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Fachtagung Psychiatrie 2019 - Entscheidende Phase[1] - Teilnehmer*innen der 11. Fachtagung Psychiatrie sind sich einig: Auf die nächsten Wochen kommt es an, um die Weichen in Richtung einer guten Personalausstattung zu stellen.


Deutschlands Psychiatrie-System steht vor einer entscheidenden Weichenstellung. In wenigen Wochen soll der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine neue Personalbemessung vorlegen, die die bisherige Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) zum Jahreswechsel ersetzen soll. Ob und in welcher Form dies geschieht, werde „die Psychiatrie in den nächsten 25 Jahren prägen“, betonte Professor Arno Deister vom Klinikum Itzehoe bei der 11. Fachtagung Psychiatrie, die am 28. Februar und 1. März 2019 in der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin stattfand. Doch noch ist völlig unklar, auf was sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen im G-BA einigen werden. Und ob überhaupt.

„Das Schlimmste wäre, wenn wir Ende des Jahres mit einem "No deal" dastehen würden, warnte Deister, der auch dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) angehört. Das Fundament einer neuen Personalbemessung müsse die Orientierung am Bedarf der Patientinnen und Patienten sein, stellte er klar – eine Position, die sämtliche Referent*innen bei der vom „Forum Gesundheitswirtschaft“ mit einem Initiatorenkreis aus Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen, Klinikleitungen, Expert*innen und Gewerkschafter*innen ausgerichteten Tagung teilten.

Industrialisierung der Psychiatrie

Die mit rund 200 Teilnehmer*innen sehr gut besuchte Tagung ordnete die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Personalbemessung in einen größeren historischen Zusammenhang ein. Bis Mitte der 1970er-Jahre habe in Nachkriegsdeutschland die „verwahrende Anstaltspsychiatrie“ dominiert, blickte Professor Deister zurück. Im Zuge der Umsetzung der 1975 veröffentlichten Ergebnisse der Psychiatrie-Enquête habe sich „zum Glück ganz viel verändert, wenn auch nicht in der Konsequenz, die wir uns wünschen würden“, so Deister. Statt „Verwahrung“ stand in dieser Zeit das Ziel der Re-Integration in die Gesellschaft im Vordergrund. Die Zeit ab 1990 charakterisierte der Chefarzt als „Ökonomisierung“, mit der private Profitinteressen an Raum gewannen.

Eine These der Tagung – die sich auch in ihrem Titel „Psychiatrisierung der Lebenswelten – Industrialisierung der Psychiatrie“ widerspiegelte – war, dass nun eine neue Phase eingeläutet werden könnte: die der Industrialisierung. Im Gesundheitswesen mache sich eine „Kultur der standardisierten Abläufe“ breit, die vor allem auf Produktivitätssteigerungen abziele, erläuterte Professor Martin Heinze von der Immanuel-Klinik Rüdersdorf das Konferenzmotto. Diese aus der Industrie stammenden Methoden seien auf die Psychiatrie jedoch nicht übertragbar, denn die menschliche Psyche sei gerade durch ihre Einzigartigkeit definiert. „Die Begegnung von Menschen ist nicht standardisierbar“, stellte der Chefarzt klar. Zugleich sei eine „Psychiatrisierung der Gesellschaft“ zu bemerken, die sich nicht nur an der stetigen Zunahme von Psychiatrie-Betten und verordneten Antidepressiva festmache, sondern auch an einer „Prägung unseres Selbstbildes“, das vermehrt mit psychiatrischen Begriffen operiere.

 

Gesellschaftlichen Ursachen und ökonomische Interessen

Der Leiter der Spezialambulanz für Psychosen und Bipolare Störungen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Thomas Bock, stellte in Frage, ob die Menschen tatsächlich psychisch kränker werden. Zwar steige die Nachfrage, bei den schweren Erkrankungen „im Kernbereich der Psychiatrie“ gebe es jedoch keine Zunahme. Bock machte zudem auf die gesellschaftlichen Ursachen psychischer Erkrankungen aufmerksam. So hänge deren Häufigkeit erwiesenermaßen auch mit der ungleichen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zusammen. „Eine gleichere Verteilung zwischen arm und reich wäre daher Prävention par excellence“, stellte der Professor fest.

