„Deutschland, Land der Ideen“ – unter diesem Slogan betreiben Bundesregierung und der Bundesverband der Deutschen Industrie seit 2005 nationale Standortpolitik, um die aus guten, u.a. historischen Gründen international etwas angeschlagene „Marke“ Deutschland wieder positiv zu besetzen. Ähnlich dumpf und dünkelhaft klingt es, wenn Gesundheitsminister Jens Spahn verlautet, „wir werden das erste Land auf der Welt sein, in dem das gesetzliche System App auf Rezept möglich macht“ (1). Im Land der Ideen geht es um Innovation um jeden Preis, und Digitalisierung und Innovation sind scheinbar beinahe Synonyme, wie es bereits der Name des entsprechenden Gesetzesentwurfs „für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ (abgekürzt als „DVG“) suggeriert.
Doch worum geht es konkret? Der Deutsche Bundestag hat mit dem DVG ein Gesetz verabschiedet, das nach Prüfung durch den Bundesrat zum Jahresbeginn 2020 in Kraft treten soll. Von da an soll es möglich sein, dass Ärzt*innen ihren Patient*innen Gesundheits-Apps aller Art verschreiben können und die Kosten dafür unter bestimmten Auflagen von den Krankenkassen übernommen werden. Apps für psychische Störungen nehmen hierbei eine besondere Stellung ein: Mit ca. 28% haben sie unangefochten den höchsten Anteil am Gesamtvolumen der sich derzeit auf dem Markt befindlichen digitalen Gesundheitsanwendungen (2). Vor diesem Hintergrund ist es allerhöchste Zeit, sich mit der „digitalen Psychiatrie“, ihren Angeboten und deren individuellen wie gesellschaftlichen Auswirkungen auseinanderzusetzen.
Die „digitale Psychiatrie“
Computergestützte, internetbasierte Hilfsangebote werden in den letzten Jahren für ein breites Spektrum psychiatrischer Diagnosen erprobt, welches von sogenannten Volkskrankheiten wie Depression und Angststörungen (3,4) über weniger häufige Entitäten wie die posttraumatische Belastungsstörung (5), Schizophrenie (6) oder Borderline-Persönlichkeitsstörung (7) bis hin zu den Suchterkrankungen reicht (8,9). Ähnlich heterogen ist die Palette der angebotenen Produkte: Während Informations- und Vernetzungsportale (10) eher bereits aus der „analogen Welt“ bekannte Hilfsmöglichkeiten in den digitalen Raum übersetzen (entsprechend z.B. Ratgebern und Selbsthilfegruppen), beschreiten manche Produkte tatsächlich neue Wege, etwa indem sich wie bei dem vor allem für Jugendliche mit depressiven Beschwerden entwickelten Programm „SPARX“ User*innen durch verschiedene Levels eines psychoedukativen Computerspiels hindurchspielen können (11). Das Flaggschiff der digitalen Psychiatrie, sowohl was das Marktvolumen als auch was die mediale Aufmerksamkeit betrifft, sind aber zweifelsohne die sogenannten Psychotherapie-Apps. Diese Programme sind fast ausnahmslos an die kognitive Verhaltenstherapie angelehnt und verheißen den User*innen mehr oder minder explizit, online und kostengünstig eine Art Psychotherapie durchlaufen zu können. Bemerkenswerterweise ist in den meisten von ihnen keinerlei Mensch-zu-Mensch-Interaktion vorgesehen. User*innen setzen sich stattdessen selbstständig mit bestimmten Lernpaketen oder Übungen auseinander, Feedback gibt es dann komplett automatisiert. In Deutschland werden einige der namhafteren Anwendungen von Krankenkassen unterstützt, die ihren Mitglieder*innen freie Nutzung ermöglichen, so z.B. die AOK mit moodgym (12) oder die DAK mit Deprexis (13). Darüber hinaus existiert ein wahrer Wildwuchs an Apps und Tools, die rein privat angeboten werden und unkompliziert z.B. über den Apple App Store heruntergeladen werden können. Dass dabei häufig nicht allzu genau zwischen Behandlung, Coaching, well-being und Selbstoptimierung unterschieden wird, verraten bereits Produktnamen wie „Happify“ (14) oder „Mood-Path“ (15).
Psychotherapie-Apps: Einübung ins Kranksein?
