Die ethischen Rahmenrichtlinien der DGVT bilden Leitlinien für alle Mitglieder und gelten in allen Arbeitsbereichen. Dazu gehören z. B. Bereiche der Forschung, Therapie, Beratung, Ausbildung, Erziehung, Personalführung, Verwaltung. Die ethischen Rahmenrichtlinien bieten keine Handlungsanweisung.
Dies sind zentrale Aspekte des sozialen Handelns. Sie stehen miteinander in Wechselwirkung. Im Laufe eines Prozesses und in unterschiedlichen Kontexten tritt manchmal der eine und manchmal der andere Aspekt in den Vordergrund. Die Reihenfolge der Darstellung ist nicht Ausdruck ihrer Bedeutung. Diese Schwerpunkte entsprechen westeuropäischer Kultur und Denkweise.
Ethische Rahmenrichtlinien unterstützen die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung. Dies ist ein Prozess ständiger Rückbesinnung und Bewertung, aus dem sich immer neu Perspektiven entwickeln. Dieser Prozess ist systemimmanent begrenzt und muss geöffnet werden durch den ständigen Dialog mit Menschen anderer Lebenswelten und Kulturen.
Haltung findet ihren Ausdruck im Verhalten von Menschen in konkreten Situationen. Haltung kann gefestigt sein, unsicher, ambivalent ... Alle im psychosozialen Bereich tätigen Menschen erhalten sich Offenheit in der Auseinandersetzung und Begegnung mit sich selbst und der Umwelt. Sie sind sich dabei der Grenzen der Wahrnehmung und ihres Verstehens bewusst und bemühen sich, um einen Prozess zunehmenden Verstehens und wachsender Fähigkeit zur Einnahme anderer Perspektiven.
Haltung beinhaltet zwei Aspekte: Qualität (was macht Haltung aus) und Prozess (wie entsteht sie und entwickelt sich weiter). Zur Qualität der Haltung gehören:
Jeder Mensch hat eine Haltung, sei sie gefestigt oder unsicher oder ambivalent. Die Entwicklung von Haltung ist ein sozialer Lernprozess; Modelleinflüsse spielen hierbei eine wichtige Rolle. Die Weiterentwicklung von Haltung findet statt durch die ernsthafte Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen, im kollegialen Austausch und der angeleiteten Supervision. Wertewandel und Haltungswandel finden auch statt vor dem Hintergrund bestehender und sich ändernder gesellschaftlicher Verhältnisse, zunehmender Information durch wissenschaftliche Erkenntnisse. Ein aktuell zu beobachtender Veränderungsprozess ist die Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen. Ein anderes Beispiel ist der Einsatz aversiver Verfahren in der Psychotherapie oder der Einsatz der Elektrokrampftherapie in der Psychiatrie, die im Laufe ihrer Geschichte wechselnd positiv und negativ bewertet wurden.
Die Beziehung im psychosozialen Handeln ist eine Wechselbeziehung, in der die besondere Verantwortung der AnbieterInnen darin liegt, dass Elemente wie "Rolle, Auftrag, Gestaltung" ständig reflektiert werden sollten.
Jeder professionelle Kontakt, ob einmalig oder fortlaufend, wird von Beginn an klar und transparent gestaltet.
Es wird jede Art von professionellem Kontakt erfasst; die Dauer der Beziehung spielt keine Rolle. Je nach Situation sollte die größtmögliche Klarheit hergestellt werden, z. B. über den Auftraggeber, über Inhalt und Dauer des Angebots, über die Kosten und die Möglichkeiten der Finanzierung, über Erfolgs- und Abbruchkriterien sowie über gesellschaftliche, institutionelle oder persönliche Interessen, die die Zusammenarbeit beeinflussen. Die Anbieterin, der Anbieter, hat eine Informations- und Aufklärungspflicht über die Arbeit gegenüber Kundinnen und Kunden.
Wenn im Rahmen von Therapie oder Beratung Vereinbarungen getroffen werden, z. B. über Termineinhaltung, Hausaufgaben, so ist immer auch zu klären, ob diese Art der Vereinbarung für beide Seiten dieselbe Bedeutung hat, damit nicht unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden.
Jede Anbieterin, jeder Anbieter psychosozialer Leistung trägt die Verantwortung für die Qualität der Arbeit.
Diese Richtlinie wendet sich an TherapeutInnen, BeraterInnen, AusbilderInnen, aber auch an Institutionen, die psychosoziale Leistungen anbieten. Dabei kommt zum Ausdruck, dass auch eine Institution als Anbieterin Verantwortung für das gesamte System hat, dass z. B. in einer Gemeinschaftspraxis oder in einer Abteilung einer Klinik alle Beteiligten Verantwortung für das Gesamtangebot haben.
Es geht darum, schon zu Beginn eine fachgerechte Qualifikation nachzuweisen, aber diese auch kontinuierlich weiterzuentwickeln, sich fortzubilden, sich zu überprüfen und gegebenenfalls überprüfen zu lassen. Unter diesem Aspekt ist es sinnvoll, die ganze Vielfalt der Fortbildungsmöglichkeiten zu nutzen, wie Studium aktueller Fachliteratur, Tagungen, kollegialer und interdisziplinärer Austausch. Es ist wünschenswert, dass Ausbildungen und Zusatzausbildungen für die jeweiligen Tätigkeitsfelder und Bereiche von Institutionen anerkannt sind, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind (z. B. Staat, Kammern, Hochschulen ...).
