Von Raimund Geene
Gesundheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in allen Politikfeldern berücksichtigt werden soll – so lautet die Kernaussage des Konzeptes „Health in All Policies“ (HiAP). Zur Umsetzung ist eine Doppelstrategie von politischen und gesellschaftlichen Ansätzen vorgesehen, die sich ergänzen und gegenseitig verstärken sollen für mehr Gesundheit für alle. Das Konzept „Gesundheit in allen Politikbereichen“ wurde erstmals in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung formuliert, die 1986 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet wurde. Die Ottawa-Charta selbst markierte einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitsförderung. Gesundheit wird seither nicht mehr primär als die Abwesenheit von Krankheit verstanden, sondern viel umfassender gedacht, als körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Dieses wird von einer Vielzahl von Determinanten beeinflusst – angefangen bei Alter, Geschlecht und genetischen Faktoren, über individuelle Verhaltensweisen, bis hin zu Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie sozioökonomischen, politischen, kulturellen und Umweltfaktoren. Daraus erwuchs die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht nur durch das Gesundheitssystem geschaffen oder erhalten wird, sondern maßgeblich durch Entscheidungen in anderen Politikfeldern wie Soziales, Umwelt, Verkehr, Wirtschaft, Arbeit, Bau- und Stadtentwicklung beeinflusst wird. Gesundheit als Menschenrecht erfordert daher eine umfassende und nachhaltige Strategie zur Gestaltung von gesunden Lebenswelten und -verhältnissen. Das HiAP-Konzept wurde 2006 unter der finnischen EU-Ratspräsidentschaft zum europäischen und 2013 durch die Helsinki-Konferenz der WHO schließlich zum internationalen Leitbild einer gerechten, nachhaltigen und zukunftsweisenden Gesundheitspolitik.
Strategien und Instrumente
Die WHO definiert HiAP als „ein Konzept für die Politik in allen Sektoren, die systematisch die Auswirkungen von Entscheidungen auf Gesundheit und Gesundheitssysteme berücksichtigt, Synergien sucht und schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit vermeidet, um die Gesundheit der Bevölkerung und gesundheitliche Chancengleichheit zu verbessern“. Zu den wesentlichen Strategien und Charakteristika zählen eine ressortübergreifende und intersektorale Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit, Nutzerorientierung, Salutogenese, Selbsthilfe sowie Empowerment. Im Zentrum steht jeweils die kleinteilige, konkrete Zusammenarbeit vor Ort, die nah an oder sogar partizipativ direkt mit den Bürger*innen entwickelt wird. Gerade in Deutschland, mit seiner Vielfalt an zivilgesellschaftlichem Engagement, gibt es enormes Potenzial, das bereits in vielen Kommunen zum Tragen kommt und sich in einer Vielzahl von Initiativen und Vereinen ausdrückt. Im HiAP-Konzept heißt dieser zivilgesellschaftliche Ansatz „Whole of Society-Approach“. Um diesen Ansatz noch mehr zur Wirkung zu bringen, muss die Politik allerdings Rahmenbedingungen schaffen, die die Gestaltung gesundheitsförderlicher Verhältnisse und Lebensbedingungen ermöglichen. Dieser „Whole of Government-Approach“, ein politikfeldübergreifender Ansatz, wird auf kommunaler Ebene bereits vielfach verfolgt, überregional in Deutschland jedoch noch eindeutig zu wenig. Politische Maßnahmen können etwa interministerielle Zusammenarbeit, Expertenkommissionen, Förderprogramme und Gesetze umfassen. Gemeinsam bilden die beiden Ansätze (Society- und Government-Approach) die Doppelstrategie des HiAP-Konzepts. Ein explizites Bekenntnis der politischen Führung ist eine wesentliche Voraussetzung, damit sich HiAP etablieren kann. Strategien zur Verankerung von Gesundheit in allen Politikbereichen hängen maßgeblich von den politischen Verantwortlichen und der Unterstützung „von oben“ ab. Als ebenso zentral erweisen sich die (überregionale) Koordination der intersektoralen Zusammenarbeit und die Etablierung nachhaltiger Strukturen, beispielsweise von intersektoralen Gremien und Arbeitsgruppen, Runden Tischen oder Gesundheitskonferenzen, die nicht zuletzt den Erfahrungs- und Wissensaustausch befördern. Ein weiteres Erfolgskriterium für HiAP ist darüber hinaus die Orientierung an konkreten, gemeinsamen Zielen sowie deren Überprüfung. Erprobte Instrumente sind hierfür beispielsweise Gesundheitsberichterstattung, Gesundheitsprozessanalysen (HLAs) oder Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen (HIAs). Dabei gibt es für HiAP nicht die eine Schlüsselstrategie. Vielmehr ist ein Zusammenwirken vielfältiger Akteur*innen, Strukturen, Maßnahmen und Instrumente für komplexe Veränderungsprozesse notwendig.
