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VPP 3/2024

Lesbos Mavrovouni Camp – Eindrücke einer Psychotherapeutin

24. Juli 2024

Von Kathrin Macha

„Lesbos, war da nicht mal die Flüchtlingskrise?“ höre ich oft, als ich vor meiner Abreise mit Menschen spreche. Das „war” hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack, denn mit dem Ende der Medienberichterstattung nach dem verheerenden Brand im Lager Moria hat sich bei vielen Menschen der Eindruck verfestigt, die Situation habe sich beruhigt. Doch die Wahrheit sieht anders aus.

 

Inmitten der Hügel voller Olivenbäume und der wunderschönen Küsten, für die Lesbos nunmehr vermutlich bekannter ist, liegt eine oft vergessene Realität: Das aktuelle Geflüchtetenlager „Mavrovouni“. Während meines Aufenthalts lebten hier zwischen 5.000 und 6.000 Menschen unter kaum erträglichen Bedingungen, obwohl das Lager nur für 3.500 Menschen ausgelegt ist. Es ist nur eines von vielen Lagern, in denen Menschen auf ihrer Flucht nach Europa untergebracht werden und in denen NGOs unter anderem psychotherapeutische und psychologische Unterstützung bieten.

Von Dezember 2023 bis April 2024 war ich als Psychotherapeutin im Einsatz bei Boat Refugee Foundation, einer niederländischen NGO, die vor Ort ein medizinisches und psychologisches Unterstützungsprogramm anbietet. Im humanitären Kontext wird das „Mental Health and Psychosocial Support” (MHPSS) genannt – eine Mischung aus psychosozialen Interventionen und klinischer Psychologie.

Dieser Text ist eine Einladung, sich einerseits ein Bild von den Lebensbedingungen der Menschen zu machen und andererseits einen Einblick in die psychologische Arbeit auf Lesbos und im Lager Mavrovouni zu gewinnen. Dies geschieht nicht als strukturierte, wissenschaftliche Abhandlung, sondern vielmehr durch geschilderte persönliche Eindrücke und Erfahrungen. Sie sollen für die psychologische Arbeit mit geflüchteten Menschen sensibilisieren und motivieren – und Lesbos, ein Symbol für menschliche Hoffnung und menschliches Leid an der EU-Außengrenze, wieder ins Gedächtnis rufen.

Das Gate

Ein großes Metallgitter, dahinter Kabinen der Polizist*innen. Auf der gegenüberliegenden Seite winden sich heute lange Schlangen an Menschen, die darauf hoffen, das Lager tagsüber zu verlassen, um für einen Moment selbstbestimmt an einem anderen Ort sein zu können. Die Atmosphäre ist erfüllt von verschiedenen Sprachen und der Hoffnung, Freiheit kurzzeitig wiederzugewinnen. Heute sind, laut meiner Kollegin, etwa 200 Menschen angekommen. Auch sie möchten hinaus, müssen sich jedoch gedulden. Die Registrierung, die ihre Hürde ist, kann Berichten von Bewohner*innen zufolge bis zu zwei Wochen benötigen. Auf der anderen Seite des Eingangs untersuchen vier Polizist*innen eintretende Bewohner*innen des Camps akribisch. Wir hingegen schlüpfen durch die Massen an Menschen schlichtweg hindurch. Mit einem schnellen Vorzeigen unserer Dokumente passieren wir die Kabine, betreten das Camp und können es nachts genauso leicht wieder verlassen.

Unsichtbarer Schutz

Zu Beginn meines Aufenthalts übernehme ich einige Schichten als Teil der Support-Crew. Hier sitze ich neben Ärzt*innen am Triage-Tisch und helfe dabei, Patient*innen zu screenen. In einer Abendschicht herrscht – so überfüllt wie das Lager ist – geschäftiges Treiben. Neben üblichen Symptomen wie Schnupfen, Fieber und Verletzungen tauchen Hautinfektionen auf, die zunächst Rätsel aufgeben. Anspannung und Sorge breitet sich aus, als der Verdacht auf Haut-Diphterie im Raum steht. Diphtherie? Mein erster Gedanke: „Tetanus-Diphterie-Polio-Impfung!“. Eine Selbstverständlichkeit für uns. Ein unsichtbarer Schutzschild gegen solch schwere, hochinfektiöse Erkrankungen, die uns kaum noch gefährlich werden können. Uns, im Globalen Norden. Nach einiger Zeit wird Entwarnung gegeben: Der Verdacht bestätigt sich nicht.

Warten

Das Camp ist mittlerweile mit 6.000 Menschen massiv überbelegt. Und täglich kommen neue Menschen an. Im Camp wartet man. Man wartet darauf, das Camp verlassen zu können, auf das Festland transferiert zu werden, abreisen zu können. Doch wann das passiert, ist ungewiss. Selbst wenn ein positiver Bescheid vorliegt, kann niemand sagen, wann dieser lang ersehnte Moment kommen wird. Generell ist hier alles unklar, ständig in Bewegung. Die Abläufe ändern sich von Tag zu Woche zu Monat. Wann werden Angekommene zum ersten Mal registriert? Wann findet ihr erstes Interview statt, wann ihr zweites, wann ihr drittes? Wann erhalten sie einen positiven oder negativen Bescheid? Was passiert im Falle einer Ablehnung? Wie lange kann es dauern, bis ein erneuter Asylprozess abgeschlossen ist? Jeder Tag ist geprägt von der Frage, wann es weitergeht, und der Ungewissheit darüber, wie das eigene Schicksal ausgehen wird. Schlaflosigkeit, Gedankenkreisen, Vergleiche mit anderen Untergebrachten, die weiterziehen können, Suchen nach Gründen und Erklärungen. Für viele sind diese Fragen lähmend, sie finden sich in einer Art Starre wieder. Andere versuchen, sich so gut wie möglich abzulenken. Kaum jemand jedoch baut einen Alltag auf, sucht nach werteorientierten Aktivitäten, nach einer tatsächlichen Aufgabe – da das Lager für alle ein Übergangsort ist. Zwischen Weiterreise und Rückführung. Die Zeit dehnt sich und wird zur Last. Die durchschnittliche Zeitspanne, die Menschen warten müssen, lässt sich jedoch nur sehr grob benennen: Irgendetwas zwischen einem Monat und mehreren Jahren.

