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VPP 3/2016  • Inklusion

Bundesteilhabegesetz – Skandal oder Missverständnis?

09. September 2016
 

Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen besser zu ermöglichen, ist eines der  zentralen sozialpolitischen Ziele dieser Bundesregierung. Mit viel Elan ist die Bundessozialministerin in diesen Prozess gestartet. Es gab einen zehnmonatigen intensiven Beteiligungsprozess, in dem die Möglichkeiten, Chancen und Grenzen dieses Prozesses diskutiert wurden. Schon in diesen neun ganztägigen Sitzungen, die alle im Detail auf der Internetseite des BMAS http://www.gemeinsam-einfach-machen.de mit Unterlagen, Protokollen und Stellungnahmen dokumentiert sind, wurde deutlich, dass die Interessen der Leistungsberechtigten vertreten durch eine Vielzahl von Selbsthilfe-, Behinderten- und Sozialverbände, die der Leistungserbringer vertreten unter anderem durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege, durch einzelne Wohlfahrtsverbände wie auch durch einzelne Verbände wie die Lebenshilfe, und die der Leistungsträger vertreten durch die Länder, die Kommunalen Spitzenverbände, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger und durch die Rehabilitationsträger in vielen Punkten sehr unterschiedlich sind. Dennoch waren sich die Beteiligten zu folgenden Fragen einig:

  • Das Bundesteilhabegesetz soll die Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilfesystem herauslösen und zu einem eigenständigen Leistungsrecht machen;
  • die Anrechnung von Einkommen und Vermögen, ein klassisches Prinzip der Sozialhilfe, sollte möglichst beendet werden;
  • Behinderung sollte nicht mehr defizitär definiert werden, sondern die Definition soll die UN-Behindertenrechtskonvention übernehmen und sich auf den „International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF“ stützen; deshalb
  • soll gemeinsam mit dem Menschen die Teilhabe geplant werden.
  • Die Teilhabeplanung soll gewährleisten, dass Art und Umfang der Leistungen unabhängig vom Ort ihrer Erbringung immer gleich sind, weil sie den persönlichen Teilhabebedarf realisieren sollen. Weiterhin sollen
  • Menschen mit Behinderungen, die Leistungsansprüche an die Pflegeversicherung haben, diese zukünftig ohne Einschränkung in Anspruch nehmen können.

Trotz dieser gemeinsamen Ziele, die das Gesetz auch grundsätzlich erfüllt, wie im Folgenden dargestellt wird, wird es von vielen Verbänden der Behindertenselbsthilfe massiv kritisiert und abgelehnt. Menschen mit Behinderungen demonstrieren gegen dieses Gesetz, ketten sich an den Zaun des Kanzleramtes und rufen mit dem Hashtag „#NichtMeinGesetz“ zu einem Boykott dieses Gesetzes auf und erklären „wir wollen dieses Gesetz nicht“ (vgl. http://raul.de/leben-mit-behinderung/rede-die-schonraumfalle/). Auch die Lebenshilfe protestiert gegen dieses Gesetz mit dem Hashtag #TeilhabeStattAusgrenzung und nennt fünf zentrale Kritikpunkte:

  • Einkommens- und Vermögensfreigrenzen müssen auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung gelten,
  • der Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe muss alle Personen umfassen, die auch heute Leistungen erhalten,
  • Menschen mit Behinderung dürfen nicht von der Pflegeversicherung ausgeschlossen werden.
  • Die Kosten der Unterkunft für das Wohnen in Wohnstätten dürfen nicht willkürlich begrenzt werden,
  • Menschen mit Behinderung dürfen nicht gezwungen werden, ihre Unterstützung mit anderen zu teilen.

Wie sieht es mit diesen Kritikpunkten aus?

Einkommen und Vermögen

So eindeutig dieser Konsens war, so strittig ist die Umsetzung dieser Absprachen. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe (SGB XII) herausgelöst und als Teil 2 in das Sozialgesetzbuch Neun (SGB IX) eingeführt. Die Freigrenzen für die Anrechnung von Einkommen und Vermögen wird in zwei Stufen (erste Stufe 2017, zweite Stufe 2020) deutlich erhöht. Im Ergebnis müssen Menschen, die 30.000 € oder weniger im Jahr verdienen, keinen eigenen Beitrag zu der Eingliederungshilfe mehr erbringen; verdienen sie mehr als 30.000 € so müssen sie monatlich 2 % - also im Jahr 24 Prozent – des Betrages über 30.000 € als Eigenleistung einbringen. Verdient also ein Mensch mit Behinderungen, der Eingliederungshilfe erhält, 50.000 € im Jahr, dann muss er von den 20.000 €, die er über den 30.000 € verdient, 24 Prozent, also knapp 5.000 € als Eigenleistung einbringen. Er kann von dem verdienten Geld 50.000 € an Vermögen ansparen. Entscheidend ist: das Einkommen und das Vermögen einer Partnerin oder eines Partners wird bei diesen Berechnungen nicht mehr berücksichtigt. Auch wenn eine vollständige Freistellung von Einkommen und Vermögen noch nicht erreicht wurde, ist die Regelung ein großer Schritt in diese Richtung; von dieser Regelung profitieren mehr als 80 Prozent aller Menschen mit Behinderungen, denn 30.000 € beträgt das Durchschnittseinkommen in Deutschland. Das „Heiratsverbot“

