ersten Lacher, der, so der Eindruck, auch die Zuhörenden bereit machte, sich auf das Thema einzulassen.
Nina Romanczuk-Seifert erklärte für die Inhaltliche Planungsgruppe die Einladung an Leslie S. Greenberg, der mit dem Titel „Emotions in the Process of Change“ den Eröffnungsvortrag hielt: Mit seinen Überlegungen und Forschungen repräsentiere er die „dritte Welle“ in der Verhaltenstherapie. Leslie S. Greenberg entwickelte den Stuhl-Dialog aus der Gestalttherapie weiter, denn ihm sind Beziehungen, Kognitionen und Bewertungen sowie Emotionen gleich wichtig. Gemeinsam mit Sue Johnson, einer ehemaligen Studentin, veröffentlichte Greenberg das erste Behandlungsmanual für eine Emotions-fokussierte Psychotherapie, die Greenberg in seinem Vortrag dann weiter erläuterte. Dabei wandelte Greenberg das Kongressthema um in: „Free your mind for your emotions – and the rest will follow“.
Der Eröffnungsabend endete mit Sekt und kleinen Häppchen im traditionellen Berliner Abend. Der Abend für das erste Treffen mit Freunden und Bekannten aus „alten Zeiten“, für erste Gespräche zum Kongress und für das Treffen mit neuen unbekannten Menschen.
Der Blick von außen: Der gesellschaftliche Nutzen von Psychotherapie
Während Leslie S. Greenberg in seinem Vortrag den psychotherapeutischen Prozess in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte, nahm Eva Illouz, Soziologin an der Hebrew University in Jerusalem, die Perspektive einer Außenstehenden an. Sie beschrieb in ihrem Vortrag am Beispiel der Resilienzforschung, wie psychologische Erkenntnisse gesellschaftlich genutzt werden und wie sie gesellschaftlich wirken. Resilienz ist individualpsychologisch eine wichtige Eigenschaft für Menschen, die widrige oder traumatische Erfahrungen machen. Ihre Resilienz hilft ihnen, diese traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten, vielleicht sogar durch sie selbstbewusster zu werden. Problematisch sehe sie es jedoch, so Illouz, wenn diese Prozesse von der US-Armee oder von großen Unternehmen wie Coca-Cola genutzt werden, um Menschen „Trauma-resistent“ zu machen. Auch führe die Diskussion um Resilienz dazu, dass Menschen, die Trauma nicht gut verarbeiten, sondern ihr Leben lang daran leiden, gesellschaftlich abgewertet werden, weil es ihnen nicht gelingt, widerständig zu leben.
Vertieft wurden diese Überlegungen von Eva Illouz in dem nachfolgenden von Lothar Duda, Eugene Epstein und Manfred Wiesner organisierten Symposium „Psytizens: The making of…“, in der Angelika Grubner, Psychotherapeutin in Pitten/Österreich, kritisch mit ihrer eigenen psychotherapeutischen Arbeit abrechnete, die zur Stabilisierung ungleicher Lebensverhältnisse beitragen kann. Phil Borges näherte sich dieser Thematik mit dem Blick eines Fotografen und Filmregisseur, der über 30 Jahre Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaften beobachtete und fotografierte und dabei die Erfahrung machte, dass psychisch kranke Menschen, die in westlichen Gesellschaften stigmatisiert und ausgegrenzt werden, in asiatischen, afrikanischen oder südamerikanischen Gesellschaften als Menschen mit einer „anderen Begabung“ wie Stimmenhören oder Bildersehen einen Platz in der Gesellschaft haben.
Wir Therapeut*innen – wer sind wir eigentlich?