150 neue Unterhosen

Ich stehe in einem Kleidungsgeschäft und lege 150 Unterhosen für Frauen auf die Kasse. Eine der Ärzt*innen, die kürzlich abgereist ist, hatte mich beauftragt, ihre verbliebenen Spenden in Notwendiges zu investieren. Natürlich sind Medikamente und Wundverbände wichtig. Doch was den Menschen hier konstant fehlt ist: Unterwäsche. Das höre ich von einer Organisation, die Kleidung bereitstellt. Die hier zuständige Person erzählt, dass sie oft miterlebe, dass sich Menschen Unterwäsche wünschen, dass es ihnen Unbehagen bereite, keine eigene zu haben. Und obwohl es ihnen unangenehm ist, wollen sie sich hierüber nicht beschweren – denn es gibt ja Wichtigeres. Und ein paar gebrauchte Unterhosen finden sich zumeist auch im Camp. Während ich an der Kasse stehe und der Verkäufer mich halb schmunzelnd, halb irritiert anschaut, denke ich darüber nach. Das stimmt wohl alles, es gibt dringendere Bedürfnisse. Doch gibt es nicht auch Würde zurück, frische, neue, eigene Unterhosen tragen zu dürfen? Ein Stück Normalität, ein Stück Selbstachtung?

Foodline

Die Essensausgabe des Camps. Zwischen 11 und 15 Uhr stehen die Menschen hier dicht gedrängt in einer lärmenden, gedrängten Schlange, um ihre Tagesration Essen abzuholen. Immer wieder kommt es zu lautstarken Diskussionen und gelegentlich auch zu Konflikten – schlichtweg, da Menschen hier tatsächlich stundenlang anstehen müssen, um etwas zu essen zu bekommen. Hier treffen Menschen aus verschiedenen Ländern aufeinander, oft nicht in der Lage, sich zu verständigen. Viele können das lange Stehen und Warten kaum ertragen, da sie unter Verletzungen oder anderen körperlichen Erkrankungen leiden, oder weil sie sechs oder sieben Kinder im Zelt zurücklassen müssen. Einige sind so traumatisiert, dass sie den Lärmpegel und die Enge der Schlange nicht ertragen können. Was sie erwartet, ist kaum eine Entschädigung für die Zeit in der Schlange: Das Essen ist weder nahrhaft noch sättigend. Ich habe das Essen probiert: eine kleine Box mit zerkochten Nudeln oder Reis, vielleicht fünf oder sechs Erbsen, dazu ein labbriges Fladenbrot. Manchmal eine Banane oder eine Orange dazu. Es wundert mich nicht, dass Menschen hier so oft krank werden.

„Nur eine Erkältung”

Der Satz fällt oft am Triage-Tisch der Ärzt*innen. Und ich verstehe ihn, ja, er erklärt die Symptome, soll die Angst nehmen. Und das tut er auch. Gleichzeitig nehme ich bei einigen Menschen eine fast enttäuschte Reaktion wahr, als wäre eine unausgesprochene Hoffnung geplatzt. Vielleicht hatten sie gehofft, ein*e Ärzt*in zu sehen, ein längeres Gespräch zu führen. Vielleicht war ihr Besuch – wissentlich oder nicht – von einem tieferen Wunsch motiviert. Von der Suche nach einem sicheren Ort, einen Zufluchtsort für die Dauer der Untersuchung, während der Nacht. Vielleicht wünschten sie sich, dass sich ein anderer Mensch Zeit nimmt, sich kümmert. Vielleicht ging es darum, voll und ganz gesehen zu werden, um einen Moment der Aufmerksamkeit.