Definition von Behinderung und leistungsberechtigter Personenkreis

In § 2 SGB IX-E wird der Begriff der Behinderung neu definiert. Er greift den Dreiklang der UN-Behindertenrechtskonvention von „Beeinträchtigung – Barrieren – Behinderung“ auf: Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperlich, seelisch, geistig oder in ihrer Sinneswahrnehmung beeinträchtigt sind, und die aufgrund dieser Beeinträchtigungen durch Barrieren in der Gesellschaft an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert werden. Diese allgemeine Definition wird im § 99 SGB IX-E konkretisiert, denn dieser beschreibt den Personenkreis, der Anspruch auf Eingliederungshilfe hat. Hier übernimmt der Gesetzentwurf die Philosophie des ICF und stellt fest, wenn ein Mensch bei der Ausführung von Aktivitäten in fünf der neun Lebensbereiche eine personelle oder technische Unterstützung benötigt. Diese Definition halten die Behindertenverbände für einschränkend, die Kommunalen Spitzenverbände sind im Gegensatz dazu der Auffassung, diese Definition erweitert den Kreis der Leistungsberechtigten. Die Kosten für die Eingliederungshilfe werden zwangsläufig weiter ansteigen.

Hier steht Meinung gegen Meinung: die Auswirkungen dieser Vorschrift müssen wissenschaftlich kontrolliert überprüft werden und wenn erforderlich, dann müssen sie angepasst werden, damit das gemeinsam vereinbarte Ziel: der Kreis der leistungsberechtigten Personen darf nicht verkleinert oder vergrößert werden. Wer heute Anspruch auf Eingliederungshilfe hat, soll sie auch morgen bekommen. Der Kabinettsentwurf sieht deshalb im Artikel 25 Absatz 2 eine Evaluationsklausel vor.

Teilhabeplanung und gemeinsame Inanspruchnahme von Leistungen

Die Teilhabeplanung ist weiterhin unstreitig, streitig ist aber die Frage, ob Menschen mit Behinderungen zukünftig damit einverstanden sein müssen, dass sie sich eine persönliche Assistenz bei der Leistungserbringung teilen müssen. Die Behindertenverbände nennen dies „Zwangspoolen“. Tatsächlich findet sich der Begriff „Poolen“ nicht im Gesetz, sondern § 116 SGB IX-E regelt, welche Leistungen dem Grund nach auch gemeinsam in Anspruch genommen werden können.

Um diese Regelung zu verstehen, muss man wissen, dass mit dem Bundesteilhabegesetz die klassischen „Heime“ der Behindertenhilfe abgeschafft werden, weil nach dem Bundesteilhabegesetz zukünftig die Eingliederungshilfe die Assistenz- und Unterstützungsleistungen bezahlt, die Kosten für den Lebensunterhalt, die Miete, die Heizung und andere Leistungen, die jeder Mensch benötigt, auch wenn er nicht behindert ist, hat – wie jeder Mensch – der Mensch mit Behinderung selbst zu finanzieren. Kann er dies nicht, erhält er Grundsicherung und darin sind die Kosten für die Miete, die dann der Einrichtungsträger bekommt, enthalten. Das BMAS hat erklärt, er werde mit dem Regelbedarfsanpassungsgesetz auch die Regelbedarfe für Menschen mit Behinderungen in Blick nehmen und hier den behinderungsbedingten Mehrbedarf aufnehmen. Doch da dieser Gesetzentwurf bis heute noch nicht veröffentlicht ist, kann die Behauptung der Lebenshilfe, die Kosten für die Wohnstätten würden willkürlich begrenzt werden, nicht bestätigt und auch nicht wiederlegt werden.

