Der Vorfall an den Universitätskliniken Hamburg-Eppendorf, bei dem der Sicherheitsdienst gerufen wurde und ein Patient zu Tode kam, und auch der Film des Teams Wallraff müssen Anstoß und Anregung zum Nachdenken über die psychiatrische und psychosoziale Versorgung sein. In diesem Zusammenhang müssen notwendige Fragen aufgegriffen, diskutiert und erforderliche Veränderungen sowie mögliche Umsetzungen aufgezeigt werden.
Festzuhalten ist, dass es im psychiatrischen Feld, wie auch sonst im gesellschaftlichen Leben, gewaltbereite Menschen und gewaltfördernde Situationen gibt und dass eine kleine Gruppe aus unterschiedlichen Gründen im psychiatrischen Kontext extrem reagieren kann bzw. strukturelle Bedingungen den Nährboden bereiten können. Das kann dazu führen, dass auch kompetente professionelle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sich überfordert oder bedroht fühlen und Hilfe benötigen. Inwiefern die Unterstützung von Sicherheitskräften oder Polizei in kritischen, bedrohlichen Situationen erforderlich ist, kann nur individuell entschieden werden.
Diese Maßnahmen müssen jedoch gründlich mit allen Betroffenen – auch mit dem psychisch erkrankten Menschen und ggf. mit seinem Umfeld – nachbesprochen und reflektiert werden, vor allem im Hinblick auf alternatives und vorbeugendes Handeln bzw. rechtzeitiges Erkennen von krisenhaften Zuspitzungen. Von daher muss eine lückenlose Aufklärung von Vorkommnissen und Fehlverhalten jeglicher Art selbstverständlich und Anliegen der betroffenen und beteiligten Personen sowie Institutionen sein.
Verantwortliche Aufmerksamkeit
Es geht nicht darum, die öffentlich gewordenen Situationen zu beurteilen oder nach „Schuldigen“ zu suchen, sondern vielmehr darum, ein Bewusstsein bei allen am System Beteiligten und darüber hinaus zu erreichen bzw. verantwortliche Aufmerksamkeit zu schaffen und somit möglicherweise den sich entwickelnden und zuspitzenden Spannungen, Aggressionen, Gewalt und einer anbahnenden Eskalation vorzubeugen.
Die Psychiatrie ist ein Bereich, in dem Menschen besonders verletzlich, häufig zudem emotional angespannt und in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt sind oder Situationen anders deuten und deshalb besonderen Schutz, aber auch ein besonderes Maß an Fachlichkeit und Menschlichkeit sowie individuelles situatives Einschätzen und Handlungsvarianten benötigen.
Der Vorfall an den Universitätskliniken Hamburg-Eppendorf führt beispielsweise zu der Frage, was macht ein Sicherheitsdienst in der Psychiatrie? Wann wird er mit welcher Begründung gerufen? Mit welchem psychiatrischen Basiswissen sind die Personen des Sicherheitsdienstes vertraut? Gleichzeitig ist zu fragen, inwieweit Mitarbeitende der Psychiatrie ihre Hilf- und Sprachlosigkeit an den Sicherheitsdienst delegieren, um sich nicht mit den unangenehmen Seiten des Arbeitsfeldes auseinanderzusetzen.
Können Sicherheitsdienste Pflegekräfte ersetzen?
Es ist in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen, dass seit Längerem in Kliniken verbreitet ist, Mitarbeitende eines Sicherheitsdienstes bei anderen einschneidenden psychiatrischen Maßnahmen einzusetzen, beispielsweise als Sitzwache bei fixierten Patienten als Eins-zu-Eins-Betreuung. Das kann durchaus als Behandlungsfehler bezeichnet werden, denn es ist davon auszugehen, dass Sicherheitskräfte in der Regel zu bereits sehr zugespitzten und gewalttätigen Situationen gerufen werden und dann akut handeln müssen, ohne nähere Informationen zu haben. In Normalfall verfügen sie über „Abwehrtechniken“, jedoch weniger über fachliche Schulungen hinsichtlich psychischer Erkrankungen und seelischer Ausnahmezustände.
Hier ist konkret zu fragen, inwiefern durch diese wenigen Tatsachen allein schon eine beschränkte Wahrnehmung und Verengung des Blickwinkels der herbeigerufenen Personen des Sicherheitsdienstes vorprogrammiert wird und ist – auch bei menschlichen und sozialen Kompetenzen. Der Fokus liegt beispielsweise nicht auf den umfassenden Zusammenhängen, sondern auf der aktuellen Situation und verhindert möglicherweise das Anwenden von individuellen Maßnahmen.