Arbeitsalltag

Nach meinem Einstieg als Support-Crew gestaltet sich die Tätigkeit als MHPSS abwechslungsreich. Am Abend sind wir mit den Ärzt*innen im Camp in unserer „Drop-in Clinic“: Ein großer Container („Hospitainer“) mit zwei Behandlungsräumen sowie ein großes Zelt, in dem ein weiterer Behandlungsraum und der Wartebereich untergebracht sind. Wir arbeiten also in den gleichen Räumlichkeiten wie die Ärzt*innen des Teams. Im MHPSS-Programm können Menschen ohne Termin ein Beratungsgespräch erhalten. Zwischen 17 und 21 Uhr sind wir vor Ort und führen oft etwa vier Gespräche, in einem der Räume des Hospitainers. Haben wir den Eindruck, dass die Person von Folgegesprächen profitieren könnte, so laden wir sie dazu ein. Diese finden in Parea statt: einem lebendigen Community-Center, das von Volleyball über Repaircafe bis hin zu Fotoworkshops viele Angebote bereithält. Hier haben wir einen kleinen Container für unsere Gespräche und sehen Menschen dienstags und donnerstags. Freitags findet unsere psychoedukative Gruppe im Camp statt – zum Thema Stress- oder Ärgerbewältigung oder zum Thema Schlaf. In der Intervision mittwochs besprechen wir unsere Fälle, in MHPSS-Team-Meetings planen wir die kommende Woche. Doch die Zeit reicht selten aus, um alles zu besprechen, denn alles ist hier ständiger Veränderung unterworfen: NGOs ändern ihre Öffnungszeiten und Angebote, neue Asylverfahrens- und Camp-Bestimmungen tauchen auf, zuständige Personen und Koordinator*innen anderer Institutionen wechseln. Im Vulnerabilitäts-Meeting tauschen wir uns mit den Ärzt*innen zu Patient*innen aus, die sowohl von medizinischer als auch psychosozialer Hilfe profitieren, besonders schutzbedürftig sind oder beides. Wir stellen einen Plan auf, wie diese Personen idealerweise unterstützt werden können. Manchmal geben wir Trainings zu Deeskalation oder Psychologischer Erster Hilfe für andere Organisationen. Trotz der ständig wechselnden Bedingungen, unterschiedlichen Herausforderungen und der Notwendigkeit zur Anpassung an dieses sehr dynamische Umfeld sind die Strukturen sehr professionell.

Rubb-Halls

Heute Morgen geschieht es ohne Vorwarnung: Hunderte von Menschen, die in Isoboxen im Lager leben, werden aufgefordert, sie zu verlassen, um in Rubb-Halls umzuziehen. Isoboxen sind kleine Container, in denen etwa neun Menschen leben. Privatsphäre gibt es hier quasi nicht. Doch im Vergleich zu den Rubb-Halls wirken sie nahezu luxuriös. Diese besonders großen, verlegbaren Zeltstrukturen, die häufig im humanitären Bereich eingesetzt werden, muten eher wie Lagerhallen an. Hier werden sicher bis zu 70 Personen untergebracht. Mit etwas „Glück“ sind innerhalb dieser Hallen Kompartimente eingelassen, in denen Familien oder kleine Gruppen von Menschen leben. In anderen jedoch sind diese höchstens durch Pappe und Decken provisorisch abgetrennt. In den Rubb-Halls gibt es keine Fenster. Die Enge, Luftqualität, Dunkelheit und Geräuschkulisse sind erschlagend. Die Gründe für den erzwungenen Umzug bleiben unklar – ob wegen bevorstehender Transfers, einem Zustrom vieler neuer Bewohner*innen, Wartungen? Oder anderen Gründen? Die Isoboxen werden jedenfalls fortan für viele Tage leer stehen.

Über Bande

Die Arbeit mit Kultur- und Sprachmittler*innen kannte ich bereits aus Deutschland. Dort lernte ich viel über die Herangehensweise in der Therapie zu dritt. Und wusste daher, wie wichtig zum Beispiel eine Wort-für-Wort-Übersetzung und dafür auch kurze Sätze sind. Wie zentral der konstante Blickkontakt mit dem/der Patient*in im Gespräch ist. Dass man potenziellen Rollenkonflikten der Kultur- und Sprachmittler*innen vorbeugen muss. Und wie wichtig und lehrreich kurze Debriefings nach den Sitzungen sind. Manchmal, durch den Kontrast zu anderen Therapiesitzungen auf Deutsch, hatte ich damals den Eindruck „nicht voranzukommen“, meinem Job als Therapeutin vielleicht nicht ausreichend gut nachzukommen. Mit dieser Sorge im Gepäck kam ich auch auf Lesbos an, unsicher, wie sich die dauerhafte Arbeit mit Sprachmittlung gestalten würde.

Doch nach nur zwei Wochen stelle ich fest: die Sitzungen in dieser Konstellation wurden zur neuen Normalität und fühlen sich sogar sehr natürlich an. Das verdanke ich auch meinen Kolleg*innen, die ihre Aufgabe fantastisch erfüllen. Sie passen sogar ihre Mimik, Gestik, Tonlage und Lautstärke an meine Sprache an – und geben mir wertvolles Feedback im Anschluss an die Gespräche. Und „vorankommen“ – was immer das genau bedeuten mag – ist auch zu dritt möglich. Ich habe manchmal fast den Eindruck, dass wir mehr auf den Punkt kommen, unsere Sätze prägnanter formulieren und überdenken. Ich bin davon überzeugt: Wir müssen uns lediglich mehr an die Arbeit mit Kultur- und Sprachmittler*innen in der Psychotherapie gewöhnen. Nicht nur, dass wir damit notwendige therapeutische Unterstützung leisten können. Als Nebeneffekt lernen wir so viel über Sprache und Redewendungen, können uns von Sprache überraschen, irritieren und berühren lassen.

Peitschender Wind

Ungeschützt liegen die Isoboxen, Zelte und Hallen direkt am Meer und während wir durchs Camp laufen, sehen wir eindrücklich, was das bedeutet. Am späten Nachmittag wird der Wind im Camp stärker. Wir klopfen an eine Tür und die Metalltür fliegt, vom Wind beschleunigt, mit voller Wucht auf. Sie trifft mich so heftig, dass ich für den Rest des Tages zu Hause bleiben muss. Am Abend wird der Wind oft eiskalt – so kalt, dass es sich anfühlt, als würde er die Knochen unter der Haut direkt umspülen. Nicht selten tragen wir vier bis fünf Schichten Kleidung, um dem Wetter am Abend zu trotzen. Das Material des Klinikzelts peitscht, fliegt unaufhörlich im Wind auf und ab. Wir versuchen, die Wartenden, die oft nur eine dünne Jacke und Sandalen tragen, im flatternden Wartezelt unterzubringen. Die Böen erinnern daran, wie verletzlich das noch immer provisorische Lager ist.