Dass es zum Teil direkte ökonomische Interessen sind, die die „Psychiatrisierung“ der Gesellschaft befördern, machte der Wissenschaftliche Mitarbeiter der Medizinischen Hochschule Hannover, Timo Beeker, mit Bezug auf die Digitalisierung deutlich. So habe zum Beispiel das wachsende Angebot psychotherapeutischer Apps viel mit ökonomischen Motiven zu tun. „Diese Apps sind ein Geschäftsmodell, bei dem es darum geht, Neukunden zu akquirieren und Bestandskunden in die Bezahlfunktion zu überführen“, erklärte Beeker. Die Apps würden zumeist von Startups angeboten, „hinter denen in der Regel Risiko-Kapitalgeber stecken, die ihr Geld wieder haben wollen“.

Der Wissenschaftler warnte davor, die Digitalisierung könne einen „Niveausprung“ hervorrufen, der ähnlich wirke wie der Antidepressiva-Boom der 1990er-Jahre. Die niedrigschwelligen Digitalangebote könnten „Ansaugeffekte“ haben und Menschen psychische Erkrankungen suggerieren, die sie nicht haben. Verstärkt werde dieser Trend durch die ohnehin bestehende „Kultur der Selbstoptimierung“, die in weiten Teilen der Arbeitswelt vorherrscht.

Auf Letzteres verwies auch Elke Ahlers vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Die Verantwortung für die Erledigung von Arbeitsaufgaben werde im Zuge der „Indirekten Steuerung“ in Unternehmen auf Beschäftigte und Teams übertragen, was Selbstausbeutung befördern könne. Das gelte auch für das Gesundheitswesen. „Es gibt keine andere Branche, die so stark von Arbeitsverdichtung betroffen ist, wie Pflege und Gesundheit“, erklärte die Wissenschaftlerin. „Gute Arbeit“ in der Psychiatrie bedeute vor diesem Hintergrund vor allem eine ausreichende Personalausstattung, ein leistungs- und verantwortungsgerechtes Einkommen, genug Zeit für die Patientenversorgung sowie verlässliche Dienstpläne, die die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben erlauben.

Die Vorsitzende des Konzernbetriebsrats des Klinikbetreibers Vitos, Christina Hoeck, ergänzte aus Beschäftigtensicht, „Gute Arbeit“ bedeute, „Zeit zu haben für Beziehungsarbeit und nach dem Dienst mit einem guten Gefühl nach Hause zu gehen“. Kay Herklotz vom Vorstand des Landesverbands Gemeindepsychiatrie Sachsen betonte, auch in der Gemeindepsychiatrie sei es entscheidend, genug Zeit mit Patientinnen und Patienten zu haben. Doch zugleich müssten indirekte Zeiten, zum Beispiel die Wege zwischen den Klient*innen, angemessen honoriert werden, was oftmals nicht oder nur unzureichend der Fall ist.

Diese und weitere Fragen wurden am Donnerstag in parallel laufenden Workshops vertieft, die sich mit den Themen „Psychiatrie ohne Psychiatrisierung – wie geht das?“, „Gesundheit, Gesundung und Genesung bei psychischen Erkrankungen: individuelle Zugänge und strukturelle Kontexte“ sowie mit den „Voraussetzungen für gute Arbeit in der psychosozialen Versorgung“ und „Strategien für eine gute Psychiatrie“ beschäftigten. Am Freitag diskutierten die Teilnehmer*innen in einer zweiten Workshop-Phase über das Finanzierungssystem, die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes sowie über Chancen, Risiken und Perspektiven des „Home Treatment“, bei dem akut psychiatrische Patient*innen in ihrer gewohnten Umgebung behandelt werden.

Für bedarfsorientierte Personalvorgaben

Die Teilnehmer*innen der Tagung waren sich einig: Um gute Arbeits- und Versorgungsbedingungen in der Psychiatrie zu schaffen, braucht es bedarfsorientierte Personalvorgaben. Ein Schritt in diese Richtung könnte das von 17 Fachgesellschaften und Verbänden entwickelte Plattform-Modell sein. Dieses gehe davon aus, dass die gesetzlichen Personalstandards nicht nur gefährliche Pflege verhindern, sondern auch „eine leitliniengerechte, qualitätsvolle Behandlung“ sichern sollen, erläuterte die Chefärztin Iris Hauth vom St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee, die an dem Konzept mitgewirkt hat. Es orientiert sich am individuellen Bedarf der Patient*innen und berücksichtigt verschiedene Settings (stationär, teilstationär etc.) sowie die veränderten Tätigkeitsprofile der Berufsgruppen. Bis Ende Juni soll das Modell in einer Machbarkeitsstudie überprüft werden. Klar sei, dass es auf eine Psych-PV plus hinauslaufen müsse – auf eine Weiterentwicklung der bisherigen Psychiatrie-Personalverordnung, so Hauth.

