Hilft unterstütztes Wohnen Menschen mit seelischer Behinderung? [1]
Ja, wenn die Angebote zu den Bedürfnissen der Betroffenen passen. Das ergab die WieWohnen-Studie aus Baden-Württemberg.
Susanne Jaeger, Marie Kampmann und Johannes Gnauck
Im März 2017 startete in vier Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg ein Forschungsprojekt zur Lebenssituation und zum Entwicklungsverlauf von Menschen mit seelischer Behinderung, die im Rahmen der Eingliederungshilfe eine Unterstützung in unterschiedlichen Wohnformen erhielten. Finanziert und begleitet wurde »WieWohnen-BW« durch den Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS). Die Umsetzung des Vorhabens erfolgte durch Mitarbeitende der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm unter Leitung von Prof. Dr. Tilman Steinert und Mitarbeitende des Universitätsklinikums Heidelberg unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Herpertz.
Die Idee für diese Studie war bereits einige Jahre zuvor entstanden: eine internationale multizentrische randomisierte kontrollierte Studie mit dem Ziel, die Wirksamkeit stationärer Wohnformen mit jener einer ambulanten Unterstützung in der eigenen Wohnung hinsichtlich der Entwicklung von Teilhabe und Selbstständigkeit zu vergleichen. Das ambitionierte Forschungsprojekt scheiterte letztlich an einer fehlenden gemeinsamen Förderung, an den Bedenken mehrerer Ethikkommissionen und an der praktischen Umsetzbarkeit einer zufälligen Zuteilung von Menschen mit schweren psychischen Störungen auf die unterschiedlichen Unterstützungssettings, insbesondere in Regionen, wo bereits differenzierte ambulante Unterstützungsangebote etabliert waren.
Vor dem Hintergrund der Einführung und Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes erschien jedoch die generelle Frage nach den Wirkungen der Unterstützung unvermindert relevant. Die Konsortialpartner verlegten sich darauf, regionale Entwicklungs- und Finanzierungslösungen für die geplante Längsschnittuntersuchung zu realisieren, unter Verwendung vergleichbarer Einschlusskriterien für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Man wollte nach dem Ende der verschiedenen Studien die Möglichkeit haben, die Daten zu einem gemeinsamen Datenpool zusammenzuführen und nach vorher gemeinsam festgelegten Faktoren zu untersuchen, um damit eine größere Aussagekraft und Reichweite der Ergebnisse zu gewinnen.
Wer war beteiligt?
Für die Längsschnittstudie wurden im Landkreis Ravensburg, im Bodenseekreis, im Rhein-Neckar-Kreis und Stadt Heidelberg Neueinsteigerinnen und -einsteiger in unterstützte Wohnformen gesucht, außerdem Personen, bei denen eine wesentliche Veränderung der Unterstützungsform stattgefunden hatte. Alle Teilnehmenden erhielten ein Angebot, das durch die Eingliederungshilfe finanziert wurde. Das Screening und die Kontaktvermittlung zum Forschungsteam verlief über die Mitarbeitenden bei den Leistungsträgern und Leistungserbringern. Wenn sich die infrage kommenden Personen nach dem ausführlichen Aufklärungsgespräch mit einem Mitglied des Forschungsteams zur Teilnahme bereit erklärten, wurden sie im Zeitraum von eineinhalb Jahren dreimal zu einem breiten Spektrum an Themen befragt. Insbesondere interessierten soziale Funktionsfähigkeit, Verwirklichungschancen, subjektive Lebensqualität, Unterstützungsbedarf, Symptome und Befinden sowie die Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Unterstützungsangebote. Hierfür wurden fast ausschließlich Fragebögen verwendet, die einen Vergleich der Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer internationaler Studien erlaubten. Zusätzlich wurde eine Fremdeinschätzung der aktuellen Symptome und Probleme erhoben – durch eine Bezugsperson, die von der Teilnehmerin oder dem Teilnehmer benannt worden war.