Traumata

In den MHPSS-Sessions stabilisieren und setzen wir unseren Fokus auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen – Essen, Schlaf, Privatsphäre, Kleidung, Bildung, Sicherheit, soweit dies möglich ist. Wir arbeiten mit vielen anderen Organisationen zusammen, vermitteln Patient*innen und unterstützen sie, weitere Hilfe zu bekommen. Erst danach folgt Basic Mental Health Support – wie beispielsweise Psychoedukation zu Stress und Stresssymptomen, zu Schlafhygiene oder Entwicklung von Strategien und Übungen im Umgang hiermit. Hier geht es also nicht darum, die diversen Traumatisierungen zu besprechen und aus Neugier fragen wir selbstverständlich niemals. Nicht selten jedoch berichten die Menschen von ihnen und ich entscheide mich beim Schreiben des Berichts, einige Begegnungen zu benennen: So spreche ich mit einer Frau aus dem Sudan, die mit 12 oder 13 Jahren verschleppt wurde und weibliche Genitalverstümmelung überlebt hat. Ich sehe die afghanische Familie, deren Vater ermordet und dessen lebloser Körper vor ihrem Haus abgelegt wurde. Vor mir sitzt die eritreische Frau, die auf der Flucht in der Türkei acht Monate festgehalten wurde und nahezu tägliche Gruppenvergewaltigungen erleben musste. Der Taxifahrer, der in seinem eigenen Taxi gekidnappt wurde, und mit monatelangem Waterboarding und Verbrennungen gefoltert wurde. Weitere Traumata, die meine Patient*innen erlebt haben, übersteigen teils das Vorstellbare. In einer ersten Fassung dieses Berichts formuliere ich weitere Beispiele – und lösche sie wieder: Sie beschreiben eine Grausamkeit, die nahezu unwirklich klingt.

Improvisation

Der größte Anteil an Camp-Bewohner*innen stammt aus Afghanistan, weshalb wir täglich viele Kultur- und Sprachmittler*innen für Farsi und Dari benötigen. Wenn nur eine*r von ihnen krank wird, wird die Arbeit schwierig – besonders in Notfällen. So finden wir uns heute Abend in einem Notfall wieder: Wir werden zu einer Person in einer Isobox gerufen. Um die Situation zu klären, hilft uns eine Nachbarin aus, die Farsi und Türkisch spricht. Kurzerhand bauen wir eine Übersetzungskette: Farsi-Türkisch, Türkisch-Arabisch, Arabisch-Englisch. Alle Anwesenden sind hochkonzentriert und die Notwendigkeit, präzise und klar zu kommunizieren, wird zu einer Art sprachlichem Theaterstück, bei dem jedes Glied der Kette seine Rolle perfekt spielen muss. Und wir kommen zum Ziel: Wir können aus ärztlicher Sicht „Entwarnung“ geben: Es handelt sich um einen dissoziativen Zustand. Wir begleiten sie anhand von Grounding-Techniken ins Hier & Jetzt zurück und vergeben einen Termin zur Vorstellung beim MHPSS-Team.

Gerüchte

Gerüchte im Camp sind wie ein Lauffeuer. Das ist verständlich, denn: In dieser Realität, in der es ums Überleben geht, dreht sich alles darum, sicher zu sein. Also auch darum, keinen Fehler zu machen, der zur Abschiebung ins Herkunftsland führen könnte. Und daher überall sicherzustellen, dass die Inanspruchnahme von Services oder der Kontakt zu NGOs nicht gegen einen selbst verwendet werden kann. Menschen fürchten sich davor, versehentlich falsche Informationen zu nennen – sei es aufgrund von Übersetzungsfehlern, Erinnerungslücken oder Stresssymptomen. Selbst wenn ihre Aussagen absolut der Wahrheit entsprechen, könnte eine minimale Abweichung zwischen den Aussagen in aufeinanderfolgenden Interviews ihr Asylverfahren negativ beeinflussen. Die Interviews bedeuten nicht nur deshalb massiven Stress. Hinzu kommt, dass die Geflüchteten vor wildfremden Personen von Traumatisierungen berichten müssen. Dabei ist es natürlich normal, dass die Betroffenen sich nicht an jedes Detail erinnern können – das ist ein Kernsymptom posttraumatischer Belastung. Wir erfahren also immer wieder die wildesten Gerüchte über die Folgen unserer MHPSS-Beratungen. Man erzählt sich beispielsweise, dass Patient*innen danach ins Gefängnis gebracht werden, wir explizit ihre Kinder rauben und ins Heimatland abschieben oder Medikamente verabreichen, die absichtlich den Schlaf stören.

Verrückt

„Ich glaube, ich bin verrückt“, „Ich bin krank“ – Diese Gedanken quälen fast alle, die unsere Beratungen aufsuchen. Sie sprechen von Albträumen, Schlafproblemen, Anspannung, Reizbarkeit, Kopfschmerzen, Erinnerungen an die Vergangenheit, Angst vor der Zukunft. Scham spielt dabei eine große Rolle. Wir erklären oftmals, dass diese Symptome eine normale Reaktion auf eine alles andere als normale Situation darstellen. Dass sie nicht verrückt sind und vor allem nicht allein. Es ist, als ob eine schwere Last von ihren Schultern fällt, wenn sie hören, dass ihre Reaktionen verständlich und menschlich sind.

Kulturelle Kompetenz?