Als kritische Psychiater*in oder Psychotherapeut*in könnte man leicht geneigt sein, Psychotherapie-Apps als harmlose Spielereien abzutun, die zwar vermutlich wenig bringen dürften, aber zumindest keinen allzu großen Schaden anrichten werden. Doch Psychotherapie-Apps haben für User*innen durchaus ihre Tücken: So sind beispielsweise ihre meist aus nur wenigen Fragen mit Ja-Nein-Antwortmöglichkeit bestehenden Eingangstests gezielt derart unspezifisch konstruiert, dass eine möglichst große Zielgruppe angesprochen wird. Das Ergebnis solcher Tests suggeriert dann in der Regel einen dringenderen Hilfsbedarf als es ein differenziertes Erstgespräch mit einer Therapeut*in höchstwahrscheinlich ergeben würde, natürlich verbunden mit der Empfehlung, die Arbeit mit dem Programm nun auch fortzusetzen. Steht die algorithmisch gestellte Verdachtsdiagnose erst einmal im Raum, werden User*innen konsequent weiterhin unter der Prämisse angesprochen, ihr Hauptproblem bestünde in einer psychischen Krankheit. Spätestens Techniken zur Symptomkontrolle vermitteln, dass die eigenen Beschwerden nicht sinnhafte Ausdrücke realer Probleme sind, sondern Effekte der Grunderkrankung, die es zu managen und nicht zu deuten gilt.
Welche Auswirkungen ein derart reduktiver, buchstäblich technisierter Umgang mit dem eigenen Befinden auf Dauer für User*innen hat, ist noch vollkommen unklar. Befürchtet werden muss jedoch, dass Psychotherapie-Apps allein aufgrund ihres Designs vorwiegend von Menschen genutzt werden, die eher unter unspezifischen, selbstlimitierenden Beschwerden oder Stresssymptomen leiden als in einem strengeren Sinne „psychisch krank“ zu sein. Dabei könnte es dazu kommen, dass genau diese Personen durch die permanente Ansprache als „psychisch krank“ und die intensive Arbeit an den Symptomen das durch das Programm vermittelte Krankheitskonstrukt regelrecht inkorporieren. Ist dies einmal geschehen, begleitet die Überzeugung, eine bestimmte Diagnose (gehabt) zu haben die User*innen nicht nur auf dem weiteren Lebensweg, sondern wird von ihnen womöglich auch in anderen Kontexten artikuliert, etwa bei der Psychiaterin oder beim Hausarzt. Diese würden dann womöglich im schlechtesten und leider gar nicht abwegigen Falle weitere eigentlich nicht notwendige Therapiemaßnahmen in die Wege leiten. Die algorithmisch gestellte Pseudo-Diagnose hätte sich somit gleich einer selbsterfüllenden Prophezeiung endgültig bewahrheitet (16).
Dass die Angebote der digitalen Psychiatrie eine derart hohe Verfänglichkeit besitzen, liegt auch darin begründet, dass sich mit ihnen bereits ohne DVG gutes Geld verdienen lässt. So kostet beispielsweise ein Kurs des von einem Berliner Unternehmen vermarkteten Programms „Selfapy“ je nach Funktionsumfang zwischen 69,90 € und 179,90 €/Monat (17). So wie hinter Selfapy stehen hinter den meisten Anwendungen kleinere Start-Up-Unternehmen, die durch Risikokapital finanziert werden – geliehenes Geld also, das in naher Zukunft eine Rendite erwirtschaften muss. Dementsprechend sind die meisten Programme auch recht klar ersichtlich darauf ausgerichtet, Neukund*innen zu akquirieren, Bestandskund*innen zu binden und, wo vorhanden, möglichst viele User*innen in zusätzliche Bezahlfunktionen zu überführen.
Brandbeschleuniger für die Psychiatrisierung der Gesellschaft
Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive springt die digitale Psychiatrie damit auf eine höchst problematische Entwicklung auf: In den letzten Jahrzehnten sind in Deutschland und anderen Industrienationen die Strukturen des psychiatrischen Hilfssystems immer weiter ausgebaut worden, was sich u.a. in steigenden Fallzahlen, einem Zuwachs von Krankenhausbetten, einem deutlichen Ausbau ambulanter und tagesklinischer Therapieangebote und einem steigenden Pro-Kopf-Verbrauch von Psychopharmaka niederschlägt (18). Zu einer Verringerung der psychischen Morbidität ist es dadurch jedoch nicht gekommen. Im Gegenteil: Inzidenzen und Prävalenzen bleiben kontinuierlich auf hohem Niveau oder steigen sogar weiter an, die WHO geht aktuell von dem enormen Wert einer weltweiten Punktprävalenz von 10% für behandlungsbedürftige psychische Störungen aus (19, 20).