Wenn pflegerische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in psychiatrischen Kliniken gefragt werden, warum Sicherheitsdienste zum Einsatz kommen, dann wird als wesentlicher Grund „zu wenig anwesendes und psychiatrisch schlecht qualifiziertes Personal“ angeführt. Da muss doch die Frage gestellt werden, ob unter diesen Umständen eine adäquate Versorgung überhaupt möglich ist. Vor allem dann, wenn Ökonomie und Wirtschaftlichkeit Vorrang haben vor Betreuungs- und Behandlungskonzepten und einer am Patienten orientierten Qualität.
Vor diesem Hintergrund müssen ganz zwangsläufig einige Widersprüche sowie gravierende Hindernisse und Problemstellungen in der stationären Psychiatrie und darüber hinaus angesprochen werden.
Das Milieu pflegen
Verschiedene Untersuchungen und auch Alltagserfahrungen zeigen auf, dass das Klima einer Station u. a. wesentlich bestimmt ist von Räumlichkeiten, der Anzahl von Patienten und Patientinnen auf einer Station, der Qualifikation, Erfahrung und Anzahl von Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ebenso ins Gewicht fällt es, wenn (Grund-)Haltungen und Einstellungen sowie Flexibilität und individuell begründetes und fundiertes Handeln weniger ausgeprägt vorhanden ist. Deshalb genügen im Alltag deeskalierende theoretische Ansätze nur allein „ideologisch“ und „technisch“ angewandt nicht, es benötigt entsprechend reflektiertes individuell orientiertes Verhalten, in Kontakt bzw. Beziehung treten und die Frage, was der einzelne Mensch in der jeweiligen Situation braucht.
Deshalb sind im psychiatrisch professionellen Kontext u. a. die nachfolgenden Fragen immer wieder zu stellen und Lösungen zu suchen:
Diese Liste ließe sich weiter fortsetzen.
Denkanstöße aus pflegerischer Sicht
Es kann von daher beispielsweise in der Pflege hilfreich sein, die Station nach Qualitätskriterien zu analysieren, wie:
Strukturqualität: Kriterien, die zur Durchführung der Pflegeleistung erforderlich sind, wie Anzahl und Qualifikation der Mitarbeiter, Aus-, Fort- und Weiterbildungsbedingungen, erforderliche Räume, notwendige Materialien usw.
Prozessqualität: Bezieht sich auf die pflegerische Handlung selbst. Ausgehend von einem pflegetheoretischen Modell werden Art und Umfang der pflegerischen Intervention bestimmt. Die anzustrebende und für alle verbindliche Pflegequalitätsstufe wird festgelegt und beschrieben.
Ergebnisqualität: Beschreibt den Gesundheits- und Zufriedenheitszustand des Patienten. Das Pflegeergebnis ist somit primär Beurteilungsmaßstab für die pflegerischen Leistungen.
Voraussetzung für die Ergebnisqualität ist, dass Struktur- und Prozessqualität angemessen gewährleistet sind. Mit einer solchen Analyse können Stärken und Schwachstellen offengelegt werden, die dann notwendige Veränderungen deutlich machen und Grundlage für Neuerungen bzw. Umgestaltungen sind.
Wenn wir davon ausgehen, dass bei entsprechenden Konzepten wie beispielsweise Bezugspflege, regelmäßiges Deeskalationstraining, positive und unterstützende Kommunikation und lösungsorientierte sowie deeskalierende Gesprächsführung, aber auch räumliche Gestaltung, Vermitteln von Sicherheit sowie Kontakt- und Beziehungsangebote, weniger Spannungen entstehen, sind das zentrale Qualitätsmerkmale.
Dies lenkt zwangsläufig den Blick darauf, dass eine menschlich orientierte psychiatrische Versorgung nur gemeinsam mit Betroffenen und Angehörigen in der Anwendung von Fach- und Erfahrungswissen – sei es aus eigenem Erleben oder durch Miterleben – gelingen kann. Subjektive Wahrnehmung schärft den Blick für den jeweils anderen, vervollständigt diese und führt zum Dialog. Lebensnahe und lösungsorientierte Sichtweisen können durch ein trialogisches Miteinander mehr in den Fokus rücken. Das bedeutet auch, wie zahlreiche Berichte bestätigen, dass durch die Anwesenheit von Psychiatrieerfahrenen sich Situationen ganz anders darstellen, weniger angespannt sind und ein anderer Umgang entsteht. Deshalb muss auch zur Qualitätssicherung gefordert werden, dass Psychiatrieerfahrene selbstverständlicher personeller Bestandteil in allen Bereichen der psychosozialen Versorgung sind.
Über die Autorin:
Hilde Schädle-Deininger ist Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Dipl.-Pflegewirtin und Lehrerin für Pflegeberufe und als Dozentin in unterschiedlichen Kontexten freiberuflich tätig.
[1]Quelle: PSYCHOSOZIALE umschau, Heft 3/2019; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin.