Fachtagung „Geflüchtete Kinder und Jugendliche“, veranstaltet von Bündnis 90/Die Grünen am 4.12.2015 in Berlin
Für die DGVT nahm Alfred Luttermann, ABZ-Leiter des DGVT-KJP-Instituts in Berlin und Mitglied im erw. Vorstand, teil.
Weltweit befinden sich derzeit mehr Menschen denn je auf der Flucht vor Krieg und Elend. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, sind Kinder und Jugendliche. Viele von ihnen werden bleiben und hier aufwachsen. Wir erleben in den letzten Monaten unglaublich beeindruckendes Engagement in der Bevölkerung. Menschen warten stundenlang an Bahnhöfen, um Flüchtlinge willkommen zu heißen und versuchen, Licht in den tristen Alltag der Massenunterkünfte zu bringen. Schaffen wir es, aus dieser Willkommenskultur auch eine Willkommens-Infrastruktur zu entwickeln, stellen wir damit entscheidende Weichen für die Zukunft der jungen Flüchtlinge und für das gemeinsame Zusammenleben in Deutschland.
Die gegenwärtige Massenflucht stellt uns jedoch vor neue Fragen und erfordert neue Antworten: Wie können wir Kinderrechte im Asylverfahren umsetzen? Was heißt es für Schule und Kitas, ErzieherInnen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen, wenn mehrere Hunderttausend Flüchtlinge neu nach Deutschland kommen? Wie kann der enorm hohe Bedarf an gesundheitlicher und psychotherapeutischer Versorgung junger Kriegsflüchtlinge gewährleistet werden? Was können und müssen bei all diesen Fragen die unterschiedlichen Ebenen - vom Bund, über die Länder und Kommunen, bis hin zur Zivilgesellschaft - leisten, um Perspektiven für das Leben in der neuen Heimat zu schaffen?
Diese Fragen diskutierten 150 TeilnehmerInnen im Rahmen der Fachtagung „Angekommen - wie weiter? Geflüchtete Kinder und Jugendliche in Deutschland“.
Die Situation von jungen Flüchtlingen ist sehr unterschiedlich. Sie alle eint, dass sie eine oftmals gefährliche Flucht aus einer existenzbedrohenden Situation hinter sich haben, betonte die grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt in ihrer Eröffnungsrede. Kinder erleben Todesängste, oft monatelangen Hunger und Durst. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ein Drittel der syrischen Flüchtlingskinder traumatisch belastet sind. Es fehlen an vielen Orten geeignete psychosoziale und therapeutische Angebote um die Kinder und Jugendlichen aufzufangen und zu unterstützten. Das ist schlimm. Was aber noch schlimmer ist: die Kinder und Jugendlichen werden in Deutschland noch kränker. Zu den fluchtbedingten Traumata kommen anhaltende krankmachende Belastungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen hinzu. Viele Kinder leiden unter sozialer Isolation, der Trennung von Bezugspersonen und dem unklaren Aufenthaltsstatus. Margit Gottstein Staatssekretärin im rheinland-pfälzischen Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen und unter anderem zuständig für die Erstaufnahme von Flüchtlingen, berichtete über die rheinland-pfälzischen Bemühungen die Erstaufnahmeeinrichtungen möglichst kindgerecht zu gestalten und zumindest einen Raum oder ein Zelt zum Spielen bereit zu stellen. Nachdem in den vergangenen Monaten die Vermeidung von Obdachlosigkeit das primäre Ziel war, kann nun nach und nach über die Mindeststandards - Dach über den Kopf, Essen und Kleidung - hinaus gedacht werden. Grundsätzlich versucht Rheinland-Pfalz, Familien schnell aus den Erstaufnahmeeinrichtungen raus zu bekommen. Denn, so auch Dr. Sebastian Sedlmayr, Erstaufnahmeeinrichtungen sind keine Orte für Kinder.
Dr. Sebastian Sedlmayr, Leiter der Abteilung Kinderrechte und Bildung bei UNICEF, skizzierte die prekäre Lebenssituation vor der viele begleitete Flüchtlingskinder und -jugendliche in Deutschland stehen. Solange sie keinen Aufenthaltstitel haben, haben sie auch keinen Zugang in die Regelsysteme der Kinder- und Jugendhilfe, sondern fallen unter das restriktive Asylbewerberleistungsgesetz. Doch Kinder und Jugendliche wachsen nicht selten mit Kettenduldungen in Deutschland auf, ohne je kinderrechtskonform versorgt und begleitet zu werden. Der UN-Kinderrechtskonvention zufolge haben alle Kinder unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus umfangreiche Rechte. Neben der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls gibt es unter anderem ein Recht auf Bildung, ein Recht auf ein Höchstmaß an gesundheitlicher Versorgung, ein Recht auf Teilhabe, ein Recht auf ein Zusammenleben mit den Eltern. Für minderjährige Flüchtlinge sind diese Rechte bei Weitem nicht umgesetzt - ganz im Gegenteil. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist nicht vereinbar mit der UN-Kinderrechtskonvention.
Zuwanderung nach Deutschland ist kein neues Phänomen, es gibt in Deutschland vielfältige Erfahrungen im Umgang mit migrierenden und flüchtenden Menschen.