Ich muss an Seminare zu Kultureller Kompetenz denken, in denen der Fokus darauf liegt, spezifisches Wissen über bestimmte Kulturen zu erlernen. Über Verhaltensweisen, Bräuche, Rituale, Traditionen, Wertvorstellungen. Immer wieder merken wir im Lager jedoch: was wir glauben, über eine bestimmte „Kultur“ verstanden zu haben, wird nach zwei Tagen revidiert. Die Vorstellung, dass Kulturen homogen, voneinander unterscheidbar sind, ist veraltet und bewegt sich nahe an Stereotypisierung und Vorurteilen. Kulturen sind flexibel und uneindeutig, wie uns so viele Beispiele hier lehren. Was können wir dem also entgegensetzen? Die Reflexion unserer Annahmen über andere und die Reflexion eigener Prägungen. Um sich völlig offen auf ein Individuum einlassen zu können. Eigentlich das, was wir als Psychotherapeut*innen grundsätzlich tun. Diese Haltung trägt auch einen Namen: „Kulturelle Demut“ – ein Begriff, der so gut beschreibt, wie wir wirklich eine sichere, gute Atmosphäre im Gespräch gestalten können.

Stressreduktionsgruppe

Freitagnachmittag: Wir passen den Moment zwischen Freitagsgebet und Foodline ab und bieten eine psychoedukative Gruppensitzung an. Es ist nur eine einzelne Sitzung, denn in all diesen Unwägbarkeiten, wechselnden Rahmenbedingungen, Ankünften und Abreisen ist ein fortlaufendes Gruppenprogramm kaum umsetzbar. Unser Konzept ist „basic“: Eine simple Erklärung, was Stress ist, mit welchen körperlichen Reaktionen dieser einhergeht und weshalb der Körper so reagiert. Gemeinsam suchen wir dann nach Möglichkeiten, das Stresserleben zu reduzieren. Woche für Woche sind dabei die ersten geäußerten Ideen: Folter, Mord, Kriegsverbrechen und Menschenhandel ungeschehen machen zu können. In einem normalen, sauberen Zuhause ohne Lärm zu leben, Arbeit zu haben, die Familie zu sehen, die eigenen Kinder zur Schule schicken zu können, gesund, sicher und frei zu sein. Grundlegende Menschenrechte, die in Lagern nicht erfüllt werden.

In unserer Gruppensitzung müssen wir wiederholen, dass wir die Missachtung von Menschenrechten gerade akzeptieren müssen. Es fühlt sich furchtbar an, diese Worte auszusprechen. Unsere Ideen zur Stressbewältigung wirken angesichts dieser Realität kurzzeitig lächerlich. Aber wir haben keine Wahl. Unser Ziel ist es, vielleicht ein klein wenig Erleichterung in dieser Situation zu finden. Also sammeln wir: Sport, Spaziergänge, Kochen, Singen, Tanzen, Dehnen, mit anderen sprechen. Wir üben kleine Entspannungs- und Stressbewältigungstechniken ein, zum Beispiel die Bauchatmung. An diesem einen Freitag sitze ich vor 14 männlich gelesenen Menschen aus Eritrea. Sie befolgen unsere Instruktion mit großen Augen und brechen dann in schallendes Gelächter aus. Wir lachen gemeinsam. Sie haben keine Ahnung, in was sie hier hineingeraten sind. Und wir verstehen es – wir, mit unseren europäischen Techniken. Nachdem wir einordnen, warum wir das tun und wie absurd es erscheinen mag, möchten sie es ausprobieren. Am Ende der Sitzung sind sie sehr dankbar – vielleicht für die Entspannungstechniken bei Tee und Keksen, oder einfach für diesen sicheren Raum, an dem etwas Ruhe und Gemeinschaft einkehren kann.

Schiffbruch

In den letzten Tagen wird es zunehmend stürmischer. Ich erfahre, dass mehr Menschen bei sehr widrigen Bedingungen das Meer überqueren, oft nachts. Denn dann bekommen sie einen Rabatt bei den Schleppern und gleichzeitig ist die Küstenwache weniger präsent. Sie nutzen also die „Gelegenheit“. Und am 10. Januar passiert es wieder: Menschen sterben. „Wieder“, weil es in regelmäßigen Abständen passiert, ohne dass wir etwas davon hören, ohne dass Medien darüber berichten. In den nächsten Tagen tauchen in der Klinik Überlebende auf: Ihre Körper sind mit Brandwunden übersät, in denen sich noch Benzin befindet, das beim Schiffbruch in Brand geraten ist. Ihre Gesichter sind erschrocken bis versteinert, akute Belastungssymptome prägen ihr Erleben und Verhalten. Ihre Wunden sind Zeugen davon, dass Menschen alles riskieren, um ein Leben in Sicherheit und Würde zu finden.

Compassion Fatigue

Nach drei Monaten erfahre ich zum ersten Mal, was man wohl als „Compassion Fatigue“ bezeichnet. Manchmal bin ich müde. Müde davon, jeden Tag aufs Neue Menschen im Camp anzutreffen, die furchtbare Geschichten mitbringen und unter ihrer Vergangenheit, Gegenwart und einer unsicheren Zukunft leiden. Müde davon, sich hilflos zu fühlen. Müde davon, als Psychosozialer Support stets nur an der Oberfläche zu bleiben. Teilweise Möglichkeiten des Umgangs und des Ausgleichs zu erarbeiten („Machen Sie Sport? Mögen Sie zeichnen?“), die in Anbetracht des Leids teils lächerlich klingen – wenn sie auch wichtig sind. Denn tatsächliche Psychotherapie kann und will ich nicht ausüben. Dieser Ort bietet keine Sicherheit, keinen Schutz, keine stabilen Lebensbedingungen, keinerlei Planbarkeit – und ist damit natürlich nicht der richtige Rahmen für eine Therapie.

