Das Verstecken ist vorbei[1] - Neues Frauenhauskonzept - Das hexenHAUS in Espelkamp geht neue Wege
Das Oranje Huis im niederländischen Alkmaar sorgt für Aufsehen: Ein Frauenhaus, das nach außen sichtbar und trotzdem sicher ist. Ein Hilfezentrum, das zur Beendigung häuslicher Gewalt Frauen und ihre Kinder stärkt, aber auch dem Partner und dem Umfeld Unterstützung anbietet. Das hexenHAUS Espelkamp hat sich von diesem Modell inspirieren lassen. In Kooperation mit dem Paritätischen Nordrhein-Westfalen und dem Gesamtverband sowie mit Förderung des Deutschen Hilfswerks setzt es im Rahmen eines dreijährigen Pilotprojekts ein neues Frauenhaus-Konzept um.
Irgendwann hielt Barbara M. die Gewaltausbrüche ihres Mannes nicht mehr aus, die Schläge, die sie und die drei Kinder trafen. Vor allem der älteste Sohn Paul, ein schwerbehindertes Kind, hatte unter dem Vater zu leiden. Als Barbara M. um ihr Leben zu fürchten begann, nahm sie ihre Kinder und flüchtete ins Frauenhaus Espelkamp. Bloß weg von daheim, von der Gewalt. Und dann?
Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, gilt es Lösungen für eine passgenaue Hilfe zur Selbsthilfe zu finden. Dies ist ein Grundpfeiler des neuen Frauenhaus-Konzepts in Espelkamp. Dazu zählt auch herauszufinden, wie sich die Gewaltsituation entwickelt hat. „Viele Frauen haben erst einmal gar nicht die Absicht, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie wollen nur, dass die Gewalt aufhört“, erklärt Miriam Stock vom hexenHAUS.
Nach einem Risikoscreening zur Ermittlung des Gefährdungspotenzials und nach Zustimmung der Frau zielt die Beratung des Frauenhauses darauf ab, sowohl mit dem gewalttätigen Mann ins Gespräch zu kommen als auch mit der Frau zu klären, welche Wege sie gehen kann, um die Gewaltsituation dauerhaft zu überwinden, falls sie sich nicht von ihrem Mann trennt. „Diese Methode entspricht nicht mehr der klaren Aufteilung Täter-Opfer“, sagt Miriam Stock. Sie versteht, dass manche Kollegin aus der Frauenhaus-Bewegung mit diesem Ansatz des Oranje-Huis-Modells Schwierigkeiten hat.
Andere Voraussetzungen als in Holland
Die Verantwortlichen des hexenHAUSes waren von der Idee aus dem Nachbarland „angezündet“. Aber das Projekt eins zu eins übernehmen, „das geht nicht“, betont Geschäftsführerin Elke Schmidt-Sawatzki. Denn das Oranje Huis und die damit verknüpften Unterstützungsleistungen seien allesamt von Kommune und Staat finanziert, „alles bewegt sich auf einer Ebene“.
Das hexenHAUS hingegen ist eine gemeinnützige Organisation, die sich für ein neues Frauenhaus-Konzept erst einmal um Partner und um Finanzmittel bemühen muss. Beispiel: Das im Oranje Huis obligatorische Angebot einer Männerberatung. Das hexenHAUS suchte anderthalb Jahre nach einem Kooperationspartner für ein vergleichbares Angebot, fand aber nichts Adäquates. „Das ist schwer hier auf dem Land“, weiß Elke Schmidt-Sawatzki. Die nächste Möglichkeit böte sich in Bielefeld – mit 50 Kilometern Entfernung zu weit weg. Daher entschied das hexenHAUS, die Beratung selbst in die Hand zu nehmen, und beantragte beim Deutschen Hilfswerk Geld für eine entsprechende Fachkraft.
Nebeneinander statt übereinander
Um das Gesamtkonzept inhaltlich überhaupt umsetzen zu können, bedurfte es erst einmal passender Räumlichkeiten. Im Oranje Huis befindet sich von der Beratung bis zu den Wohnungen in mehreren Etagen alles unter einem Dach. Ein solches Objekt ließ sich in Espelkamp nicht verwirklichen. Stattdessen verfolgte das hexenHAUS gemeinsam mit PariSozial, der gemeinnützigen Gesellschaft für Paritätische Sozialdienste, und dem Wohnungsunternehmen Aufbaugemeinschaft Espelkamp die Lösung „Nebeneinander statt übereinander“: Das Domizil der Frauenberatungsstelle im Schweidnitzer Weg wurde erweitert. In einem gegenüberliegenden angemieteten Gebäude zog das Frauenhaus ein. Dessen Wohnungen für schutzsuchende Frauen und deren Kinder bieten 16 Plätze und vier Notfallplätze, eine Wohnung ist behindertengerecht ausgestattet. Das Frauenhaus ist mit dem anderen Gebäude durch einen geschützten Innenhof mit Spielplatz verbunden.