Letztlich gelang es, in den vier teilnehmenden Stadt- und Landkreisen insgesamt 102 Personen für die Studie zu gewinnen. Dies entspricht etwa einem Viertel der Leistungsberechtigten, die aufgrund der Einschlusskriterien in einem vergleichbaren Zeitpunkt theoretisch für die Studie infrage gekommen wären. Über die Hälfte der Teilnehmenden hatte nie zuvor in unterstützten Wohnformen gelebt. Bei einem Viertel lagen entsprechende Erfahrungen mehr als ein Jahr zurück. Die Altersspanne der Befragten reichte von zwanzig bis 69 Jahren, der Anteil der Männer überwog leicht. Hinsichtlich der Repräsentativität ist einschränkend anzumerken, dass Teilnehmende in stationären Wohnformen unterrepräsentiert waren (15 %), ebenso Menschen mit einer Diagnose aus dem Schizophreniespektrum (27 %). Hingegen lag der Anteil von Menschen mit einer Diagnose aus dem Bereich affektiver Erkrankungen mit 29 % in der Studie etwas höher als dies im Allgemeinen tatsächlich in unterstützten Wohnformen der Fall ist.
An der letzten Befragungsrunde nach einem bis eineinhalb Jahren nahmen immerhin noch 85 Personen (83 %) teil, was für solche Studien recht gut ist. Es stellte sich heraus, dass nur noch rund die Hälfte aller Teilnehmenden die anfängliche Unterstützungsform nutzte, ein Indikator dafür, dass hier in den ersten eineinhalb Jahren nicht selten nachjustiert wurde. Ein knappes Viertel der Menschen in ambulant betreuten Wohnformen schied im Laufe des Beobachtungszeitraums ganz aus dem Bezug der Eingliederungshilfe aus; ein kleinerer Teil erhielt am Ende mehr Unterstützung oder hatte die Wohnform gewechselt, war z. B. von einer WG in eine eigene Wohnung gezogen. Auch in stationären Wohnformen ließen sich – abgesehen von einer Person, die ganz ausgestiegen war – Veränderungen in vergleichbarem Ausmaß beobachten.
Die Personen, mit denen wir über die Gründe für ihren Ausstieg aus der Betreuung sprechen konnten, gaben an, nicht die Hilfe bekommen zu haben, die sie sich erhofft hatten, oder gemerkt zu haben, dass sie die Unterstützung nicht benötigten. Die überwiegende Mehrheit der Aussteigerinnen und Aussteiger äußerte ein großes Bedürfnis nach Autonomie. Bei einigen war es zu Konflikten mit der Einrichtung oder den betreuenden Bezugspersonen gekommen. Manche sprachen von unpassenden WG-Zusammensetzungen, durch die sie sich beeinträchtigt fühlten. Doch auch die Heranziehung von eigenen Einkünften oder Vermögen der Angehörigen wurden als Motive für einen Ausstieg angeführt.
Subjektive Lebensqualität und Zufriedenheit im Studienverlauf
Wert 1 = äußerste Unzufriedenheit, Wert 7 = äußerste Zufriedenheit /
10 = erste Befragung, t1 = zweite Befragung nach 12–18 Monaten /
* markieren statistisch signifikante Unterschiede / Stichprobengröße: 85 Teilnehmende
Quelle: Abschlussbericht (s.u.), S. 93
Wie wirkt unterstütztes Wohnen?
Bei denen, die bis zum Schluss in der Studie geblieben waren, verbesserte sich die Arbeits- und Beschäftigungssituation insgesamt merklich: Der Anteil von Personen ohne Beschäftigung oder in tagesstrukturierenden Maßnahmen, der zu Beginn sehr hoch war, reduzierte sich deutlich. Der Anteil erwerbstätigkeitsnäherer Beschäftigungen in Werkstatt, Zuverdienst, geringfügigen Arbeitsverhältnissen, aber auch in Beschäftigungsverhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhöhte sich. Im Schnitt verbesserten sich die sozialen Funktionen über die Zeit, insbesondere in den Bereichen interpersonelle Kommunikation und soziale Einbindung. Die Lebensqualität, die in den Bereichen Beruf, Finanzen, Leben allgemein und seelische Gesundheit zu Beginn als besonders beeinträchtigt wahrgenommen wurde, verbesserte sich erheblich. Während die empfundene Belastung durch Symptome anfangs bei vielen Teilnehmenden massiv war, verringerte sie sich im Laufe der Zeit – und zwar nicht nur in den ersten Monaten, sondern auch noch zwischen der zweiten und dritten Befragung. Gleichwohl waren die meisten Befragten auch weiterhin höher belastet als die Normalbevölkerung und der seelische Druck war weiter hoch. Ähnlich verbreitete Problemzonen waren zu Beginn soziale Beziehungen und Partnerschaft. Hier wurde am Ende ein deutlich geringerer Bedarf angegeben. Sehr verbessert hatten sich die Probleme mit der Wohnsituation und dem Bezug sozialer Leistungen. Die in diesen Bereichen geleistete Assistenz war offensichtlich essenziell und wirksam.