Die ständige außerordentliche emotionale Belastung stumpft mich fast ab, meine Empathie scheint zu versiegen, und ich spüre das Bedürfnis, mich zurückzuziehen. Ich schäme mich. Aber ich merke auch: Es ist das Resultat daraus, mit so viel Leid konfrontiert zu sein, und dabei in den letzten Wochen nicht genügend Ausgleich eingeplant zu haben. Es ist dringend nötig, hier genug Selbstfürsorge zu üben. Denn in diesem Setting fühlt man sich zwangsläufig hilflos – es ist nur bedingt möglich, zu helfen. Allein schon die zentralen Grundbedürfnisse der Geflüchteten können wir nicht erfüllen. Es fehlt an Versorgungsstrukturen, an einem ruhigen und sicheren Zuhause, an nahrhaftem Essen. Inmitten dieser Herausforderungen gilt es, in der Freizeit gut für sich zu sorgen und sich immer wieder auf das Wesentliche zu besinnen: Wir bieten einen sicheren Raum an, einen Safe Space. Einen Raum, an dem Menschen als Menschen gesehen werden. Einen Raum, in dem sich jemand Zeit nimmt, sich an dich erinnert, dir zuhört. Jemand, der bemüht ist, da ist, Entlastung bietet und versucht, ganz kleine Veränderungen anzustoßen. Auch wenn es manchmal wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheint.

Rettungswesten

Ich wohne mit 15 Menschen in einem Haus etwas außerhalb der Stadt. Es sind meine Kolleg*innen, die gerade ebenso als freiwillige Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Psycholog*innen oder Pädagog*innen und als allgemeiner Support hier arbeiten. Wir versuchen, neben der Arbeit für genügend Ausgleich zu sorgen: So organisieren wir Ausflüge, Sport, Unternehmungen. Die Insel ist so unfassbar schön: Olivenbäume soweit das Auge reicht, malerische Hügel und eine Sonne, die selbst im Winter strahlt. Sehr oft finden wir hier Entspannung und Ruhe und können die notwendige Energie tanken.

Auf einem Ausflug Richtung Norden finden wir uns auf einer Küstenstraße wieder, für die ein Geländewagen wohl die bessere Wahl gewesen wäre. Doch hier sind wir, in unserem kleinen Seat, Steinen ausweichend, und kommen nur langsam voran. Wir befinden uns inmitten von Nichts. Die nächsten Orte liegen schon einige Gespräche, Musiktitel und Abzweigungen hinter uns. Während unserer Fahrt blicken wir oft aufs Meer, das so ruhig und sanft wirkt. Das Meer, in das wir oft voller Freude springen, in dem wir schwimmen und entspannen. Und genau hier riskieren alle, die wir in unseren Schichten sehen, ihr Leben. Hier sterben Menschen. Boote sinken, Menschen ertrinken, hierunter auch Neugeborene. Erst gestern erzählte eine Patientin von einem solchen Unglück.

In der Ferne sehe ich etwas Orangenes am Strand aufblitzen. Wir halten an, parken und laufen den Hügel hinab. Mit jedem Schritt, den wir näherkommen, wir deutlich: Es handelt sich um eine immer größer werdende Ansammlung weit verstreuter Gegenstände: allen voran orangen leuchtenden Rettungswesten, daneben zerrissene T-Shirts und Hosen, einzelne Schuhe, kaputte Rucksäcke. Einige sind von der Sonne, dem Wind und dem Meersalz ausgeblichen, andere scheinen wenige Tage alt zu sein. Die Überfahrten werden noch greifbarer. Mit den Rettungswesten vor uns und dem Blick aufs Meer, denke ich: „Nur wenn man genügend Geld hat, kann man in der Türkei vor der Überfahrt eine dieser Rettungswesten kaufen.“
DemutIn manchen Momenten trifft es mich: Das, was eigentlich allzeit präsent ist. Die Menschen im Camp, wie schaffen sie es eigentlich noch, höflich zu sein, mich anzulächeln und einen Witz zu machen? Ihre Stärke ist beeindruckend. Niemand von ihnen möchte das eigene Land verlassen, weil es woanders einfach nur schöner ist. Menschen verlassen ihr Land, weil sie müssen. Weil ihnen Verfolgung aufgrund von Ethnie, Religion, Nationalität, politischer Meinung oder einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht oder sie bereits verfolgt werden. Oder aber weil Armut, Naturkatastrophen und schleichende Folgen der Klimakatastrophe ihnen die Lebensgrundlage rauben. Immer wieder breitet sich in mir riesiger Respekt und große Demut aus, wenn ich mit ihnen spreche: Sie haben eines Tages die wichtigsten Sachen gepackt und habe begonnen, zu laufen – weg von dem Ort, an dem sie gelebt haben. Familie und Kinder zurücklassend. Mit einem Rucksack und ihrem Baby auf dem Rücken, ohne zu wissen, was sie wirklich erwartet. Angst und traumatische Erfahrungen verbleiben nicht in der Heimat, sondern sind ständige Begleiter auf dem Weg: Gewalt an Grenzen, Gewalt auf dem Weg, Durst, Hunger, Unsicherheit, Krankheit, Verlust. Und da sitzen sie vor mir. Vor mir, einer weißen Person, in unserem Hospitainer, in meiner Beratungssession. Ich frage mich: Wer lernt hier eigentlich von wem? Warum darf dieser Mangel an Respekt, diese Missachtung von Menschenrechten in der EU eigentlich noch bestehen? Und warum sind diese Perspektiven so unendlich unterrepräsentiert in Psychologie, Forschung, Politik?