Mit der digitalen Psychiatrie treffen nun handfeste wirtschaftliche Interessen, eine neue, scheinbar innovative Produktklasse und politische Akteur*innen, die diesem plumpen Branding aufsitzen, auf ein ohnehin schon hypertrophes und dennoch weiter expandierendes psychiatrisches Hilfssystem. Die digitale Psychiatrie könnte in diesem Kontext zum Brandbeschleuniger für die weitere Psychiatrisierung unserer Gesellschaft werden, mit dem Resultat, dass psychiatrische Konzepte wie z.B. Diagnosen noch weitere Kreise ziehen, von immer mehr Menschen für auf sich selbst zutreffend gehalten werden und immer weitere Bereiche der individuellen und kollektiven Lebenswelt durchwirken. Nicht nur als kritische Psychiater*in gibt es somit mehr als genug gute Gründe, den digitalen Verheißungen im eigenen Fachgebiet im mindesten Fall mit gesunder Skepsis gegenüberzustehen.
(1) Zitiert nach: Krüger-Brand HE: Antworten auf Zukunftsfragen finden. Deutsches Ärzteblatt, 116 (43), 25. Oktober 2019, B1586.
(2) Zum Vergleich: Apps für Herz-Kreislauferkrankungen nehmen gerade mal einen Anteil von 11% ein, siehe Angelescu K, Sauerland S (2019) Mobile Gesundheitsanwendungen: Welche Evidenz ist nötig? Deutsches Ärzteblatt, 116(21): A-1057 / B-870 / C-858.
(3) Johansson R, Andersson G (2012) Internet-based psychological treatments for depression. Expert Rev Neurotherapeutics 12(7):861–869.
(4) Olthuis JV, Watt MC, Bailey K et al. (2015) Therapist-supported Internet cognitive behavioural therapy for anxiety disorders in adults. Cochrane Database System Rev (3):CD011565.
(5) Kuester A, Niemeyer H, Knaevelsrud C (2016) Internet-based interventions for posttraumatic stress: A meta-analysis of randomized controlled trials. Clinic Psychol Rev 43:1-16.
(6) Alvarez-Jimenez M, Alcazar-Corcoles MA, González-Blanch C et al. (2014). Online, social media and mobile technologies for psychosis treatment: a systematic review on novel user-led interventions. Schizophrenia Res 156(1):96–106.
(7) Tsanas A, Saunders KEA, Bilderbeck AC et al. (2016). Daily longitudinal self-monitoring of mood variability in bipolar disorder and borderline personality disorder. J Affective Disord 205:225-233.
(8) Muench F (2014) The Promises and Pitfalls of Digital Technology in Its Application to Alcohol Treatment. Alcohol Res: Current Rev 36(1):131–142
(9) Hoch E, Preuss UW, Ferri M et al. (2016) Digital Interventions for Problematic Cannabis Users in Non-Clinical Settings: Findings from a Systematic Review and Meta-Analysis.Europ Addiction Res 22(5):233–242
(10) Gute Beispiele hierfür sind die englischsprachigen Portale “Elefriends“ (https://www.elefriends.org.uk/, Zugriff am 06.12.2019) oder „Big White Wall“ (https://www.bigwhitewall.co.uk/, Zugriff am 06.12.2019).
(11) www.sparx.org.nz (Zugriff am 06.12.2019)
(12) moodgym.de (Zugriff am 06.12.2019)
(13) de.deprexis.com (Zugriff am 06.12.2019)
(14) happify.com (Zugriff am 06.12.2019)
(15) mymoodpath.com/de/ (Zugriff am 06.12.2019)
(16) Beeker T, Thoma S (2019). Die digitale Psychiatrie zwischen User-Empowerment und Psychiatrisierung; Suizidprophylaxe 46(3): 82-98.
(17) www.selfapy.de (Zugriff am 05.12.2019)
(18) Einen Überblick zur Situation in Deutschland gegen die Statistiken der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16393.php (Zugriff am 04.12.2019)
(19) www.who.int/dg/speeches/2016/mental-health-spring-meetings/en/ (Zugriff am 05.12.2019)
(20) Kessler RC, Berglund P, Demler O et al. (2005) Lifetime prevalence and age-of-onset distributions of DSM-IV disorders in the National Comorbidity Survey Replication. Arch General Psychiat 62(6):593–602
Über den Autor:
Dr. med. Timo Beeker
Medizinische Hochschule Brandenburg
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
tbeeker@gmx.de
[1]Quelle: Gesundheit braucht Politik, Heft 4/2019; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.