Hilfreiche Unterstützung ist personenzentriert und bedarfsorientiert
Die Studienergebnisse lassen darauf schließen, dass mit dem Wohnen in unterstützten Wohnformen für viele Menschen ein Prozess der Stabilisierung in Gang kommt, der jedoch davon abhängt, ob die Unterstützung dem Bedarf angepasst werden kann. In den insgesamt siebzig Gesprächen mit Beschäftigten bei den Leistungsträgern und Leistungserbringern und mit Klientinnen und Klienten mit Erfahrung im unterstützten Wohnen zeigte sich, dass Personenzentrierung auf allen Ebenen des Unterstützungssystems die zentrale Rolle spielt: in der Zusammenarbeit zwischen Klienten und Klientinnen und ihrer betreuenden Bezugsperson, in der Ausarbeitung individueller, der Person entsprechenden Ziele der Eingliederungshilfeleistung und der hierfür erforderlichen Unterstützungsmaßnahmen, in der Gestaltung einer vielfältigen Angebotslandschaft mit Wahlmöglichkeiten, aber auch in der Schaffung förderlicher organisatorischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Wenn Wohnraum zu einem Luxusgut wird, kann es für Betroffene schwer werden, den nächsten Schritt in Richtung Verselbstständigung zu gehen; dann kommt es auch vor, dass WGs sich weniger nach Passung der Personen als nach der Verfügbarkeit freier Plätze zusammensetzen und Stressfaktoren entstehen, die es vorher nicht gab.
Hinsichtlich der Ermöglichung von Teilhabe ging es in den Interviews – unabhängig von der befragten Gruppe – immer auch um Arbeit und Beschäftigung. Sie ist nicht nur mit einer Strukturierung des Alltags, dem Erleben von Selbstwirksamkeit und der Möglichkeit persönlicher Sinnfindung verbunden, sondern auch mit Kontaktmöglichkeiten und der Erweiterung des sozialen Umfelds. Für wichtig gehalten wurden ausreichend differenzierte Angebote für die Betroffenen, außerdem Anreize, die Optionen für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ernsthaft zu prüfen.
Mit den Änderungen durch das BTHG wurden die Hürden für die Aufnahme einer solchen Tätigkeit gesenkt. Gleichzeitig sahen sich einige der Befragten einer auf Leistung und Tempo getrimmten Arbeitswelt gegenüber, in der sie Ausgrenzung befürchteten oder real erlebt hatten. Zur oft geforderten guten Gestaltung von Übergängen gehören auch die geeigneten Anschlussangebote, in denen sich die Menschen ohne Angst vor Selbstwertverlust wiederfinden und entfalten können. Die Beispiele Wohnungsmarkt und Beschäftigung zeigen, dass es eine gesellschaftliche Aufgabe bleibt, für Teilhabe auch die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die hier vorgestellten Ergebnisse sind ein Ausschnitt aus dem dynamischen Forschungsgeschehen rund um unterstützte Wohnformen in der Eingliederungshilfe. Auch die anderen WieWohnen-Forschungsprojekte in Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und in der Schweiz – dort unter dem Stichwort »Independent Housing and Support« – stehen kurz vor dem Abschluss oder sind soeben fertiggestellt. Eine gemeinsame Auswertung der Daten wird ein noch umfassenderes Bild liefern.
Quelle: Steinert, T.; Jaeger, S.; Herpertz, S.C. (2020): Wirksamkeit verschiedener Formen des unter - stützten Wohnens für Menschen mit seelischer Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg (WieWohnen-BW). https://www.kvjs.de/fileadmin/dateien/ Forschung/Aktuelle_Vorhaben/Unterstuetztes_ Wohnen/Forschungsbericht_Wie-Wohnen.pdf
Kostenlose Bestellung der Druckversion möglich: Sekretariat21@kvjs.de
Kurzvideo: www.youtube.com/watch= PWVPpabwH2o
Dr. Susanne Jaeger war zuständig für die Gesamtkoordination des Forschungsprojekts, Marie Kampmann (M. Sc. Psychologie) für die anfallenden Projektarbeiten im Bodenseekreis und Landkreis Ravensburg, Johannes Gnauck (M. A. Soziologie) für die im Rhein-Neckar-Kreis und in der Stadt Heidelberg.
[1] Quelle: PSYCHOSOZIALE umschau, Heft 3/2021, 36. Jg; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autor*innen.