Laute Knallgeräusche

Während ich ein Beratungsgespräch führe, hören wir plötzlich zwei sehr mächtige, dumpf-laute Knalle. Die Angst meines Patienten wird sofort spürbar, als würde sie die Luft verdichten. Ich normalisiere die Geräusche zunächst, um ihn zu beruhigen. Er entspannt sich etwas und versucht halbherzig einen Witz zu machen. Dass hier sicher keine Bomben explodieren. Nicht wie in seinem Heimatland. Auch nachdem das Gespräch beendet ist, hören wir immer wieder dumpfe Knalle. Niemand weiß genau, was vor sich geht. Alle verhalten sich normal, machen Späße. Aber die Angst schwebt in der Luft, unausgesprochen und bedrückend. Wir sind in der EU, sagen wir uns, was soll hier schon passieren? Und doch: Ich bin nicht allein mit meinen Gedanken und meiner Angst vor Bomben, Krieg und Anschlägen. Der Kontext, das Lager voller Menschen mit furchtbaren Geschichten – er hinterlässt Spuren, macht auch etwas mit uns und unserer Wahrnehmung.

Je vulnerabler, desto besser?

Unterstützung, Beschäftigungsmöglichkeiten und „bessere“ Lebensbedingungen (Isobox statt Rubb-Halls) erhalten diejenigen, die als vulnerabel gelten. Als besonders schutzbedürftig.  Vulnerabilität – das heißt zum Beispiel alleinerziehend zu sein, physische oder sexuelle Gewalt erlebt zu haben oder dem Risiko ausgesetzt zu sein, diese zu erleben, eine Behinderung zu haben, unter schweren körperlichen Erkrankungen zu leiden, ein*e unbegleitete*r Minderjährige*r zu sein. Es ist gut, dass besonders schutzbedürftige Menschen speziellere Unterstützung erhalten: rechtliche Hilfe, „bessere“ Wohnverhältnisse, besonderen Schutz, umfassendere Gesundheitsversorgung, Dokumente, die ihre Vulnerabilität belegen. Gleichwohl ist die spezielle Unterstützung lückenhaft, wird nur bedingt umgesetzt. Diejenigen, die weniger vulnerabel gelten – zumeist allein reisende Männer – erhalten kaum Unterstützung. Für sie gibt es tatsächlich kaum Angebote. Angesichts dieses Systems der ungleichen Unterstützung stellt sich die Frage: Fördern wir damit unbewusst eine Vulnerabilität? Während wir eigentlich ein anderes Ziel verfolgen: Empowerment? Dieser Gedanke drängt sich manchmal auf, auch wenn er vielleicht eine Überzeichnung ist.

Wir haben die Wahl

Meine Zeit auf Lesbos neigt sich dem Ende zu und ich beginne zu überlegen, wie ich meine drei freien Wochen bis zum Arbeitsbeginn verbringen möchte. Die Möglichkeiten erscheinen mir plötzlich endlos: Ein weiterer Freiwilligeneinsatz auf einem Seenotrettungsboot? Ein Kletterurlaub? Eine Reise zurück per Bus und Bahn durch den Balkan? Eine Hüttenwanderung durch die Alpen? Vielleicht könnte ich auch einen Sprachkurs machen? Oder einfach Zeit mit Familie und Freund*innen verbringen? Wow – ich habe die Wahl. Theoretisch kann ich tun, was immer ich will. Kann mich frei bewegen, wohin ich möchte. Kann Neues lernen, wann immer ich will. Kann meine Familie sehen, arbeiten, Urlaub machen. Kann alles abbrechen, wenn ich es nicht mehr möchte. Die Freiheit fühlt sich überwältigend an. Doch gleichzeitig lähmt mich der Kontrast. Die Menschen im Camp haben keine Wahl. Keine Wahl, in ihrem Land zu bleiben. Keine Wahl, einfach so weiterzuziehen. Sie können ihren eigenen Wünschen nicht nachgehen. In dieser Phase können sie nicht tun, was ihnen Freude bereitet.

Ziele

„Ich werde als Arzt arbeiten“, „Ich werde weiter Informatik studieren“, „Wir werden in einem Haus leben und unser Gemüse anbauen“, „Ich möchte eine Band gründen“. Allzu oft beschreiben wir, beschreibe auch ich hier das Leid der Menschen. Und es muss beschrieben werden, denn es ist real. Und dennoch, natürlich, sind diese Menschen Persönlichkeiten, haben Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wünsche und Ziele.

„Ich werde, sobald ich an meinem Ziel ankomme, eine Organisation afghanischer Frauen gründen. Und wir werden über Frauenschicksale in Afghanistan und auf der Flucht berichten. Wir werden laut sein.“ Worte, die eine meiner Patient*innen nach einigen gemeinsamen Sitzungen wählt und mich dabei mit einem Funkeln in den Augen anschaut. Sie erzählt von Jahren des politischen Aktivismus, den sie zuletzt noch im Untergrund versucht habe zu verfolgen. Ihre Politisierung und ihr Kampf für Gerechtigkeit sterben zuletzt, egal, an welchem Ort sie sich aufhalte. Ich bin davon überzeugt: Früher oder später wird sie ihre Pläne umsetzen – es wird den Moment geben, in dem sie wieder wählen kann.