Der Freitag begann mit einem ungewöhnlichen Vortrag, denn Lothar Duda, Manfred Wiesner und Eugene Epstein suchten unter anderem in alten und neuen Filmen nach therapeutischen Identitäten und fragten, sind Psychotherapeut*innen Heiratschwindler*innen? Besserwisser*innen? Unternehmer*innen? Schaman*innen? Mit ihrem Potpourri von Filmbeiträgen aus der Stummfilm bis zur jüngsten Zeit gelang es den dreien, ihrem psychotherapeutisch-orientierten Publikum einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen zeigte, wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen und welche Kräfte und Möglichkeiten ihnen zugeschrieben werden. Dieser Beitrag war teils amüsant, teils nachdenklich und anregend. Und in mir wirkte er nach, als ich im Anschluss an diesen Hauptvortrag das Symposium von Franz Caspar: „Der Berner Ansatz und die Allgemeine Psychotherapie“ besuchte. Zentrales Thema dieses Symposiums war die Suche auf die Frage, wie denn die Integration von theoretisch unterschiedlich begründete Methoden und Verfahren in eine Allgemeine Psychotherapie gelingen kann. Integration muss mehr sein, so Franz Caspar, als die Aneignung wirksamer Methoden und Verfahren.
Nach den beiden Mitgliederversammlungen klang der Kongress mit der Kongressfete aus. Zu Beginn der Fete wurde der Posterpreis verliehen: Den Publikumspreis gewann Jan Schürmann, Doktorand an der Universität Witten-Herdecke, mit seinem Poster „Age of anxiety and depression revisited – A meta-analysis of European community samples 1964-2015“. Der Preis der inhaltlichen Planungsgruppe wurde an Julia Albicker, Promotionsstudentin am Universitätsklinikum in Freiburg, für ihre Arbeit zur postpartalen Depression bei Vätern für die innovative Idee und der Befassung mit einem bisher wenig beachteten Thema vergeben. Die weitere Fete war dank dem neuen Ort eine Freude für alle Beteiligten, denn es war genug Platz zum Essen und zum Austausch wie auch zum Tanzen da.
Nicht alltäglich: Leben in überzeugter Hässlichkeit und mal über Sex reden
Der Samstagmorgen begann mit einem Hauptvortrag zum Thema „Das Leben in überzeugter Hässlichkeit: die Körperdysmorphe Störung“ gehalten von Nina Heinrichs, die gemeinsam mit Anja Grocholewski an der Universität Braunschweig zu diesem wenig beleuchteten Störungsbild forscht. Sie beschrieb die unterschiedlichen Herangehensweisen, um diese Störung theoretisch und praktisch zu fassen: Es gibt Forschungen aus der Perspektive der Zwangsstörung, der somatoformen Störungen oder der sozialen Angststörung. Die unterschiedlichen Zugänge eröffnen auch unterschiedliche Behandlungsansätze, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern – gut durchdacht – ergänzen können.
Am Samstagnachmittag wurde der DGVT-Förderpreis im Rahmen des Symposiums: „Let’s talk about sex: Neue Entwicklungen der klinisch-psychologischen Sexualforschung in Deutschland“ an Julia Velten verliehen, die mit ihrer Studie die Wirkmechanismen der achtsamkeitsbasierten Sexualtherapie untersuchte. Die ersten vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass die Durchführung eines Body Scans die subjektive als auch die sexuelle Erregung bei Frauen erhöhte. Im gleichen Symposium unterstrich Jürgen Hoyer wie wichtig es ist, Sexualität in der Therapie anzusprechen, denn wenn es die Therapeuten und Therapeutinnen nicht ansprechen, tun es Patientinnen und Patienten nur in Ausnahmefällen!
Der Blick nach außen: Die Dynamik des Rechtspopulismus
Der Sonntagvormittag begann mit einem Vortrag zum Thema „Dynamik des Rechtspopulismus – Zum Autoritären Charakter heute“ von Oliver Decker, Leiter des Forschungsbereiches „gesellschaftlicher und medizinischer Wandel“ an der Abteilung für medizinische Psychologie und Soziologie an der Universität Leipzig und Mit-Autor der zweijährlich erscheinenden Leipziger Mitte-Studie zur Entwicklung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland. Die empirischen Daten belegen, dass die rechten Positionen und Haltungen nicht von den „Rändern der Gesellschaft“ kommen, sondern dass sie Teil des Denkens der gesellschaftlichen Mitte sind. Damit sind anti-demokratische Haltungen für die Mitte der Gesellschaft wieder denkbar geworden. Decker zog in seinem Vortrag einen Vergleich zu den Untersuchungen von Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse und anderen, die bereits Anfang der 30er Jahre feststellen mussten, dass die Demokratie von der gesellschaftlichen Mitte in Frage gestellt wurde. Diese Erkenntnis führte dazu, dass die leitenden Personen um die Frankfurter Schule bereits Anfang 1933 zuerst in die Schweiz und später in die USA zogen. Dort interpretierten die Autoren ihre Daten und entwickelten die Figur des „autoritären Charakters“; der heute, so Decker, wenn auch in einer anderen Gestalt seine Renaissance erlebe.