Zurück zur Frage, wann Menschen Leistungen gemeinsam in Anspruch nehmen (müssen). Schon heute nehmen Menschen, die in einer stationären Einrichtung leben, eine Vielzahl von Leistungen gemeinsam in Anspruch. Wenn es diese Einrichtungen aber nach dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes zum 1.1.2020 nicht mehr gibt, dann leben diese Menschen dennoch gemeinsam in Räumlichkeiten, die sie zum Teil auch gemeinschaftlich nutzen, zusammen. Wenn sich heute zwölf Menschen für die Nacht eine Nachtbereitschaft teilen, weil sie eng in einer Einrichtung zusammenleben, dann können sie dies auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes.

Ob diese gemeinsame Inanspruchnahme der Nachtbereitschaft zumutbar ist, wird bei der Teilhabeplanung erörtert. Der Leistungsträger entscheidet dann nach § 104 SGB IX-E, ob dies angemessen und zumutbar ist. Dabei sind die persönlichen, familiären und die räumlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Die Sorge der Behindertenverbände, zukünftig müssten sich zwei Menschen, die selbstständig jeweils unabhängig in einer Wohnung in der gleichen Straße leben, eine persönliche Assistenz teilen, teile ich nach diesen klaren Vorschriften nicht.

Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege?

Was bleibt ist die Frage, wann Menschen Eingliederungshilfe und wann sie Hilfe zur Pflege nach SGB XII erhalten werden. Diese Frage ist heute eine rein akademische Frage, denn letztlich spielt es heute keine Rolle, ob ein Mensch Unterstützungs- oder Assistenzleistungen als Eingliederungshilfe oder als Hilfe zur Pflege erhält, denn die Folgen sind für ihn die gleichen. Doch mit dem Bundesteilhabegesetz ändern sich die Anrechnungsregelungen für Einkommen und Vermögen. Menschen die nach dem BTHG Eingliederungshilfe erhalten, sind finanziell deutlich besser dran, als Menschen, die Hilfe zur Pflege erhalten werden.

Unstreitig ist auch hier: Wenn ein Mensch mit Behinderungen Anspruch auf Leistungen der Pflegekasse hat, dann soll er diese auch als erstes erhalten. Braucht er weitergehende Assistenz, Unterstützung und Betreuung dann sieht der Gesetzentwurf vor, dass diese als Eingliederungshilfe erbracht wird, wenn sie für die Teilhabe am sozialen Leben erforderlich ist. Was so einfach klingt, ist nicht einfach, denn bestimmte Leistungen wie die Unterstützung beim Waschen, Ankleiden, Essen zubereiten oder beim Essen selbst können pflegerische Leistungen sein oder Leistungen, die erforderlich sind, um die Teilhabe zu ermöglichen. Letztlich will auch die Pflege durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff Teilhabe ermöglichen. Der Gesetzentwurf sieht nun im § 91 SGB IX-E vor, dass alle Leistungen, die im häuslichen Umfeld erbracht werden, als Hilfe zur Pflege nach SGB XII erbracht werden, es sei denn, diese Leistungen sind erforderlich, um gesellschaftlich Teilhabe außerhalb der Häuslichkeit erst zu ermöglichen. Mit dieser Regelung werden Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Sozialhilfeträger geradezu provoziert. In der Begründung finden sich zwar lange Erläuterungen, wie diese Regelung zu verstehen ist; doch letztlich ist eine Abgrenzung kaum möglich. Ein Beispiel: eine Person braucht Unterstützung beim Waschen, Ankleiden und bei der Zubereitung des Frühstücks. Wird dieses alles erbracht, damit sie anschließend zum Beispiel in die Werkstatt für behinderte Menschen gehen kann, dann gehört diese Unterstützung zur Eingliederungshilfe. Bleibt sie aber anschließend zuhause, so ist es Hilfe zur Pflege. Diese Regelung wird mit Recht kritisch betrachtet, es muss gelingen bis zum Inkrafttreten des Gesetzes eine einfachere Regelung zu finden; damit Menschen, die heute Eingliederungshilfe erhalten, diese auch morgen bekommen. Ein – wie einige Verbände dem Gesetzgeber unterstellen – Abschieben von Menschen in die Pflege, ist keinesfalls das Ziel des Bundesteilhabegesetzes.

Ausblick

Das Bundesteilhabegesetz wird die Behindertenhilfe in Deutschland grundsätzlich verändern. Mit der Teilhabeplanung werden die notwendigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen endlich dem persönlichen Bedarf angepasst. Das persönliche Budget und das Budget für Arbeit werden deutlich aufgewertet. Es sind zwei Instrumente, um die Selbstbestimmung des Menschen mit Behinderungen zu stärken. Und noch ist Zeit dieses Gesetz durch die Beratungen im Bundestag und im Bundesrat weiter zu verbessern, damit mit diesem Gesetz auch die genannten Ziele erreicht werden.