Internationale Konzepte und Modelle
International existieren ermutigende Modelle für solche umfassenden Gesundheitsstrategien. Als vorbildhaft gilt etwa die HiAP-Strategie im australischen Bundesstaat South Australia, die seit 2008 umgesetzt und eng von der WHO begleitet wird. Ein breites Bündnis von Akteur*innen hat sich dort auf Grundlage eines Regierungsbeschlusses 98 Gesundheitsziele in sechs Handlungsfeldern gesetzt. Im Mittelpunkt stehen die sozialen Determinanten der Gesundheit sowie Fragen der Bürgerbeteiligung, Verantwortlichkeiten, Transparenz und Finanzierung. Grundlage ist ein explizites Mandat der politischen Führung, flankiert von Monitoring- und Mediationsmechanismen. Weitere internationale Beispiele sind in Norwegen, in den USA (Kalifornien) und Kanada (British Columbia) zu finden.
Kommunale und zivilgesellschaftliche Ansätze in Deutschland
Auch wenn in Deutschland noch kaum langfristig dokumentierte und evaluierte HiAP-Modellprojekte existieren, bestehen doch gute Anknüpfungspunkte, wie regionale oder überregionale Gesundheitskonferenzen, Förderprogramme oder auch – bisher noch zu wenig umgesetzte – Präventions- und andere Fördergesetze. Es fehlt bislang jedoch an Vernetzung und gemeinsamer Stoßrichtung. Hier stellen sich, bedingt durch die föderalen und korporativen Gewaltenteilungen (Bund-Länder-Kommunen, Sozialpartner-Leistungserbringer), besondere Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten für die Doppelstrategie von politischen und gesellschaftlichen Ansätzen. Die konkreten Erfahrungen mit intersektoraler Arbeit liegen in den Kommunen sowie bei den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Im Rahmen integrierter Gesundheitsstrategien (unter anderem Gesundes Städte-Netzwerk, Präventionsketten) wird auf kommunaler Ebene vor Ort oft schon intensiv zusammengearbeitet – tatsächlich eine enorme Ressource für die Umsetzung des Society-Parts von HiAP. Gleichzeitig besteht oft ein Defizit in der überregionalen politischen Unterstützung, sodass Initiativen „von unten“ häufig an den gesetzlichen und allokativen Rahmenbedingungen „von oben“ scheitern. Es fehlt an Koordination auf Länder- und Bundesebene und eine wesentliche Frage ist ungeklärt: Wer sind die Fürsprecher*innen für die Gesundheit der Bevölkerung, wer betreibt „Public Health-Advocacy“? Punktuell waren in der Vergangenheit bereits gesamtgesellschaftliche Innovationen auch in Deutschland erkennbar. Solche „Windows of Opportunities“ gab es infolge der AIDS-Krise der 1980er- und 1990er-Jahre, in der sich neue Konzepte von Gesundheitsförderung, Selbsthilfe und Solidarität entwickelten. Auch der seit den 2000er-Jahren verstärkte Nichtraucherschutz zeigt mit seinem Maßnahmenbündel (wie etwa Rauch- und Werbeverbote, Steuererhöhungen, Kampagnen zum Nichtrauchen) auf, wie wichtig es ist, kurzfristig notwendiges Handeln mit einer langfristigen und nachhaltigen Perspektive zu verknüpfen, wie sie HiAP anbietet.
Roadmap Public Health: eine Strategie für Deutschland
Aus der Fachwelt und Zivilgesellschaft entwickeln sich inzwischen Kooperationen, die einem solchen Prozess selbstorganisiert vorgreifen. So wird seit Anfang 2019, koordiniert durch das Zukunftsforum Public Health, eine entsprechende Strategie (Roadmap Public Health, www.zukunftsforum-public-health.de) für Deutschland entwickelt, die entlang von zehn prioritären Aufgabenfeldern („EPHOs“) aufzeigen soll, wie sich durch ein gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen „mehr Gesundheit für alle“ in die Praxis umsetzen lässt. Die Ausarbeitung einer solchen überregionalen, aber auch kommunal verankerten Gesundheitsstrategie in den Bundesländern, wie sie im Land Bremen bereits beispielgebend entwickelt wird, ist der nächste wichtige Schritt auf dem Weg zu Gesundheit in allen Politikbereichen in Deutschland. Die bundesdeutschen Leitprinzipien von Föderalismus und Korporatismus begründen zwar bislang ein Defizit an überregionaler Governance, bieten aber gleichzeitig Chancen für Vielfalt, die durch Koordination genutzt und verstärkt werden können. Hier sollten Bundes- und Landespolitik die Erfahrungen von regionaler und nicht-staatlicher Lösungskompetenz (Kommunen, Wohlfahrt, Vereine, Selbsthilfe) aufgreifen und stützen – orientiert an den inhaltlichen Ansätzen von HiAP, mithilfe entwickelter HiAP-Instrumente und gemeinsam vereinbart im Rahmen einer Roadmap Public Health als gesundheitspolitisches Leitkonzept für Deutschland.
Über den Autor:
Prof. Dr. Raimund Geene, Berlin School of public health, Alice Salomon Hochschule Berlin, Alice-Salomon-Platz 5, 12627 Berlin, e-Mail: raimund.geene@charite.de
Literatur beim Verfasser
[1]Quelle: Impu!se für Gesundheitsförderung, Nr. 104, 09/2019; Herausgeber: Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.