Auf der Regio 2019 in Stuttgart wurde ein gemeinsames Manifest von psychiatrisch Tätigen und Psychiatrieerfahrenen verabschiedet.
Von Rainer Höflacher und Achim Dochat
Zufrieden zeigten sich die Vorstände des Landesverbandes Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e. V. und des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V. mit dem Ablauf der gemeinsamen Jahrestagung Regio 2019 am 28. und 29.3.19 in Stuttgart. Sie war mit 230 Teilnehmer*innen nicht nur außerordentlich gut besucht, auch die Rückmeldungen waren überaus positiv. Die Veranstaltung stand in diesem Jahr unter dem Titel „Verantwortungsvoller Umgang mit Psychopharmaka – einsetzen, reduzieren, absetzen.“
Hauptredner war der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Jann E. Schlimme aus Berlin zum Thema „Genesung von seelischen Krisen und der Stellenwert von Psychopharmaka“. Er hat sich bundesweit einen Namen gemacht durch Veröffentlichungen zur Therapie von Psychosen, zur Kritik der Wirkung und Verschreibungspraxis von Psychopharmaka und zur kontrollierten Reduktion und Absetzung von Neuroleptika. In seiner Berliner Praxis unterstützt und begleitet er Patienten bei der Medikamentenreduktion oder führt sie sogar zu einem Leben ganz ohne Medikamente.
Anita Wild, Mitglied im Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V., berichtete von ihren eigenen Erfahrungen mit Neuroleptika und wünschte sich, dass von der Regio 2019 ein Impuls für die Stärkung des Themas „fachlich begleitete Medikamentenreduktion“ und die Ermutigung der Selbsthilfe in Baden-Württemberg ausgeht.
Eine Alternative zur stationären Behandlung von akut psychisch erkrankten Menschen stellte Dr. Alex Gogolkiewicz, Chefarzt in der ZfP-Klinik Zwiefalten, mit dem Konzept der Soteria vor. Die Patienten leben dabei in nahezu familiärer Atmosphäre in einer Art Wohngemeinschaft und werden dabei mit möglichst wenigen Medikamenten behandelt. Ein Höhepunkt der Veranstaltung war am Ende die Verlesung des gemeinsamen Manifestes der beiden Landesverbände zum verantwortungsvollen Umgang mit Psychopharmaka in der psychiatrischen Versorgung, das mit Beifall aufgenommen wurde und seitdem schon starke Aufmerksamkeit und viel Bestätigung gefunden hat. Das Manifest darf gerne weiterverbreitet werden.
Manifest zum verantwortungsvollen Umgang mit Psychopharmaka
Ausgewogene Beratung Wir erwarten, dass in Beratungsgesprächen und in Infomaterialien zur Medikation umfassend aufgeklärt wird: Nicht nur über die erwünschten Wirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika, sondern auch gleichrangig über die Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen kürzerer und längerfristiger Behandlungen.
Kein Zwang oder Druck zur Einnahme Die Bereitschaft zur Einnahme von Antidepressiva und Neuroleptika ist Ergebnis einer individuellen Abwägung von Vor- und Nachteilen. In der Behandlung psychisch belasteter Menschen soll deshalb weder Zwang ausgeübt, noch Druck erzeugt werden, um die Betroffenen zur Einnahme von Psychopharmaka zu bewegen. In einem partnerschaftlichen Umgang gilt der Grundsatz „verhandeln statt behandeln“.
Niedrigdosierung und langsames Aufdosieren Gerade bei akuten Psychosen werden Neuroleptika immer noch oft viel zu hoch dosiert. Wir vertreten das Prinzip der möglichst niedrigen Dosierung und bei Bedarf des langsamen Aufdosierens, wenn nötig über Wochen, um behutsam die minimale Behandlungsdosis zu finden. Wir wünschen uns Geduld und Verständnis, wenn es dann länger dauern sollte.
Abrechnungsziffern für die Begleitung von Reduktions- oder Absetzprozessen Patienten muss qualifizierte Unterstützung beim Reduzieren bzw. Absetzen der Psychopharmaka angeboten werden. Dazu ist es erforderlich, dass Fachärzte den erhöhten Aufwand in der Begleitung von Reduktions- oder Absetzprozessen von Psychopharmaka explizit mit entsprechenden Abrechnungsziffern bei den Krankenkassen abrechnen können.
Fachwissen über Reduzieren oder Absetzen als Teil der Aus- und Weiterbildung Fachwissen über Wege des Reduzierens und Absetzens von Psychopharmaka muss verbindlicher Teil in der beruflichen Weiterbildung von Ärzten sein (Facharztausbildung, spezifische Zusatzqualifikationen).
Weniger Einflussnahme der Pharmaindustrie, mehr unabhängige Forschung Die für die Patienten schädliche Einflussnahme der Pharmaindustrie auf die Verschreibungspraxis von Fach- und Hausärzten durch massive Werbung und die interessengeleitete Verwendung von Forschungsergebnissen muss beendet werden. Stattdessen ist verstärkt eine unabhängige Forschung zu fördern, um mehr Wissen über die positiven und negativen Effekte unterschiedlicher Dosierungen und langjähriger Nutzung zu erhalten. Auch die digitalen Möglichkeiten der Information, Begleitung und Unterstützung sollten weiterentwickelt werden.
Einbezug der Angehörigen Angehörige sollten wo immer möglich aktiv in die Behandlung und Begleitung einbezogen werden. Voraussetzung dafür ist die Zustimmung des Betroffenen. Auch Angehörige müssen über die Wirkungen und Nebenwirkungen, aber auch über die Grenzen von Psychopharmaka informiert werden. Psychopharmaka dürfen nicht überschätzt werden. Sie wirken nicht immer; akute Krankheitsphasen sind auch bei regelmäßiger Einnahme möglich.
Behandlungsvereinbarungen nutzen Es ist ratsam, eine Behandlungsvereinbarung zwischen Klinik und Patient zu erstellen. In ihr können aus bisherigen Erfahrungen Hinweise zur hilfreichen Medikation, aber auch zur Ablehnung bestimmter Behandlungsformen gegeben werden.
Landesverband Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e. V.
Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V.
Rainer Höflacher, ist Vorsitzender des LV Psychiatrieerfahrene Baden-Württemberg e.V. und EX-IN-Trainer, Achim Dochat ist Vorsitzender des LV Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e.V.
[1]Quelle: PSYCHOSOZIALE umschau, Heft 3/2019; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autoren.