Gisela Neunhöffer von ver.di begrüßte die Grundzüge des Konzepts, wenngleich die Gewerkschaft an einigen Stellen Kritikpunkte und Diskussionsbedarf habe. Es sei gut, dass die öffentliche Diskussion über Personalstandards in psychiatrischen Einrichtungen damit befördert werde. Dies stehe im Kontrast zum „Geheimhaltungsmodus des Gemeinsamen Bundesausschusses“. Die Gewerkschafterin betonte, dass die Psych-PV seinerzeit ganz anders entstanden ist. In den 1970ern hatte eine unabhängige Expertenkommission die Vorschläge im Zuge einer breiten gesellschaftlichen Diskussion und unter Beteiligung vieler Beschäftigter erarbeitet, was zu der hohen Akzeptanz beitrug, die der Psych-PV bis heute entgegengebracht wird.

Auch der Patientenvertreter Jurand Daszkowski nannte die bisherige Arbeit im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) „nicht erfreulich“. Es sei „sehr viel Zeit verstrichen“. Mehr als ein Stufenmodell, bei dem Veränderungen nach und nach in Kraft treten, werde der G-BA wohl nicht zustande bringen. Daszkowski kritisierte, dass ver.di als Interessenvertreterin der Beschäftigten nicht am G-BA beteiligt seien und die Patientenvertreter*innen dort kein Stimmrecht hätten. Die Patientenvertreterin Jana Westphal berichtete davon, welche Folgen die Personalnot für die Patientinnen und Patienten hat. „Als ich auf einer geschlossenen Station war, hatte ich Angst vor Gewalt, weil ich wusste, dass nur eine Nachtschwester da war.“ Menschen in Ausnahmesituationen bräuchten intensive Unterstützung und genug gut qualifiziertes Personal auf den Stationen.

Bei allen Gemeinsamkeiten wurden auf der Tagung auch Unterschiede deutlich. Während sich Meinolf Noeker vom LWL-PsychiatrieVerbund Westfalen für „Freiheit und Flexibilität“ beim Personaleinsatz aussprach, plädierte die ver.di-Bereichsleiterin Gesundheitspolitik, Grit Genster, für klare Personalvorgaben, die kontrolliert und bei Verstößen sanktioniert werden. Das sei insbesondere bei privaten Psychiatrie-Konzernen wichtig, denen es vor allem um die Erfüllung von Renditeerwartungen gehe. Zugleich betonte die Gewerkschafterin, eine gute Personalausstattung müsse von den Krankenkassen vollständig finanziert werden.

Thomas Brobeil, Geschäftsführer des Vinzenz von Paul Hospitals in Rottweil, betonte, das Pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) sei „leider nicht weg“. Es habe weiterhin große Auswirkungen auf die Personalgestaltung und gelte vielfach als „Benchmark“. Dennoch sei es ein Erfolg, dass PEPP als Preissystem durch den gemeinsamen Widerstand der Verbände verhindert werden konnte. So müsse es nun auch bei der Auseinandersetzung um die Personalbemessung laufen. Zugleich plädierte Brobeil dafür, in Sachen Psychiatrie-Finanzierung zum Erstattungsprinzip zurückzukehren, bei dem die anfallenden Kosten refinanziert werden.

Der Geschäftsführer des Forums für Gesundheitswirtschaft, Peter Brückner-Bozetti, bekräftigte zum Abschluss der Tagung, dass in den kommenden Wochen viel zu tun sei. Es gelte, weiter am Plattform-Modell zu arbeiten und zugleich auf politischer Ebene aktiv zu werden, um den Weg für eine gute Personalbemessung in der Psychiatrie zu bereiten. Alle beteiligten Organisationen und Verbände wollen hier – wie schon bei der Auseinandersetzung um das pauschalierende Entgeltsystem PEPP – weiter an einem Strang ziehen.

 

 


[1]Quelle: Ver.di, Newsletter Gesundheitspolitik, AusgabeMärz 3/19


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