Kongressalltag: DGVT-Preis, Symposien und kritischer Austausch
Am Donnerstag wurde Babette Renneberg, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Leiterin der Hochschulambulanz der Freien Universität Berlin, mit dem DGVT-Preis 2018 in dem Symposium „Zwischen den Hilfesystemen: Kinder psychisch kranker Eltern. Was ist zu tun? Eine Bedarfsanalyse“ für ihre wissenschaftliche Arbeit geehrt. Das Symposium hatte sie organisiert, um Psychotherapie, klinische Psychologie, Psychiatrie und Jugendhilfe miteinander ins Gespräch zu bringen, dabei wurden die Perspektiven der Eltern, der Kinder und der fachlichen Seite wie Psychiatrie und Jugendhilfe vorgestellt. Diese Arbeit wie auch die Forschungen zu den Persönlichkeitsstörungen überzeugten das Preiskomitee besonders.In diesem Symposium wurde zudem die Situation von Kindern und Jugendlichen mit einem psychisch erkrankten Elternteil analysiert und es wurden Handlungsbedarfe zusammengetragen.
Parallel diskutierten Vijoleta Gordeljevic, Referentin für Gesundheit und Klimawandel bei der Health und Environment Alliance, Brüssel, Julia Gogolewska, Health und Environment Aliance, Berlin, sowie Susanne Kraft, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Ulm, in einem weiteren Symposium die Folgen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit der Menschen. Auch gab es viele weitere spannende Veranstaltungen wie etwa das sehr gut besuchte Symposium zu Medienassoziierten Störungen, das SPRING-SCHOOL-Symposium, in dem Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die Ergebnisse und den Stand ihrer Forschungen präsentierten und diskutierten, oder auch ein Round-Table, der sich mit Haltungen und Rollen des Therapeuten in modernen VT-Verfahren beschäftigte.
Am Freitag war das Symposium vom Forum Beratung zur Frage, ob Zwangsmaßnahmen mit der psychosozialen Praxis als Chance vereinbar sind oder eher einen Widerspruch darstellen, eines der vielen spannenden Highlights. Sehr gefragt war ebenfalls das Symposium „Jeder Klient ist einzigartig, Migranten sind anders“. Die Nachfrage unterstrich, dass Symposien zum Thema Migration notwendig sind.
Auch der Samstag war geprägt von zahlreichen Symposien zur Beratung, Psychotherapien und weiteren inhaltlichen Themen. So besuchten rund 60 Personen das Symposium von Frank Nestmann und anderen „Endlich auf den Hund gekommen“, in dem tiergestützte Therapien vorgestellt wurden. Mittlerweile gibt es ganz viele und sehr unterschiedlich angelegte internationale Studien mit hoher methodischer Qualität, die zweifelsfrei verschiedenste konkrete Wirkungen von Tieren (vornehmlich Hunden) auf Menschen belegen können und zwar auf physiologischer, psychologischer und auch sozialer Ebene, so zum Beispiel bei Kindern mit autistischen Störungen. Allerdings ist das Forschungsgebiet in Deutschland noch recht jung und einige Forscherinnen und Forscher, die dieses Thema in die Diskussion ihrer Fakultät einbringen, werden immer noch etwas belächelt. Interessant, dass die erste von der DFG geförderte Untersuchung zur tiergestützten Intervention in Deutschland von der DGVT veröffentlicht wurde.