Eine kontinuierliche Supervision der therapeutischen Arbeit (einzeln, oder in der Gruppe) ist die notwendige Voraussetzung qualitativ hochwertiger Arbeit, weil erst auf diese Weise die Bedeutung persönlicher Anteile in der therapeutischen Beziehung und sog. "blinde Flecken" in ihrer Wirkung für den Therapieprozess reflektiert und konstruktiv bearbeitet werden können.
Für Tätigkeiten in Forschung, Lehre, Beratung u. ä. sind vergleichbare Reflektionsprozesse (Supervision, Coaching, Organisationsberatung o. ä.) angezeigt.
Die Qualität der Arbeit beinhaltet sowohl fachliche als auch persönliche Kompetenz. Im Rahmen psychotherapeutischer Tätigkeit ist dafür Sorge zu tragen, dass eine gegebenenfalls vorliegende organische Beteiligung an der zu behandelnden Störung ärztlich abgeklärt wird und erforderlichenfalls eine begleitende ärztliche Behandlung stattfindet. Ebenso ist es erforderlich, der jeweiligen Problemlage entsprechend, die Fachkompetenz anderer Berufsgruppen, wie z. B. Juristen, Lehrer und Lehrerinnen ... mit einzubeziehen.
Es ist notwendig, Standards zu entwickeln, an denen man die Qualität der Arbeit messen kann. Zu diesen Standards sollten folgende Aspekte gehören:
Der Anbieter, die Anbieterin ist verantwortlich für die Einhaltung des Datenschutzes. Dazu gehört der achtsame Umgang mit personenbezogenen Daten in Dokumentationen und im Austausch mit Dritten.
Psychosoziale Tätigkeit ist eine Dienstleistung. KlientInnen haben - mit einigen Ausnahmen - die freie Entscheidung, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen.
Ethische Normen und Werte wachsen aus dem Zusammenleben von Menschen und werden in einem Aushandlungsprozess ständig geprüft. Dieser Aushandlungsprozess ist von Machtverhältnissen und Interessen geprägt. In verschiedenen Lebenswelten gibt es verschiedene ethische Systeme. Bei Konflikten zwischen diesen Systemen ist ein Dialog herzustellen. Psychosoziales Handeln hat die Aufgabe, im psychosozialen Versorgungssystem Raum für diesen Prozess zu bieten.
Ethik ist zu verstehen als die Übereinkunft von Menschen über Normen, Werte und Regeln in den verschiedenen Systemen, in denen Menschen zusammen leben. Solche Systeme können kleinräumig sein, wie z. B. Familie, Verein, Arbeitswelt, oder großräumig wie Staaten, Religionsgemeinschaften. Es besteht die Gefahr, dass das in einem der Systeme "Gewohnte" als selbstverständlich, allgemeingültig und unveränderbar, als gültig auch für andere, angesehen wird. Die Begegnung mit ethischen Normen und Werten anderer Kulturen und andere Lebenswelten kann zu einer Verunsicherung führen, die ihrerseits wieder zu Lähmung, Abwehr, Aggression oder zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den eigenen ethischen Grundannahmen führen kann.
Normen und Werte sind mitgeprägt durch Interessen, z. B. geschlechtsspezifische Interessen. Sie verändern sich, wenn die Interessenlage sich verändert (z. B. Asylrecht). Neugier und die Bereitschaft, andere soziale und regionale Lebenswelten und Kulturen kennenzulernen und zu verstehen, sind wichtig. Das psychosoziale Versorgungssystem muss Raum für den Dialog zwischen verschiedenen Lebenswelten bieten. Weder über Finanzierungsbeiträge noch über inhaltliche Angebotsbegrenzungen dürfen bestimmte Gruppen von der psychosozialen Versorgung ausgeschlossen werden. Im Prinzip muss es eine differenzierte psychosoziale Versorgung für alle geben.
Wenn es einen Konflikt gibt zwischen gesellschaftlicher Erfolgserwartung (z. B. Gesundheit = Arbeitsfähigkeit) und individueller Erfolgsdefinition (z. B. Gesundheit = Ruhe und Entlastung), soll dieser Konflikt offengelegt werden und ein Dialog über die verschiedenen Ziele begonnen werden. Wenn in diesem Passus von Dialog die Rede ist, ist damit ein Prozess des Öffnens und des Austausches gemein, der nicht auf Sprache beschränkt ist.
Ethische Fragen haben eine gesellschaftspolitische Dimension, der sich niemand entziehen kann. Jede, jeder einzelne übernimmt durch ihr, sein Verhalten Verantwortung.
Zu den rechtlichen, und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hat jede, jeder in seinem Kontext eine Meinung, z. B. in Bezug auf fachliche Standards, finanzielle Ausstattung, Zulassungsvoraussetzungen, Versorgungsquote, Bedarfsplanungen … Jedes Handeln oder Nichthandeln hat seine Konsequenzen in Bezug auf diese Rahmenbedingungen.
Verabschiedet auf der Mitgliederversammlung am 30. März 2001 in Berlin.