Report, report, report

Inmitten der medizinischen Grundversorgung und psychosozialen Unterstützung, die wir gewähren, geht es als NGO im humanitären Sektor noch um so viel breitere Aufgaben. Wir sind mehr als nur Helfende, wir sind auch Wächter*innen der Missstände. Missstände wie Camp-Missmanagement, Polizeigewalt, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Unser Blick reicht weit über die Krankenstation hinaus. Vor allem auch auf Menschenrechtsverletzungen. Ohne NGOs wie uns, die direkt vor Ort in humanitären Krisen agieren, bliebe die Realität dieser Lager vielleicht viel verborgener. Hierfür sammeln wir also in jeder Schicht anonymisiert Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen und Missstände, von denen wir erfahren. Wir versuchen hiermit, Sprachrohr für Betroffene zu sein, mediale Berichterstattung zu ermöglichen, öffentlich auf die Politikgestaltung Einfluss zu nehmen. Und damit Veränderung voranzutreiben. Während wir uns im Arbeitsalltag bemühen, das Leben eines jeden Einzelnen zu verbessern, dürfen wir nicht vergessen, dass hinter den individuellen Schicksalen eine größere, strukturelle Dimension steht.

„Psychosoziale Unterstützung mit einer NGO – bringt das überhaupt etwas?“

Oft stolpere ich über dieselbe Frage – im Internet, in Gesprächen mit Politiker*innen, Freund*innen, Familie. Und in meinem Kopf. Die Frage danach, ob die psychologische Arbeit in einem solchen Kontext überhaupt sinnvoll ist.

NGO-Einsätze sind von Ambivalenzen geprägt: Einerseits können sie unbeabsichtigt Abhängigkeiten schaffen, wenn man sich in Krisenregionen auf diese externe Hilfe verlässt. Oft arbeiten NGOs zudem mit begrenzten Ressourcen, insbesondere, wenn staatliche Strukturen schwach oder nicht vorhanden sind, was die Qualität und Nachhaltigkeit beeinträchtigen kann. Andererseits können NGOs schnell und sehr flexibel auf Krisen und Veränderungen reagieren, verfügen über immense fachliche Expertise und agieren politisch unabhängig, was ihnen eine neutrale und unvoreingenommene Haltung ermöglicht. Sie setzen dank ihrer Dokumentation Menschenrechtsverletzungen auf die internationale Agenda – all dies kommt Betroffenen sehr zugute.

Die psychologische Arbeit in solch instabilen und unsicheren Umgebungen wirft zusätzlich Fragen auf: Kritiker*innen argumentieren, dass ein Umfeld, das von fortwährender Unsicherheit geprägt ist, nachhaltige psychologische Unterstützung erschwert. Daher möchte ich darauf schauen: Was können wir und konnte ich hier aber dennoch tun?

Es beginnt mit der Wiederherstellung von Menschlichkeit in einem dehumanisierenden Umfeld. Eine ganze Stunde Zeit, ein offenes Ohr, ein Validieren von Schmerz, Kontrollverlust und Unsäglichkeiten. Ein Lächeln, das Vorstellen der eigenen Person, das Ansprechen mit Namen statt mit einer Nummer. Bemühungen, Grundbedürfnisse nach Essen, Schlaf, Privatsphäre zu erfüllen – oder zumindest der Versuch. Das Fragen nach der Identität, die der Mensch vor der Flucht hatte, das Stärken von Zusammenhalt der Community im Camp, das Stärken von Kontakt zur Familie. Die Wahrung von Menschenwürde und Menschenrechten.

Eine einfache Erklärung der vielfachen körperlichen Stresssymptome, wie Haarausfall, Anspannung, Gedankenkreisen, Herzrasen. Gemeinsam entwickelte Ideen, was guttun kann. Welche Werte dem Menschen wichtig sind, wie er diese umsetzen kann. Worin die eigene Aufgabe im Zeitraum des Aufenthalts liegen kann, worin der Sinn liegen kann. Ja – das ist keine Psychotherapie, und das wäre hier auch gar nicht indiziert. Aber ist das nichts? Oder sogar sinnlos? Für viele Menschen bedeuten diese Begegnungen einen Gegenpol zur Atmosphäre im Camp und den Erfahrungen vor und auf der Flucht. Auf ihr „Thank you“ am Ende „You’re welcome“ zu antworten, fühlt sich falsch an. „Thank you“ für das Vertrauen, für das Erzählen der Geschichte erscheint mir angemessener, nach alledem, was die Menschen erlebt haben.

Ankunft in Deutschland

Ich pralle in meinem vorherigen Leben auf. Alles ist vertraut und doch fremd. In den ersten Nächten spreche ich im Schlaf auf Englisch, nenne Namen von Kolleg*innen aus Afghanistan, Sudan, Eritrea, Somalia, Irak. Drehe und wälze mich, liege kaum still. In den nächsten Tagen fühle ich mich wie vom Lastwagen überfahren. Und ich werde krank. So krank, wie lange nicht mehr. Natürlich – mein Körper fährt herunter, nachdem ich vier Monate lang auf Hochtouren gearbeitet und mein eigenes höchstes Energielevel übertrumpft habe. In ruhigen Momenten überschlagen sich meine Gedanken, springen durch verschiedene Themen und Lebensbereiche. In der Essenz geht es – und ich komme mir dabei vor wie ein Klischee – um große Fragen des Lebens. Fragen, wie: „Welches Leben möchte ich geführt haben? Welcher Mensch möchte ich gewesen sein?“