Im Symposium „ ‚Master’s Desaster’: Erfahrene TherapeutInnen berichten, wie sie aus Fehlern gelernt haben“ wurde der Umgang mit TherapeutInnenfehlern kritisch reflektiert. Es war besonders interessant für PsychotherapeutInnen in Ausbildung zu sehen, dass sich die allermeisten TherapeutInnen im Laufe ihres Berufslebens mit eigenen Fehlern konfrontiert sehen. Aber auch für erfahrene TherapeutInnen war der erfrischend konstruktive Blick auf Fehler und den möglichen Umgang damit eine gute Reflexionsmöglichkeit eigener Erfahrungen. Aus praktischer Sicht war ebenfalls das Symposium "Der schwierige Patient" spannend. Der Raum war komplett voll und das Interesse sehr groß. Mittels Rollenspielen wurde der Versuch unternommen eine praktische Annäherung an das Thema zu zeigen.
Der Samstag klang aus mit einem Runden Tisch „50 Jahre gesundheitspolitisches Engagement für eine bessere und gemeindenahe Versorgung“ – organisiert von der Ethikkommission. In dieser Runde wurden noch einmal kritisch die 50 Jahre DGVT reflektiert, die von Bernd Röhrle, ehemaliger Professor für klinische Psychologie an der Universität Marburg und langjähriges DGVT-Vorstandsmitglied sowie Mitglied der gesundheitspolitischen Kommission der DGVT, als einen nicht mehr aushaltenden Spagat zwischen gesundheitspolitischem Anspruch und praktischem Handeln beschrieben wurde. Ergebnis dieser Diskussion wird ein Manifest sein, um die innerverbandliche Debatte anzufeuern.
Die Symposien am Sonntagvormittag wie zum Beispiel zur Neuro-Psychotherapie und zur Positiven Psychologie und Psychotherapie waren ebenfalls sehr gut besucht. Ebenso stieß das Symposium „Das Schweigen überwinden - Möglichkeiten der Aufarbeitung sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt in pädagogischen Institutionen und familiären Lebenswelten“ auf reges Interesse. Es berichteten zwei betroffene Personen in einem Gespräch mit Heiner Keupp ihre damaligen Erfahrungen als Kinder bzw. Jugendlichen, aber auch ihre heutigen Erfahrungen mit dem Umgang des Missbrauchs. Monika Bormann, Leiterin der Caritas-Beratungsstelle Neue Wege in Bochum, und Gabriele Hüdepohl, schulische Leiterin des Canisius-Kollegs in Berlin, ergänzten diese Perspektive um die Sicht einer Beraterin für dieses Thema und aus Sicht einer Institution, die schuldig wurde. Christine Bergmann, ehemalige Bundesfamilienministerin und erste unabhängige Beauftragte für dieses Thema beschrieb die gesellschaftlichen Forderungen und die Erwartung an die neue Bundesregierung: diesem Thema noch mehr Aufmerksamkeit und geben und die sich entwickelnden Aufarbeitungsstrukturen zu verstetigen.
Insgesamt zeigt dieser Ausschnitt einzelner Veranstaltungen wie vielseitig und hochwertig das diesjährige Kongressangebot war. Zusätzlich dazu wurden am Ende der Veranstaltungen oder in den Pausen Meinungen und Ansichten ausgetauscht und ganz im Stil der DGVT wurde auch politisch diskutiert.
Resümee
Der 30. Kongress für klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung hielt, was er mit seinem Rahmenthema versprochen hatte: er half einmal den „Kopf durchzulüften“, sich „frei zu machen“ für neue, andere Perspektiven. Dies gelang in besonderer Weise mit den fünf sehr unterschiedlichen Hauptvorträgen von Mittwoch bis Sonntag. Die Symposien unterstützten und ergänzten diese Perspektiven. Dabei kamen auch die klassischen psychotherapeutischen Themen nicht zu kurz. Und die DGVT hatte nicht nur zwei gute Gründe zum Feiern, sie tat dies auch ausgiebig und mit viel guter Laune.
Bernhard Scholten & Saskia Scholten, Mitglieder der Kongressplanungsgruppe 2018