Skip to main content
 
VPP 1/2019  • Behandlungsleitlinien - Aktuelles

Neue S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen[1]

22. Januar 2019
 

/typo3/

Von Tilman Steinert

In einer S3-Leitlinie steckt ungeheuer viel Arbeit von zahlreichen Beteiligten – beginnend von der systematischen Suche nach „Evidenz“ in der gesamten Fachliteratur bis zur manchmal durchaus mühsamen Konsensfindung mit in diesem Fall 22 Verbänden und Fachgesellschaften. Die Laufzeit beträgt fünf Jahre, dann ist schon wieder ein Update fällig. Manche werden sich die Frage stellen – ich selbst gehöre dazu: Lohnt dieser Aufwand?

Die Antwort ist vielschichtig, am Ende aber eindeutig, nicht zuletzt gibt es in unserem Fall Rückenwind durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.07.2018 zur Fixierung. Wohl überlegt hat die DGPPN dies zum Anlass genommen, die Leitlinie genau an diesem Tag zu publizieren. Sie löst damit die 2010 publizierte Vorgängerversion „Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten“, damals noch auf S2-Niveau, ab. Neben der systematischen Evidenzsuche und dem formalisierten Konsensusprozess ist ein wesentlicher Unterschied, dass „Zwang“ nun bereits im Titel auftaucht und man entsprechende Hinweise zwar bereits in der alten Leitlinie fand, dort vielleicht aber nicht gesucht hat. Die Änderung ist kein Zufall.

 

Fachlicher und gesellschaftlicher Wandel

2010 erschien es noch schwer vermittelbar, Zwangsmaßnahmen zum Gegenstand einer medizinischen Leitlinie zu machen. Heute, wenige Jahre später, erscheint eine derartige Leitlinie nahezu unverzichtbar. Tatsächlich, es hat sich viel geändert: die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung, umfangreiche nachfolgende Gesetzesänderungen, ethische Stellungnahmen, die häufige Behandlung des Themenkreises auf Fachtagungen und Kongressen, immer umfangreichere wissenschaftliche Daten, nicht zuletzt deutlich geänderte Akzentsetzungen im Themenbereich Patientenautonomie und trialogisches Aushandeln.

In dieser Entwicklung setzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.07.2018 zur Fixierung einen weiteren wichtigen Meilenstein. Der eingeführte Richtervorbehalt stärkt die Rechtssicherheit nicht nur für Patienten, sondern auch für alle Beschäftigten an psychiatrischen Kliniken und ist deshalb unbedingt zu begrüßen. Darüber hinaus gibt das Bundesverfassungsgericht in zwei weiteren Punkten klare Richtlinien vor: Fixierung ist das „letzte Mittel“ und die am stärksten eingreifende Maßnahme, die erst dann eingesetzt werden darf, wenn keine anderen Möglichkeiten mehr infrage kommen (zum Verhältnis von Fixierung und Zwangsmedikation hat sich das Gericht allerdings nicht geäußert). Das Verfassungsgericht hat aber auch festgestellt, dass Fixierungen eben in manchen Situationen unvermeidbar und damit zulässig sind und dass das Mandat zur Auslegung der UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland ausschließlich beim Bundesverfassungsgericht liegt. Damit weist es auch die unter Verweis auf einen UN-Ausschuss immer wieder vorgebrachten Forderungen, Zwangsmaßnahmen einfach zu verbieten und sie als „Folter“ anzuerkennen, deutlich zurück.

 

Veränderungen gegenüber den alten Leitlinien

Die Leitlinie hat diese verbindlichen rechtlichen Vorgaben bereits vorweggenommen, geht an manchen Stellen sogar darüber hinaus. Die vom Verfassungsgericht für erforderlich gehaltene kontinuierliche Überwachung bei Fixierungen wurde bereits in der Leitlinie von 2010 gefordert und daraufhin auch in einigen Bundesländern in den Psychisch-Kranken-Gesetzen eingeführt. Mit einem starken Expertenkonsens fordert die Leitlinie jetzt freilich ebenfalls eine kontinuierliche Überwachung für Isolierungen, für die das Verfassungsgericht als (vermeintlich) weniger eingreifende Maßnahme noch keinen Richtervorbehalt vorsieht.

Der Notwendigkeit von Transparenz und externer Kontrolle widmet die Leitlinie ein eigenes Kapitel. Auch die Abwägungen, welche Maßnahme am ehesten angemessen und am wenigsten traumatisierend sein kann, wenn es denn nun schon unvermeidlich ist, werden eingehend mit differenzierten Empfehlungen behandelt. Dies betrifft auch die schwierige Frage, ob zwangsweise verabreichte Medikamente eine zusätzliche Traumatisierung darstellen oder auch geeignet sein können, Freiheitsentziehung durch Fixierung erheblich zu verkürzen oder vollständig zu vermeiden.

Die Vermeidung beziehungsweise Prävention ist ein Thema, das in der neuen Leitlinie zu Recht einen großen Umfang einnimmt. Dies reicht von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bis zu konkreten Interventionen auf psychiatrischen Stationen. Eine unbedingt notwendige, für sich alleine genommen allerdings noch keineswegs hinreichende Rahmenbedingung ist eine qualitativ und quantitativ ausreichende Personalausstattung. „Geld schießt Tore“ und auch eine menschenwürdige und gute Psychiatrie ist zum Billigtarif nun einmal nicht zu haben. Dasselbe gilt für eine gute räumliche Ausstattung und eine entsprechend hochwertige Architektur, die die Intimsphäre der Patienten wahrt und einen Zugang zu Gemeinschaftsräumen und Freiflächen ermöglicht. Trotz bisher noch spärlicher wissenschaftlicher Nachweise waren sich die Experten in diesen Fragen so einig, dass für die entsprechenden Empfehlungen der höchste Empfehlungsgrad (A) vergeben wurde.