Aus diesen Erfahrungen sollten wir lernen, um Fehler aus der Vergangenheit zu vermeiden. Flüchtlinge müssen etwa so untergebracht werden, dass sie am normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Sie dürfen nicht jahrelang in Erstaufnahmeeinrichtungen oder in bestimmten Stadtvierteln isoliert werden, dies widerspricht jedem Integrationsgedanken. Und wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen schnell zur Schule gehen und Abschlüsse nachholen können, um schließlich den Weg in Ausbildung oder ins Studium zu finden. Dies darf nicht durch aufenthaltsrechtliche Regelungen beschränkt werden.
Wenn wir keine neue abgehängte Generation schaffen wollen, die sich von Enttäuschung und Frust genährt vom Rechtsstaat abwendet, müssen wir allen Kindern und Jugendlichen eine echte Chance geben. Bislang gibt es keine gerecht verteilten Chancen. Kommt man als junger Flüchtling in Deutschland an, gleichen Zukunftschancen einer Lotterie, beschrieb Sedlmayr. Man kann Glück haben und in einem Ort mit engagierten Netzwerken landen, die einem bei der Asylverfahrensberatung und beim Ankommen helfen oder aber auch im Nirgendwo, in dem es Anfeindungen oder gar Anschläge gegen die Unterkünfte gibt. Eindringlich erzählte Khaled Davrisch wie sehr die Willkür der Ämter über die Lebenschancen der geflüchteten Menschen entscheidet. 2001 floh er mit seiner Familie von Syrien nach Deutschland und musste aufgrund der Residenzpflicht zunächst 5 Jahre von seiner Mutter und seinen Geschwistern getrennt leben und aufwachsen. Und das innerhalb eines Landes, wenige Autostunden voneinander entfernt. "Keiner geht freiwillig" betonte Davrisch mehrmals. Er wünscht sich eine Beschleunigung der Aufnahmeprozedur, Integrationskurse für alle und eine langfristige Bleibeperspektive für junge Geflüchtete: damit sie mit mehr Motivation und Perspektive zur Schule und in Ausbildung gehen können.
Die Grundsteine für die Integration und für den späteren beruflichen Lebensweg werden zu einem großen Teil in den Bildungseinrichtungen von Kita über Schule bis zur beruflichen Bildung beziehungsweise der Hochschule gelegt. Dabei ist die Investition in Bildung nicht nur für die jungen Menschen sondern für alle in unserem Land von unschätzbarem Wert. Doch die Situation, vor der viele Kommunen heute stehen - ein beschränktes Angebot an Willkommensklassen und Kita-Plätzen, zu wenig qualifizierte Lehrkräfte und SchulsozialarbeiterInnen - führt uns auch vor Augen, was jahrelang verschlafen und ignoriert wurde: Deutschland investiert viel zu wenig in die Bildung. Das deutsche Bildungssystem steht in Sachen Bildungsgerechtigkeit weltweit hinten an. Im OECD Vergleich dümpeln wir mit unseren Bildungsausgaben im untersten Bereich herum. Aber ohne Bildung kann Integration nicht gelingen. Ein erfolgreiches Einwanderungsland braucht gute Bildung. So appellierte auch Margit Gottstein an die Bundespolitik, mehr Geld für die Integrationsaufgaben zur Verfügung zu stellen, anstatt stetig das Schild der schwarzen Null hoch zu halten.
Integration ist aber mehr als Bildung. Für Sindyan Qasem von Ufuq e.V. bedeutet Integration, Meinungen, Positionen und auch Diskriminierungserfahrungen sichtbar zu machen. Das ist nicht immer konfliktfrei, aber daran wächst eine Gesellschaft. Nur so kann man sich gegenseitig kennenlernen, voneinander lernen, auseinandersetzen und zusammenwachsen. Integration geht auch nicht ohne Beteiligung der jungen Menschen. Es ist unsere Aufgabe ihnen eine Stimme zu geben, sie sichtbar zu machen, Engagement zu fördern. So appellierte auch Davrisch: "Gebt jungen Flüchtlingen die Chance sich politisch einzumischen!"
Nachdem der vielfältige Handlungsbedarf in 10 thematischen Workshops mit Abgeordneten, Expertinnen und Experten und den zahlreichen Gästen diskutiert wurde, führte Christian Stahl durch die Abschlussrunde mit Katja Dörner, Franziska Brantner und Luise Amtsberg. Einig waren sich alle darin, dass neben den Investitionen die zur Integration der Geflüchteten anstehen, das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft gehört, Verfahren beschleunigt und die vielen ehrenamtlich engagierten Menschen entlastet werden müssen.
Die Integration der vielen jungen Menschen ist eine Chance zur Erneuerung verkrusteter Strukturen und für eine umfassende Bildungsoffensive. In den Haushaltsberatungen hat die grüne Bundestagsfraktion deshalb eine Milliarde Euro für den Ausbau und die Qualitätssicherung in Kitas und eine weitere Milliarde für eine breite Bildungsoffensive - von der Kita bis zur Uni - für geflüchtete Kinder und Jugendliche gefordert. Denn wenn heute in die Schulen, die Kitas, die Jugendarbeit oder berufsbegleitende Maßnahmen investiert wird, ist das ein Konjunkturprogramm für unser Bildungswesen von dem Alle profitieren und unsere Gesellschaft als Ganze gewinnen wird.