Die Sicherheitsvorkehrungen sind komplex. Der Eingang zum hexenHAUS-Ensemble wird mit einer Kamera überwacht. Besucher landen erst einmal in einer unauffälligen Sicherheitsschleuse, wo sie in Empfang genommen werden. Der Zugang zum Frauenhaus ist ausschließlich mit Transpondern möglich. Das sind Chips, mit denen die Türen geöffnet werden können. Nur ein begrenzter Personenkreis verfügt über diese Transponder. Sollte ein Chip verloren gehen, wird er im System sofort gelöscht.
Sicherheit im Umfeld
Die baulichen Schutzmaßnahmen werden ergänzt durch „die Sicherheit im Umfeld“, betont Elke Schmidt-Sawatzki. Das Frauenhaus ist bekannt, ist eingebettet in die Nachbarschaft des Viertels. Auch die Polizei ist sensibilisiert, und bei drohender Gefahr wird zusätzlich ein privater Wachdienst eingesetzt.
Die Bekanntheit des Frauenhauses ist bisher ohne negative Folgen geblieben. „Wir haben nicht mehr randalierende Männer vor der Tür als vorher“, sagt Miriam Stock. Ein Frauenhaus sei ohnehin nie richtig geheim, meint Elke Schmidt-Sawatzki: „Jeder Pizza-Dienst und jeder Taxifahrer weiß, wo es ist.“ Und im Zeitalter der sozialen Medien werde die Anonymität noch weiter aufgeweicht.
Selbstbewusstsein stärken
Ein Frauenhaus als bekannter Ort hat laut hexenHAUS auch einen Effekt auf die Bewohnerinnen: Es wirkt sich positiv auf Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung aus. Mit dem Vorhaben, die Ressourcen der Frauen zu stärken und mit ihnen eine neue selbstbestimmte Lebensperspektive zu erarbeiten, betritt das hexenHAUS bereits vertrautes Terrain: Alle seine Einrichtungen handeln seit Jahren nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe. Keine neuen Abhängigkeiten schaffen, lautet das Credo.
Jeder Aufenthalt im Frauenhaus beginnt mit einem Risikoscreening. „Wir müssen das Gefahrenpotenzial einschätzen“, erklärt Marie-Christin Schäfer, die das hexenHAUS-Team während der Umsetzung des Projekts vergrößert; ihre Stelle finanziert das Deutsche Hilfswerk. Es gibt drei Risikostufen: „Gelb“ bedeutet: ein Aufenthalt ohne weitere Schutzmaßnahmen wie Kontakt- und Näherungsverbot für den Mann ist möglich. Derartige Schritte werden bei der Stufe „Orange“ eingeleitet. Bei „Rot“ ist die Gefahr so groß, dass die Frau umgehend in einem anonymen Frauenhaus in einer anderen Stadt untergebracht werden muss.
Den Blick nach vorne richten
„Wir bekommen durch unsere Fragen ein gutes Bild“, erklärt Miriam Stock. Barbara M. und ihre Kinder zum Beispiel wurden in „Orange“ eingestuft. Das hexenHAUS schaltete das Jugendamt ein und unterstützte Frau M., ein Näherungs- und Kontaktverbot für ihren Mann zu erwirken. In der nächsten Phase galt es, Frau M. zu stabilisieren und ihr zu helfen, den Blick nach vorne zu richten. Für den schwerbehinderten Sohn fand sich ein Platz in einer Wochenpflege, so konnte sich Barbara M. auf die jüngeren Kinder und auf sich selbst konzentrieren. In der systemischen Beratung zeigte sich, dass Frau M. künftig getrennt von ihrem Mann leben möchte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihr Mann in der Zwischenzeit eine Therapie begonnen hatte. Eine neue Bleibe fand sie beim teilstationären Wohnungsprojekt des hexenHAUSes. Und ihre Schwester erklärte sich bereit, ihr zur Seite zu stehen.
Oft müssen die Frauen wieder lernen, selbstbestimmt zu leben
Selbstbestimmt zu leben müssen die Bewohnerinnen des Frauenhauses oft erst oder wieder lernen. Die Sozialpädagoginnen des hexenHAUSes versuchen in einer Umfeldanalyse herauszufinden, wer in der Familie oder im Bekanntenkreis noch helfen kann. Sie bereiten die Frauen außerdem darauf vor, wie sie nach der Zeit im Frauenhaus alltägliche Angelegenheiten selbst bewältigen können: eine Wohnung und eine Arbeit finden, finanzielle Angelegenheiten regeln. Dazu gehören Merkblätter, zum Beispiel zu Fragen bei der Wohnungsbesichtigung. Solche Handreichungen müssen zur Überwindung von Sprachbarrieren für Frauen mit Migrationshintergrund einfach gehalten sein, bestimmte Sachverhalte gegebenenfalls visuell erläutert werden. „Da ist Kreativität gefragt“, so Miriam Stock.
Besondere Unterstützung für die Kinder
Der Stärkungsaspekt des Frauenhaus-Konzepts bezieht sich ebenfalls auf die Kinder der Bewohnerinnen. „Kinder aus Gewaltbeziehungen brauchen besondere Unterstützung, damit sie später nicht in die gleiche Schlaufe geraten“, betont Elke Schmidt-Sawatzki. „Zu uns kommen Frauen, die waren schon als Kinder mit ihren Müttern hier.“ Deswegen finden die Kinder im Frauenhaus viel Raum, sich zu entfalten. In der Gruppe und allein mit der Erzieherin erhalten sie spielerisch Bestätigung, können Selbstvertrauen aufbauen.
Eigene Persönlichkeiten mit eigenen Wünschen
Mädchen und Jungen erfahren hier oft zum ersten Mal, als eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Wünschen angenommen zu werden. Miriam Stock erinnert sich an einen älteren Bruder von Zwillingen, der sich immer um die Kleinen kümmern musste und selbst hinten anstand. Die Erzieherin meinte, ihm mit einem Ausflug ins Schwimmbad etwas Gutes zu tun. Erst im Wasser gestand der Junge, dass er viel lieber Basketball gespielt hätte. Es brauchte die informelle Umgebung, das „Einzelsetting“ mit der Pädagogin, damit der Junge sich öffnete. Wo immer es geht, sollen die Mädchen und Jungen aus dem Frauenhaus auch in Sport oder andere Vereine gehen, um neue Erfahrungen zu machen.
Positive Impulse für das Mutter-Kind-Verhältnis
Das „Stärkungskonzept“ wirkt nicht nur bei der Persönlichkeit der Kinder aufbauend. Es gibt auch positive Impulse für das Mutter-Kind-Verhältnis. Barbara M. zum Beispiel hat ihre drei Kinder zwar immer gut versorgt, tat sich aber schwer mit Nähe und Empathie. Die Erzieherin nahm im Zuge des intensiven Kontakts wahr, dass der jüngere Sohn gerne schmökert. Sie riet Frau M., ihrem Jungen vorzulesen und so eine Gemeinsamkeit aufzubauen. Es gibt auch eine Kindergruppe, in der Mütter an Spielen beteiligt sind, zum Beispiel gemeinsam mit den Kindern Tauziehen, und sich so nahe kommen. Außerdem ist regelmäßig ein Familientherapeut anwesend, der monatliche Müttergespräche führt.
Die Neuausrichtung hat den hexenHAUS-Verantwortlichen einmal mehr deutlich gemacht: Ohne Vernetzung geht es nicht. „Ein Frauenhaus kann keine abgeschottete Black Box sein. Wir müssen mit den Institutionen kooperieren, allein schon wegen der Nachsorge“, bekräftigt Miriam Stock. Das hexenHAUS hat die Polizei, den Kreis und andere Behörden von seiner Arbeit überzeugt. „Wir treten da selbstbewusst auf und rechnen vor, was häusliche Gewalt zum Beispiel das Gesundheitswesen kostet. Wir hingegen wirken präventiv“, ergänzt Elke Schmidt-Sawatzki.
Letztes Jahr der Projektphase
Das Pilotprojekt des hexenHAUSes läuft mittlerweile im dritten und damit letzten Jahr. Alle Instrumente sind entwickelt und werden in der Praxis erprobt. Zum Ende des Jahres wird das Konzept noch einmal überprüft. Bis dahin feilt das Projektteam weiter an Inhalt und Abläufen, damit die Arbeit auch mit dem Regelpersonal – zwei Sozialpädagoginnen, eine Erzieherin, eine Hilfskraft – umgesetzt werden kann. „Die häusliche Gewalt an Frauen und Kindern hat nicht abgenommen“, sagt Elke Schmidt-Sawatzki. Um sie zu bekämpfen, sei mehr als engagierte Sozialarbeit notwendig. Die Geschäftsführerin des hexenHAUSes vermisst vor allem eine konsequente Ahndung der Gewalt durch die Justiz: „Verurteilungen von gewalttätigen Partnern sind selten.“
hexenHAUS
(Hilfe für Menschen in
Krisensituationen e.V.)
Tel.: 05772/9737-0
E-Mail: elke.schmidt-sawatzki@
hexenhaus-espelkamp.de
www.hexenhaus-espelkamp.de
Der Paritätische / Bernd Kleiner
[1]Quelle: Der Paritätische, Ausgabe 3/2016; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.