Vielfach diskutiert wurde auch, ob bestimmte Konzepte der Klinikorganisation oder grundsätzlich offene Türen empfohlen werden sollten. Die intensive Befassung mit der Materie zeigt jedoch, dass die Konzepte so unterschiedlich und die Beweise so spärlich sind, dass gesicherte Empfehlungen nicht ausgesprochen werden können. Die Leitlinie empfiehlt vielmehr insgesamt eine Strategie möglichst minimaler Restriktionen, wobei offene Türen ein wichtiges Element sein können. Empfohlen werden außerdem – weil durch die Studienlage hinreichend abgesichert – Interventionen wie Behandlungsvereinbarungen und Krisenpläne, Deeskalationstrainings für die Beschäftigten, Maßnahmen zur Verbesserung der Umgebungsgestaltung, Nachbesprechungen nach Zwangsmaßnahmen und sogenannte komplexe Interventionen. Dies sind die in den USA entwickelten „Six Core Strategies“ und das in England entwickelte Safewards-Programm, dessen Materialien inzwischen frei zugänglich vollständig in deutscher Sprache verfügbar sind (www.safewards.net).

Einige wichtige Änderungen betreffen die Behandlung aggressiven Verhaltens mit Medikamenten. Neu ist vor allem, was eindeutig nicht empfohlen wird. So soll Haloperidol wegen der erheblichen Nebenwirkungen, abgesehen von Intoxikationen, möglichst nicht mehr alleine verabreicht werden. Bei wiederkehrendem aggressivem Verhalten bei schizophrenen Psychosen werden keine Stimmungsstabilisierer mehr empfohlen. Delirante Zustände (außer Entzugsdelire) sollen, obwohl dies noch häufig so praktiziert wird, nicht mit Benzodiazepinen behandelt werden. Für die Behandlung aggressiven Verhaltens bei Demenzkranken gibt es zahlreiche Einschränkungen, es verbleibt aber die Empfehlung eines Behandlungsversuchs mit den zugelassenen Substanzen Risperidon und Melperon.

 

Nicht viel Neues?

Wenn wir zwanzig Jahre zurückschauen, werden wir wenige Bereiche der Medizin finden, in denen sich derartig tiefgehende Änderungen der Grundhaltungen finden lassen, mit grundsätzlichen Änderungen der Zuschreibung von Rechten und Verantwortlichkeiten an Professionelle, Patienten und die Gesellschaft. Das Thema ist bekanntlich umstritten und Gegenstand intensiver, auch ideologisch geführter Diskussionen wie kaum ein anderes im Bereich psychischer Störungen. Der in der Leitlinie materialisierte Konsens, erstellt mit einer Expertengruppe von Psychiatern, Juristen, Pflegeexperten, Betroffenen und Angehörigen sowie nachfolgend 22 Verbänden und Fachgesellschaften, ist daher ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Meilenstein. Die Leitlinie bietet Handlungsempfehlungen zu nahezu allen wichtigen Aspekten des Umgangs mit Zwang und Gewalt, wobei es sich eben nicht um Einzelmeinungen, sondern um eine breite Übereinkunft handelt. Dennoch muss sie sich nach zwei Seiten abgrenzen und verteidigen: gegen patriarchalische und von einem starken Machtgefälle geprägte, auch in der Öffentlichkeit und in Behörden häufig noch zu findende traditionelle Haltungen einerseits und gegen polemische Kritik von Aktivisten andererseits, die sich der bekannten populistischen Strategien Pflege von Feindbildern, Verrohung des Vokabulars („Folter“) und Infragestellung der Rechtsstaatlichkeit bedient. Es bleibt zu hoffen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch diesbezüglich einen argumentativen Schlusspunkt setzen kann.

Prof. Dr. med. Tilman Steinert ist Ärztlicher Direktor der Klinik Weissenau, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm, an den Zentren für Psychiatrie Südwürttemberg. Er hat die Steuerungsgruppe zur Entwicklung der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang geleitet. E-Mail: tilman.steinert@zfp-zentrum.de.

êKastenê

Medizinische Leitlinien

sind wissenschaftlich fundierte, praxisorientierte Handlungsempfehlungen. Leitlinien sind – anders als Richtlinien – nicht bindend, sondern fassen den Stand der Wissenschaft zusammen und geben den Gesundheitsberufen wie den Behandelten, ihren Angehörigen und anderen an der medizinischen Versorgung Beteiligten Orientierung.

In Deutschland werden medizinische Leitlinien in erster Linie von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) veröffentlicht. Für die Psychiatrie ist die federführende Fachgesellschaft die DGPPN, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Sie beteiligt in der Regel andere psychiatrische Fachverbände und Expertengruppen in einem Konsensusverfahren. Der Konsens, die von allen Beteiligten getragene Empfehlung einer bestimmten Vorgehensweise, wird durch ein transparentes Verfahren erreicht. Er basiert auf der systematischen Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur und der Analyse der klinischen Praxis.

Nach der AWMF werden Leitlinien in drei von dem Verfahren abhängigen Qualitätsstufen klassifiziert, wobei S3 die höchste Qualitätsstufe darstellt.

S1: Die Leitlinie wurde von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet.

S2: Eine formale Konsensfindung und systematische Evidenzrecherche hat stattgefunden.

S3: Die Leitlinie hat alle Elemente einer systematischen Entwicklung durchlaufen: Logik-, Entscheidungs- und Outcome-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung alle fünf Jahre.

 


[1] Quelle: PSYCHOSOZIALE umschau, Ausgabe 04/2018, 33. Jg.; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors.