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Publikationen  • VPP 4/2022

Die Kommission der Lancet Psychiatry für Gewalt in der Partnerschaft und psychische Gesundheit: Förderung von psychosozialen Diensten, von Forschung und Politik

10. November 2022
 

Sian Oram, Helen L Fisher, Helen Minnis, Soraya Seedat, Sylvia Walby, Kelsey Hegarty, Khadj Rouf, Caroline Angénieux, Felicity Callard, Prabha S Chandra, Seena Fazel, Claudia Garcia-Moreno, Marion Henderson, Emma Howarth, Harriet L MacMillan, Laura K Murray, Sajaratulnisah Othman, Dan Robotham, Marta B Rondon, Angela Sweeney, Danny Taggart, Louise M Howard

Übersetzung des Originaltextes; Quelle: https://www.thelancet.com/commissions/intimate-partner-violence vom 13.09.2022

Zusammenfassung


Teil 1: Einführung

Gewalt in der Partnerschaft (Intimate Partner Violence, kurz: IPV) ist weltweit die häufigste Form von Gewalt und trägt wesentlich zur globalen Belastung durch psychische Gesundheitsprobleme bei. Die Kommission der Lancet Psychiatry für Gewalt in der Partnerschaft und psychische Gesundheit ist zusammengekommen, um die Fortschritte bei der Verringerung der Prävalenz von Gewalt in der Partnerschaft und der damit verbundenen psychischen Gesundheitsschäden zu prüfen und einen Fahrplan für die Stärkung der Maßnahmen in den Bereichen psychische Gesundheit, Forschung und Politik zu erstellen. Die psychische Gesundheitsfürsorge wird weltweit überwiegend durch die Primärversorgung erbracht, doch der Zusammenhang zwischen IPV und schweren psychischen Problemen sowie die Frage, wie IPV im Rahmen der sekundären psychischen Gesundheitsfürsorge am besten angegangen werden kann, wurden bisher vernachlässigt. Daher konzentrieren wir uns hauptsächlich auf die Veränderungen, die erforderlich sind, um IPV in der sekundären psychologischen Versorgung anzugehen. Unser Fokus auf die psychische Gesundheit ist eher pragmatisch als erschöpfend. Wir erkennen ebenso sehr die Notwendigkeit eines breiteren Wandels über verschiedene Disziplinen, Systeme und Institutionen hinweg an.

 

Teil 2: Belege für Zusammenhänge zwischen IPV und psychischen Gesundheitsproblemen

IPV ist ein Gender-Problem. Die meisten Opfer von IPV sind Frauen - weltweit haben schätzungsweise 27 % der Frauen und Mädchen im Alter von 15 Jahren oder älter körperliche oder sexuelle IPV erlebt -, aber auch andere Gruppen sind in hohem Maße von IPV betroffen, darunter sexuelle und Gender-Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, Migrant*innen und Menschen, die ethnisch marginalisierten oder indigenen Gruppen angehören. Die Zusammenhänge zwischen IPV und psychischer Gesundheit sind komplex. Wenn man in der Kindheit oder im Erwachsenenalter Gewalt erfährt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Reihe von psychischen Problemen entwickelt, Suizidgedanken hat einschließlich von Selbstmordversuchen. Wer psychische Störungen hat, ist  aber auch anfälliger für IPV. Kinder, die IPV ausgesetzt sind, haben ein hohes Risiko für weiteren Missbrauch und Vernachlässigungen. Und bei denen, die in der Kindheit IPV miterleben oder selbst Missbrauch erfahren haben, ist das Risiko stark erhöht, im Erwachsenenalter erneut IPV ausgesetzt zu sein und IPV selbst auszuüben. Menschen mit diagnostizierten psychischen Problemen begehen mit größerer Wahrscheinlichkeit IPV-Gewalttaten als Menschen ohne psychische Diagnosen, obwohl die absoluten Raten der IPV-Täterschaft niedrig sind. Dieser Zusammenhang scheint zum Teil durch Substanzmissbrauch mediiert. Die Häufigkeit von Gewalt nimmt zu, wenn psychische Störungen und Substanzmissbrauch zusammentreffen. Die Forschung in diesem Bereich ist kontrovers: Die Mechanismen müssen noch geklärt werden. Weiterhin bestehen Bedenken hinsichtlich der potenziell stigmatisierenden Folgen von psychischen Störungen im Zusammenhang mit IPV, sowie Befürchtungen, dass Diagnosen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung Frauen pathologisiert, wenn sie sich gegen Gewalt und Unterdrückung wehren. Der Zusammenhang zwischen psychischen Problemen und dem Erleben oder der Ausübung von IPV scheint jedoch über den gesamten Lebensverlauf hinweg zu bestehen und bezieht sich sowohl auf den Beginn als auch auf den Verlauf von psychischen Problemen bzw. Störungen.

 

Teil 3: IPV im Lebenslauf

Obwohl IPV endemisch ist, ist sie nicht unvermeidlich. Es gibt mehrere Ansatzpunkte für Prävention und Interventionen mit Bezug auf Einzelpersonen, Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften. Einige sind phasenspezifisch, wie z. B. Elternprogramme zur Verringerung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung oder schulische Programme zur Bekämpfung gewaltfördernder Normen und Verhaltensweisen; andere erstrecken sich über mehrere Phasen oder sind über den gesamten Lebensverlauf hinweg relevant, wie z. B. die Prävention und Behandlung von Substanzmissbrauch und die Unterstützung der Fort- und Weiterbildung sowie der Sekundar- oder Hochschulbildung von Frauen.

 

Teil 4: Messung von IPV

Die Messung der Häufigkeit, des Schweregrads und des Kontexts von IPV, ihres gleichzeitigen Auftretens mit anderen Formen von Gewalt und ihrer Auswirkungen auf die psychische Gesundheit ist eine Herausforderung, aber wichtig. Obwohl die Erhebungsmethoden der IPV bereits erheblich verbessert wurden, muss noch mehr getan werden, um die Datenerhebung weiter voranzubringen und durch sektorenübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern. Erhebungsdaten unterscheiden sich stark voneinander und sind fragmentiert je nach den Belangen der verschiedenen Bereiche, der Fachkräfte und der Praktiker*innen. Die Entwicklung von IPV-Maßnahmen sollte Menschen mit IPV-Erfahrungen und psychischen Gesundheitsproblemen einbeziehen, um sicherzustellen, dass die generierten Maßnahmen relevant, durchführbar und valide sind.

 

Teil 5: Transformation des psychischen Gesundheitssystems um IPV anzugehen

Opfer sollten bei der Entwicklung und Bewertung von Unterstützungsmaßnahmen auf allen Ebenen eine zentrale Rolle spielen, von durch Opfer geleiteten Basisdiensten bis hin zu gesetzlich angeordneten psychosozialen Hilfeleistungen. Psychosoziale Systeme und Angebote können einen entscheidenden Beitrag zur Heilung von Opfer von IPV leisten, doch allzu oft wird das nicht genutzt, und manche Opfer erleben psychosoziale Angebote sogar als schädlich und retraumatisierend. Opfer wie Anbieter*innen haben gleichermaßen auf die Dringlichkeit von Reformen hingewiesen, um Personen, die IPV erfahren haben, Wege zu Sicherheit, Heilung, Gesundheit und Wohlbefinden zu eröffnen, u.a. durch die gemeinsame Erarbeitung von trauma-informierten Versorgungskonzepten. Alle psychosozialen Fachkräfte sollten ein gutes Verständnis der geschlechtsspezifischen Natur und Dynamik von IPV haben, der Auswirkungen von IPV auf die psychische Gesundheit und die Intersektion von IPV und psychischer Gesundheit mit anderen Formen der Unterdrückung wie Rassismus, Transphobie, Behindertenfeindlichkeit und Armut. Psychosoziale Fachkräfte sollten durch Schulungen und kontinuierliche Weiterbildung in die Lage versetzt werden, angemessen zu reagieren, und sie sollten sich auf eine organisatorische Infrastruktur und Unterstützung verlassen können. Da der Zugang zu psychosozialen Diensten aufgrund mangelnder Verfügbarkeit und finanzieller oder logistischer Einschränkungen schwierig sein kann (insbesondere für marginalisierte Bevölkerungsgruppen und für Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen), sind Bemühungen zur Integration der psychosozialen Versorgung in die primäre Gesundheitsversorgung, zur verstärkten Ausbildung von Laienhelfer*innen und zur Bereitstellung von durch Betroffene geleitete Dienste und Basisdienste zur psychischen Gesundheitsversorgung unerlässlich.

 

Teil 6: Zu Fragen von Gender-Ungleichheit und der gesellschaftlichen Reaktionen auf IPV

Die Primärprävention sollte mit der Arbeit zur Stärkung der psychosozialen Dienste zur Bekämpfung von IPV einhergehen und auf einem intersektionalen Ansatz beruhen, der anerkennt, dass IPV mit  Gender und anderen Formen der Unterdrückung zusammenhängt. Zu den strukturellen Faktoren, die angegangen werden müssen, gehören der Zugang zu Bildung, Beschäftigung und Strategien zu Bekämpfung von Armut, von Gesetzen und politischen Maßnahmen, die Frauen (z. B. in Bezug auf Scheidung, Sorgerecht für Kinder, Eigentumsrechte und Erbschaft) und andere Gruppen diskriminieren, die einem Risiko für IPV ausgesetzt sind (einschließlich Menschen, die in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben und Gender-Minderheiten), die Umsetzung und Durchsetzung von Anti-Gewalt-Gesetzen und politischen Maßnahmen zur Reduzierung des schädlichen Konsums von Alkohol. Zur Prävention von IVP sollten darüber hinaus Gesellschaften darüber nachdenken, inwieweit gewaltfördernde Normen in der Gesellschaft verankert sind und inwieweit institutionelle und Alltagsstrukturen diese Normen dulden oder sogar verstärken. Das Risiko von Gewalt gegen Frauen ist in Gesellschaften am höchsten, in denen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern am größten ist und in denen die Anwendung von Gewalt im Allgemeinen und die Anwendung von Gewalt gegen Frauen im Besonderen eine akzeptierte Norm ist. Die Bedeutung des Kontextes und weiter gefasster gesellschaftlicher Fragen bei der IPV ist während der COVID-19-Pandemie besonders deutlich geworden, was international zu einem steilen Anstieg der Berichte über IPV geführt hat. Die Folgen dieser erhöhten IPV-Raten und die möglicherweise verringerten Möglichkeiten IPV zu entkommen und Unterstützung für die psychische Gesundheit zu erhalten, sind noch nicht erkennbar, müssen aber neben den Folgen von COVID-19 selbst für die psychische Gesundheit untersucht werden.

 

 

The Lancet Psychiatry Commission on intimate partner violence (2022) – einige kurze Anmerkungen zur Zusammenfassung des Berichts und einige Hinweise auf einschlägige Publikationen

Von Dr. Irmgard Vogt (Diplom-Psychologin, Dr. phil., PD., Professorin im Ruhestand an der Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied der DGVT-Fachgruppe Frauen und der DGVT-Fachgruppe Psychosoziale Versorgung)

 

 

Der Bericht der Lancet-Kommission zu Gewalt in Partnerschaften ist sehr breit angelegt und sehr umfassend. Das gilt auch für die Literaturliste, die insgesamt 369 englischsprachige Veröffentlichungen umfasst. Ich beschränke meine Anmerkungen auf einige wenige Erläuterungen, die über die Zusammenfassung hinausgehen, insbesondere zu den Ausführungen zur Intersektion von Gewalt und psychischen Störungen, zu Messinstrumenten und zu Anforderungen an das Gesundheitssystem unter Berücksichtigung der Lage in Deutschland. Darüber hinaus verweise ich auf eine Reihe von Publikationen, die aus meiner Sicht für den gesamten Themenkomplex besonders wichtig sind. 

Wie der Titel bereits klarmacht, bezieht sich die Studie auf Gewalt in engen persönlichen Beziehungen bzw. Partnerschaften, wobei spezifische Problemlagen, die auf Naturkatastrophen und Kriege zurückzuführen sind, mitbedacht sind, jedoch im Text selbst nicht ausführlich diskutiert werden. Der Begriff Gewalt, der hier verwendet wird, bezieht sich auf alle Formen von physischen, psychischen oder sexuellen Einwirkungen, die zu Schaden (harm) bei den Opfern führen. Das schließt körperliche und sexuelle Angriffe, Verletzungen und Tod mit ein, ebenso emotionale Übergriffe sowie kontrollierendes Verhalten und Zwang, die in der Realität oder digital (z.B. über soziale Medien) ausgeübt werden können. Unter den Begriffen Mädchen und Frauen bzw. Jungen und Männer werden im Folgenden alle Personen subsummiert, die sich entsprechend definieren. Aussagen über weitere Geschlechter können nur bedingt gemacht werden, weil dazu nur sehr wenige bzw. keine empirischen Daten vorliegen. Sie werden aber stets mitberücksichtigt, auch wenn bislang nur schwer abzuschätzen ist, wie stark auch sie unter IPV leiden.

Zunächst zu einigen Ergebnissen zu Gewalt in Partnerschaften. Die Kommission geht davon aus, dass weltweit ca. 27 % der Mädchen und Frauen ab 15 Jahren körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben (Lebenszeitprävalenz). Für Jungen und Männer liegen keine vergleichbaren Schätzungen vor. Jedoch spricht vieles dafür, dass ihr Risiko Opfer von Gewalt in engen persönlichen Beziehungen zu werden deutlich kleiner ist als das von Mädchen und Frauen. Das wird unterstrichen durch die weltweit zugänglichen (also veröffentlichten) Daten zum Mord an Frauen und Männern in Partnerschaften. Danach ergibt sich für den Zeitraum von 1982 bis 2011, dass 38 % Frauen und 6 % Männer in Partnerschaften ermordet worden sind (WHO, 2013). Dieses Ergebnis belegt sehr gut, dass die gesundheitlichen Gefahren, die mit Gewalt in engen persönlichen Beziehungen einhergehen und die im schlimmsten Fall mit dem Tod des Opfers enden, für Mädchen und Frauen viel größer sind als für Jungen und Männer. 

Wie in der Zusammenfassung ausgeführt wird, besteht eine Interdependenz zwischen Gewalt und psychischen Störungen. Zum einen ist mittlerweile gut belegt, dass Menschen, die Opfer von Gewalt in Partnerschaften geworden sind, ein vergleichsweises hohes Risiko haben, Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen einschließlich suizidaler Tendenzen, Substanzkonsumstörungen (Dube et al., 2002) und auch Persönlichkeitsstörungen zu entwickeln. Zum andern ist jedoch das Risiko von Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer - unter psychischen Störungen leiden, erhöht, Opfer von Gewalttätigkeiten in Partnerschaften zu werden (Khalifeh et al., 2016). Mädchen und Frauen, die also schon einmal Opfer von Gewalt in Beziehungen geworden sind und darauf mit starken Ängsten, schweren Depressionen oder anderen psychischen Störungen reagiert haben, haben ein überdurchschnittlich hohes Risiko, zu einem etwas späteren Zeitpunkt erneut (und wiederholt) Opfer von häuslicher Gewalt zu werden.

Andererseits haben Menschen mit psychischen Störungen auch ein etwas höheres Risiko, Gewalt in Partnerschaften auszuüben (Oram et al., 2014). Allerdings steht man hier noch am Anfang der Forschung. Lediglich im Zusammenhang mit dem (exzessiven) Konsum und der Abhängigkeit von Alkohol, Amphetaminen (auch Metamphetamin), Kokain und anderen psychoaktiven Substanzen ist heute gut belegt, dass die Wahrscheinlichkeit ansteigt, dass es zu Gewalttätigkeiten in Partnerschaften bzw. in Familien kommt (Duke et al., 2018; Yu et al., 2020; Vogt, 2022a, b). Nicht selten leiden Menschen mit Suchtproblemen zudem unter weiteren Störungen wie z.B. einer niedrigen Frustrationstoleranz sowie unzureichender Selbstkontrolle (Fazel et al., 2018; Leonard & Quigley, 2017); auch darum neigen sie schnell dazu, gegenüber ihren Partner*innen und weiteren Familienmitgliedern und schließlich auch gegenüber anderen (unbeteiligten) Personen gewalttätig zuwerden.

Alle Aussagen über die Zusammenhänge zwischen Geschlechtern, Gewalttätigkeiten und den Folgen beruhen auf empirischen Studien. Daher ist es sehr wichtig, sich mit der Methodik dieser Studien auseinanderzusetzen. Das gilt für ihren Aufbau ebenso wie für die Instrumente, die eingesetzt worden sind, um Gewalttätigkeiten in Partnerschaften zusammen mit anderen Variablen, mit denen es intersektionale Zusammenhänge geben kann, zu erfassen.  

Die Aussagen zu Gewalt in Partnerschaften bzw. in engen persönlichen Beziehungen beruhen in der Mehrzahl auf den Ergebnissen von Querschnitts-Studien, die auf nationaler (z.B. Müller & Schröttle, 2004, 2006; WHO, 2013) und regionaler Ebene durchgeführt worden sind. In nahezu allen Studien werden auf der Grundlage unterschiedlicher Definitionen von Geschlecht, Gewalt und weiteren Variablen und unter Einsatz unterschiedlicher Instrumente Daten erhoben. Daher ist es nicht einfach, die Ergebnisse dieser Studien über nationale und kulturelle Grenzen hinweg zusammenzufassen und zu interpretieren. Faktisch handelt es sich bei den Angaben der WHO zur Häufigkeit von Gewalt gegen Mädchen und Frauen und zu Todesfällen in diesem Zusammenhang um Trendaussagen. Noch weit ungenauer sind alle Angaben hinsichtlich des Zusammenhangs von Gewalt und psychischen Störungen, weil dazu in sehr vielen Studien keine einschlägigen Daten erhoben worden sind oder aber mit Instrumenten, die einen Vergleich der Befunde behindern. Zu diesem Komplex liegen daher hauptsächlich Daten aus nicht-repräsentativen und qualitativen Studien vor. Bei einigen Ergebnissen, auf die eingangs eingegangen worden ist, handelt es sich daher ebenfalls um Trendaussagen, die mit weiteren Studien validiert werden müssen.

Problematisch sind zudem eine Reihe von Erhebungsinstrumenten wie z.B. die Conflict Tactic Scale; CTS bzw. CTS-2, (vgl. dazu z.B. Straus, 1979), die Ergebnisse begünstigen, die die Aggressionen gleichverteilt bei Männern und Frauen sehen (z.B. Bates, 2019; Costa et al., 2017). Walby und Mitarbeiter*innen (z.B. 2016, 2017) weisen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf die Probleme hin, die mit Fragen nach Gewalttätigkeiten in engen sozialen Beziehungen bzw. in Partnerschaften verbunden sind; sie fordern Verbesserungen bei der Konstruktion der Erhebungsinstrumente ein. Neben anderem geht es darum, die Häufigkeit und Schwere der Gewalttätigkeiten über einen definierten Zeitraum hin genauer zu erfassen, ebenso die Auswirkungen und Folgen für die Opfer. Aus ihrer Sicht kann nur mit solchen Studien belegt werden, dass es bei Gewalt in engen sozialen Beziehungen bzw. in Partnerschaften tatsächlich Gender-Unterschiede gibt, dass also tatsächlich Mädchen und Frauen bzw. andere Geschlechter sehr viel häufiger als Jungen und Männer Opfer sind und dass sie auch in den allermeisten Fällen die schwereren Verletzungen davontragen. Diesen Anspruch löst die Composite Abuse Scale (CAS, Hegarty et al., 1999, 2005) erheblich besser ein als die CTS-2.

Erschwert wird die Diskussion durch unterschiedliche kulturell geformte Vorstellungen darüber, was Gewalt z.B. in Partnerschaften ausmacht und was nicht. Als Beispiel verweise ich hier auf die Kinderheirat, die in einigen Länder erlaubt ist und als selbstverständlich hingenommen wird, in vielen anderen aber unter die Kategorie „sexuelle Gewalt“ fällt. Ähnlich weit auseinander liegen die Urteile in Gesellschaften mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund hinsichtlich von psychischer, emotionaler und kontrollierender Gewalt, wenn sie vom Ehemann in einer Partnerschaft oder vom Vater oder einem anderen männlichen Oberhaupt in einer Familie ausgeübt wird. Das gilt in gewissem Umfang auch für psychische Störungen, die ebenfalls je nach kulturellem Kontext in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und interpretiert werden. Darauf geht die Lancet-Kommission jedoch nur ganz am Rande ein.

Faktisch orientiert sich die Kommission in ihrem Bericht an westlichen Normen und Standards darüber, welche Handlungen als gewalttätig verstanden werden und welche Verhaltensweisen als Ausdruck von psychischen Störungen. Auf diese Weise gelingt es dann auch, Zusammenhänge zwischen Gewalttätigkeiten und psychischer Gesundheit bzw. psychischer Krankheit herauszuarbeiten, die als Grundlage für Handlungsanweisungen für die Fachkräfte in den Gesundheitsberufen herangezogen werden können (z.B. WHO, 2019). Wie weit diese Handlungsanweisungen dann in stark davon abweichende kulturelle Kontexte übertragen werden können, ist unklar.

Anforderungen an die Fachkräfte der Gesundheitsberufe: Menschen, insbesondere Frauen, die Opfer von Gewalt in Partnerschaften geworden sind, suchen oft Hilfen bei Fachkräften der Gesundheitsberufe, z.B. bei Ärzt*innen mit einer allgemeinen Praxis oder in Notfallpraxen und bei Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen sowie bei anderen Berufsgruppen (Sozialarbeiter*innen, Kindergärtner*innen usw.). Menschen, die dort ankommen und bei denen sich der Verdacht aufdrängt, dass sie Opfer von Gewalt in Partnerschaften geworden sind, sollen von den Fachkräften behutsam danach gefragt werden. Techniken, wie in solchen Fällen erste Gespräche zu Gewalt in Partnerschaften eingeleitet werden können, liegen mittlerweile vor (z.B. Kratzer & Heinz, 2020; Kuitunen-Paul et al., 2022; Schellong, 2020) ebenso Anleitungen zu ärztlichen Untersuchungen und Dokumentationen (z.B. https://www.big-berlin.info). Je nach Fall soll eine Weitervermittlung in eine auf einen längeren Zeitraum angelegte ambulante Psychotherapie (z.B. Hameed et al., 2020; Schwarz, 2022; Stewart et al., 2017) oder eine Behandlung in einer stationären Einrichtung wie z.B. einem Frauenhaus oder in einer psychosomatischen Klinik usw. überlegt und – wenn die Klient*innen bzw. Patient*innen damit einverstanden sind – aktiv angegangen werden. Eine Reihe von Gesetzen unterstützen Opfer von häuslicher Gewalt, sich gegenüber Übergriffen zu wehren und zu verteidigen (ausführlich dazu: BMFSFJ, GREVIO, 2020, https://www.bmfsfj.de ).

Zu berücksichtigen ist hier, dass die Beziehungsgefüge von erwachsenen Menschen, die in gewalttätigen Partnerschaften leben, sehr komplex sind. Das zeigt sich u.a. daran, dass manche Paare, in denen es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, sich nicht trennen wollen oder die nach einer kurzen Trennung wieder zusammenkommen. Es gibt daher für Fachkräfte, die mit Menschen arbeiten, die Opfer von Gewalt in Partnerschaften geworden sind, keine einfachen „best practice“-Anleitungen für alle Fälle. Vielmehr geht es immer wieder darum, für jeden Einzelfall zu erkunden, welche Hilfen benötigt und angenommen werden.

Da in vielen Partnerschaften, in denen Gewalttätigkeiten vorkommen, auch Kinder leben, müssen diese unbedingt berücksichtigt werden (mehr dazu z.B. https://www.gesine-intervention.de). Fachkräfte in den Gesundheitsberufen, in den Kinder- und Jugendeinrichtungen, in Schulen usw. (vgl. § 4 KKG) sollen, wenn sie den Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung haben, zunächst mit den Betroffenen „die Situation erörtern“ und den Sachverhalt klären. Dazu gehören Gespräche z.B. mit den Eltern sowie – in getrennten Sitzungen – mit den Kindern, in denen es u.a. um Gewalttätigkeiten in der Familie geht.  Diese Explorationen verlangen viel Umsicht und Einfühlungsvermögen. Gelingt es in diesen Gesprächen nicht, den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung auszuräumen, sind sie befugt bzw. gesetzlich verpflichtet (vgl. dazu § 8a SGB VIII; Übersicht im BKischG), das Jugendamt zu informieren. Darauf sind die Eltern bzw. die Klient*innen und Patient*innen (z.B. in einer ärztlichen Sprechstunde oder in einer Suchtberatungsstelle usw.) frühzeitig hinzuweisen. Das sind für Fachkräfte der Gesundheitsberufe, zu denen Berater*innen in vielen verschiedenen sozialen Einrichtungen ebenso gehören wie Psychotherapeut*innen, schwierige Situationen. Fortbildungen und Supervisionen sind wichtige Bausteine zur Vorbereitung und Umsetzung der gesetzlichen Regelungen.  

Literaturhinweise

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